Eugen Helmlé | Knall und Fall in Lyon
[Lipogrammatischer Roman, 1995]

Lipogramm | Aus dem Nachwort

Lipogramm

So IST DAS OFT: da läuft was ab, das nur dank dir läuft, doch dann trixt man dich aus, hängt dich ab, macht sich dünn, und du bist völlig ahnungslos und schaust alt aus.

Du ritzt zwar das Ding dazu brauchts nämlich Mumm, und darum braucht man dich, doch für dich lohnt sichs nicht, für dich gibts nur symbolisch 'n Tritt wohin.

Zum Glück klärt mich A. auf. Find ich schick von ihm. Zumal's schon lang hin ist, daß wir uns nicht grün sind

A. kam zu mir und fragt mich:

"Bist du schon im Bild?"

Ich guck nur dumm

Zwar stand am Sonntag was im Blatt, doch nicht von mir. Möcht ich auch gar nicht, da...

Doch A. klärt mich auf.

"Hannibal schwand dahin, doch nicht im Sinn von Anton Voyl."

Zunächst schnall ich nicht, bis A. auf 'n Punkt kommt.

"Schau schau", mach ich bloß, dann bin ich plötzlich auf achtzig. So 'n Miststück.

Und doch glaub ichs nicht so richtig. Ist wohl 'n Irrtum. So was kommt vor. Das gibts gar nicht, daß Hannibal so falsch ist und mir das antut.

Doch A. ist apodiktisch.

"Man sah ihn mit Sack und Pack vorm Bahnhof und kurz darauf hört 'n Kumpan von mir, daß Hannibal laut und klar zum Bahnamtmann sagt: 'Lyon hin und zurück'.

Doch ob Hannibal zurückkommt..."

Für mich ist das natürlich 'n Schock, dacht' wirklich nicht, daß Hannibal so schuftig ist, mich linkt und sich mit Sack und Pack, mit Gold und Diamant aus 'm Staub macht Und nichts davon zu mir. Sagt nicht mal tschüss.
Mich traf fast 'n Schlag, und ich sagt das A auch.

"Ach komm, nimms nicht so tragisch."

A.'s Trost rührt mich und tut mir gut.

Warum nur war ich bis dahin ständig mißtrauisch, sobalds um A. ging? Man täuscht sich halt in nichts so arg a!s in Mann und Frau. Pardon. 'n Spruch, wo ich von jung an drauf hab.

"Was willst du tun? fragt nun A.

Ich bin ratlos.

"Was soll ich tun? Rat mir was."

"Ihm nach, ist doch klar!"

Doch ich hab Grips im Kopf und schalt' sofort:

"Nicht ihm nach, ihm vor. Ja, das ists, ich bin noch vor ihm in Lyon."

Und so kams dann auch. [...]
 

Aus dem Nachwort

Was . . . treibt einen Menschen dazu, nachdem er sich mit Mühe und Not vom Analphabeten zu Alphabeten emporgearbeitet hat, sich mit Fleiß und einer gewissen Besessenheit eines Teils dieses Alphabets wieder zu entledigen, es aus seinem Wortschatz zu verbannen, nicht, um in die Unmündigkeit zurückzufallen, sondern um gerade durch diesen Verzicht seine Unabhängigkeit zu dokumentieren? Liegt es daran, daß er seine Mühen beim Buchstabieren verdrängt oder verklärt hat, wie Kiermeier-Debre und Vogel in ihrem Poetischen Abacadabra meinen oder will er sich seine Mündigkeit ganz einfach dadurch beweisen, daß er freiwillig auf einen Teil des mühsam Erlernten verzichtet? Was aber, wenn ihm dieses Erlernen nicht die geringste Mühe gemacht hatte, weil er sich das ABC im Spiel, wie er zu erinnern glaubt, angeeignet hat? Möglicherweise hat gerade die Faszination, die das ABC von früh an auf ihn ausübte, zum einen das Erlernen erleichtert, zum andern aber auch den nonchalanten, spielerischen Umgang damit provoziert.

Beten allerdings, in der Art, wie es der Barockdichter und Soldatenrat Moscherosch seine Soldaten hieß, läßt sich mit einem lipogrammatisch aufbereiteten Alphabet nicht mehr. Bei Moscherosch mußten die Uniformierten am Morgen nach dem Aufstehen das ganze Alphabet aufsagen, damit sich Gott die Buchstaben selber zusammenlesen und Gebete daraus machen könnte. Gott würde Augen machen, wenn er beim Zusammenlesen dahinter käme, daß mit diesen Gebeten etwas nicht stimmt, daß möglicherweise der ABC-Teufel in ihnen steckt, sein von ihm abgefallener Konkurrent. Die Ordnung der Welt, die sich angeblich im Alphabet widerspiegelt, wird durch den fehlenden Buchstaben als etwas Anfälliges entlarvt, die Harmonie ist gestört, da die geordnete Reihung einen Riß bekommen hat. Jedenfalls ist der "Genuß des reinen Alphabets", von dem Fibel noch schwärmte, mit der Eliminierung eines oder gar mehrerer Buchstaben, seien es Vokale oder Konsonanten, kein reiner Genuß mehr. Sobald auch nur einer von ihnen aus der Reihe tanzt1 sich nicht mehr an die militärische Ordnung von Reih und Glied hält, sich, um im Bilde zu bleiben, erlaubt oder unerlaubt von der Truppe entfernt, gehorcht die Organisation von Sprachwelt anderen Gesetzen, solange jedenfalls, bis der "verlorene Buchstabe, das gelöschte Zeichen" wiedergefunden sind. [...]
 
 





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