Wilhelmine Müller, geborene Maisch aus Neipperg | Reimbrief an Hölderlin
 
Freund! Dass die Träume
Nur Dunst und Wind
Und leere Schäume
Und Lügner sind:
Die alte Wahrheit
Erfuhr auch ich
Mit neuer Klarheit
denn höre mich!
Im süssen Schlummer
Der letzten Nacht,
Von keinem Kummer
Noch Gram bewacht,
Lag ich - da malen
Die Träume mir
In Luftgestalten
Die Scene für:
Es war Visite
Im nahen Städtchen
Beim Pastor K....;
In grosser Suite
von Herren und Mädchen
Zog ich dahin.
Ich sass im Kreis
An meinem Rädchen
Und spann mit Fleiss;
Der Schwall von Scherzen
Und Scheckereien
Des bunten Reih'n
War meinem Herzen
Zu bunt und klein
Denn, ach! mir schwebte
Die schöne Zeit
Voll Seligkeit
Die ich bei Dir
So froh verlebte,
Auch träumend für.

Jetzt ward zur Weide
Für Gaum und Magen
Manch leicht Gebäude
Hervorgetragen.
Symmetrisch stunden
In langen Reihen
Die Leckereien,
Vom klugen Sinn
der Löfflerin
Für uns erfunden;
Auch stieg der Duft
Vom Saft der Bohne
Aus Javas Zone
Hoch in die Luft.

Schon bot die Tasse
Voll von dem Nasse,
Das ich nicht gäbe
um allen Wein
Der edlen Rebe,
Gepflanzt am Rhein
Die Frau Pastorin
Mir freundlich hin;
Da kam ein Knabe
In vollem Trabe
Zu mir und rief:
"Mamsell ich habe
Hier einen Brief!"
Ich, wie beflügelt,
Lief auf ihn zu,
Jetzt ward entsiegelt
Der Brief im Nu:
Ha, welche Hand
Ist wohl imstand
In hohen Bildern
Die Lust zu schildern,
Die ich empfand
Als sich am Rand
Vom offenen Blatte,
Das ich nun hatte
Dein Name fand.

Des Kinds Entzücken
Am Weihnachtsfest,
Wenn seinen Blicken
Auf einem Tisch,
Den Lichter schmücken,
Ein bunt Gemisch
Sich sehen lässt, -

Des Jünglings Lust
Der unerhört
In seiner Brust
Die Liebe nährt,
Wenn ihm die Dame,
Die ihn entzückt,
In goldner Rahme
Ihr Bildnis schickt, -
Der Mädchens Wonne,
Das hoch entzückt
Im Glanz der Sonne
Den Tag erblickt
An dem die Treue
So heiss geliebt,
Den Kuss der Weihe
Ihm feurig gibt, -
Des Armen Freude,
Wenn ihn ein Brief
Aus ferner Weite
Zur Erbschaft rief, -
Des Gecken Lust,
Sein Jubelton,
Wenn er für Geld
Das Wörtchen von
Und an die Brust
Ein Band erhält, -
Nein! der Magister
Der zwanzig Jahr
Verlobter war,
Freut sich so nicht
Wenn nur der Küster
Zum müden Harrer
Gebückt "Herr Pfarrer!"
Und seine Braut
Mit süssem Laut
"Lieb Männchen" spricht, - -
Kurz was an Bildern
Ein Glück zu schildern
Die Sprache hat,
Ist viel zu matt
Um mein Entzücken
Die hohe Lust
in meiner Brust
Ganz auszudrücken.

In stolzem Hohn
Ward Trank und Essen
Jetzt ganz vergessen;
Begeistert rief
In hellem Ton
Ich: "Welche ein Brief!"
Dass drob erwachte
Und herzlich lachte,
Die bei mir schlief.
Ihr Lachen riss
Mich aus dem Traum,
und schon bewies
Der Strahl der Sonne,
All meine Wonne
Sei leerer Schaum.
Jetzt wirst Du nicht
Mein Traumgesicht
Mir bald erfüllen
Und die Begier
Nach Briefen stillen,
So schwör ich Dir:
Du wirst mit Träumen,
In faden Reimen
Daher erzählt,
So lang gequält,
Bis Du mir willig
Ein Briefchen schickst
Und mich (wie billig)
Mit froher Kunde
Und noch zum Schluss
Mit einem Gruss
Der H....es Munde
Für mich entquoll
Recht bald beglückst.

[Aus: Gedichte. 1800]