Hermann Lenz

Bei Wendelin Niedlich in der Schmalen Straße
 

Bei Wendelin Niedlich in der Schmalen Straße, schräg gegenüber der Polizeiwache. Er begrüßt mich: "Tach, edler Meister", und ich antworte: "Grüß Gott, sonniger Buchhändler". Ich hoffe, daß es ihn ärgert, wenn ich "Grüß Gott" sage, denn wir provozieren halt einander gern.

"Können Sie mir eine Liste liefern, auf der die Bücher stehen, die Sie machen?" frage ich, und er antwortet: "Bücher, die ich mache? Bei mir werden keine gemacht. Gemacht werden Bücher auf der Königstraße."

"Ich meine, eine Liste mit Buchtiteln, die Sie gut verkaufen."

"Darf man dabei auch ein bißchen mogeln?" sagt er und er frägt mich, bis wann ich die Liste brauche. Darauf ich: "Also spätestens am nächsten Dienstag. Geht das?" - "Ja."

So weit Niedlich. Ich verlasse seine Klause und komme dienstags wieder. Von der Liste hat er noch kein Wort geschrieben, aber er macht sie jetzt mit Reinhard Döhl zusammen. Letzterer ist Autor und hat eine Sammlung zeitgenössischer Gedichte mit dem Titel "Zwischenräume" herausgegeben; die steht demnach als Verkaufsschlager obenan. Dann folgt Max Bense mit "Theorie der Texte" und wird als "Literaturreiniger" - ich denke: wie ein Putzmittel? - geschätzt. Und Beckett "Wie es ist" folgt auf dem Fuße Benses; und Queneaus "Taschencosmogonie", die der vitale Harig übersetzt hat, gilt als "Universum in der Tasche". Arno Schmidt, robust und fünfzig Jahre alt, ein "verhinderter Volksschriftsteller", glänzt als Stern mit "Sitara" an dritter Stelle neben Karl May, mit dem Buchhändler Niedlich in der letzten Zeit ein erkleckliches Geschäft gemacht hat; aber damit steht er wahrscheinlich nicht alleine da. Exzeptionell jedoch dürfte der Erfolg des Helmut Heißenbüttel im Niedlich-Laden sein, denn dessen Werke werden dort als "Textbücher eins bis vier" für das tonscharfe und vielfältige Konzert der zeitgenössischen Literatur gerne gekauft; nach ihnen läßt's sich dichten; nach diesen heißen, kalten oder warmen Texten läßt sich gut improvisieren, wie beim Jazz, denn dieser ist so konsequent wie jener Autor, welcher nicht so professorenernst ist wie man meint. Und Niedlich beweist eine Portion strammen Selbstbewußtseins, indem er bekennt: "Ich habe Interesse an Dingen, von denen ich annehme, daß sie neu sind. Ich befinde mich im oberen Viertel der Leute, die es wissen müssen. In diesem Zusammenhang habe ich den Eindruck, daß zum Beispiel Grass nicht dazugehört"; und ich denke: was er wohl sagte, wenn Professor Bense den Grass loben würde?

Durchlaufend und von Hand zu Hand beliebt ist "Rot", die Schriftenreihe, die Max Bense so gewissenhaft betreut wie das Wort tiefsinnig ist, das auf jedem dieser Hefte steht und das Ernst Bloch geschrieben hat: "Es gibt auch rote Geheimnisse in der Welt, ja nur rote." Es ist der Linksdrall, der sich des Geheimnisses bemächtigt hat, und die Spannweite der "Rot"-Texte reicht von Kulka, einem Dichter des Expressionismus, bis zu Niederschriften sprachschöpfender Maschinen.

Wir stehen hier ganz außen an der Kante, wo scharf provokante Luft weht und Obszönität die Eingeweide reizt. In grazilen, jungen Damen-Händen gleiten Seiten eines Heftes mit englischen Limmericks von Fingerspitze zu Fingerspitze. Zigaretten brennen und Kaffee dampft. Ein junger Herr sieht in seinem fellgefütterten Mantel wie ein Lapplandforscher aus und schnuppert im Buch "Puppen", das Photographien von Bäuchen und Beinen aus Kunststoff enthält; es kostet 49 Mark. - "Das ist etwas... das darf man nur allein anschauen", sagt eine mit Cäsarenhaarschnitt, was immer so ein bißchen nach Verfallszeit ausschaut (ach, wie verrucht!). Und dabei sind die Leute hier bei Niedlich meistens freundlich. Man kostet zart geschälte Geistesfrüchte und fühlt sich angeregt, denn.hier geht es noch lange weiter. Und das ist eine tröstliche Tendenz.
 
 

[aus: Hermann Lenz: Stuttgart. Stuttgart: Belser 1983]





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