Jürgen Stelling
Die Schwäbische Dichtertraße
Skizzen zu einem Fahrtenbuch
 
Die Freundlichkeit des Mannes, der uns in Denkendorf ins Bengel-Zimmer einläßt, die Verbindlichkeit des Tankwarts beim Auftanken unseres roten, blechernen Pegasus, die Reserviertheit der Bedienung, die nur zögernd unsere Bestellung aufnimmt, dabei sich immerzu nach den anderen Gästen umdrehend, die Verschmitztheit der Kioskbesitzerin, die auf einen halb geheimen Zugang zum Epitaph des Götz von Berlichingen hinweist, die routinierte Sorglosigkeit des Fährschiffkapitäns, der uns sicher nach Meersburg übersetzt, die Beflissenheit der städtischen Angestellten, die sofort zwei Exemplare des Prospekts "Die Schwäbische Dichterstraße" aushändigt, die Unwissenheit mehrerer Einheimischer, die sich nicht erinnern, je etwas von Wielands Gartenhaus gehört zu haben, die Aufdringlichkeit der Wespen auf der Terasse des Hofkonditors Bauer in Langenburg, die Besorgtheit der Wirtsleute, das Mißtrauen der Museumswärter, die Rücksichtslosigkeit der Autofahrer, der Unmut so manches Zeitgenossen. 
 
Wir bemerken Hermann Hesse, wie er in Gaienhofen über die Straße geht im nachlassenden Regen, um im Laden gegenüber eine Tüte Milch zu holen, er scheint etwas bedrückt und schaut doch zum Himmel, der bald noch mehr Regen bringen wird. Wir grüßen, und versuchen ihn ins Gespräch zu ziehen, wollen ihn ausfragen über sein neues Leben als Schriftsteller, über den Peter Camenzind, aber er gibt keine Antwort heute und morgen schon gar nicht, also weiter. 
 
Die Droste hingegen ist schon schwieriger zu finden. Ihre Wohnung in der Burg scheint verlassen, ein Museum schon, die Dielen krachen unter den Füßen der Besucher, hübsch ist der Blick durchs Fenster auf den See. Auch im Fürstenhäuschen ist sie nicht, es gibt nur einer Beschließerfamilie, die ängstlich darüber wacht, daß jeder Wallfahrer sich nur in Filzpantoffeln nähert. Mein Pech, so Werners auch, daß ich mich Dichtern und Dichtung nicht in Filzpantoffeln nähern will. Also rasch hinaus und durch die Weinberge zurück in die Stadt, wo ein Menschengeschiebe ängstlich den Häusern und dem Regen auszuweichen versucht, um in höchster Verzweiflung in die Cafés einzufallen und bei schlechter Musik den miserablen Kaffee zu trinken. Wo aber ist die Droste? Sie wird in einem schlecht zugänglichen, ungewöhnlich stillen Kaffeehaus sitzen, die wird mit einer zierlichen Bewegung das Teetäßchen anheben und ab und zu ein Wort ins Notizbuch schreiben. Stören wir sie nicht. 
 
Und wieder ein Blick hinaus: Durchs Fenster von
Schillers Geburtshaus in Marbach auf den Platz mit dem Wilden-Mann-Brunnen und hinüber zur schönen Reihe der Fachwerkhäuser, während eine Gruppe älterer Damen diskutiert, ob der Autobus wohl nicht wegfährt oder gar schon weggefahren ist. Immer noch besser, denke ich, als die falschen Einzelheiten über Schillers Familie, seinen Vater, der dies und das war, seine Mutter, die von da und dort kam, seine Geschwister, die er hatte oder nicht, ach guck mal, seine Weste, reine Seide natürlich, und eine Locke ist auch von ihm da, der war ja blond. Und ein Dichter war er auch noch, aus Stuttgart mußte er fliehen, dieses Stück, das er geschrieben hatte, die Räuber, deshalb war der Landesherr zornig und wollte Schiller verhaften lassen, da floh er (ließ sich nicht fangen wie Schubart) und kam erst als Denkmal zurück, in verschiedenen Ausführungen, Gips und Metall, bei Schillerfeiern enthüllt. Ein Dichter, heute kaum noch gelesen, und selten aufgeführt, gegenwärtig nur noch auf Schillerplätzen, als Schillerwein, Schillerlocke und Schillerkragen. 
 
Wibele und Agnesen finden sich im Angebot des Hofkonditors Bauer. Literatur als Backkunst also, Metaphern, die auf der Zunge vergehen, Verse für den Magen, vielleicht etwas Schonkost vom Lokalpoeten gefällig?
Agnes Günther tritt dann aus dem Haus, um ihren täglichen Spaziergang durch den Schloßpark zu machen, außer am Wochenende, dann sind ihr zu viele Besucher hier. Ob sie wohl selbst die Heilige ist und ich vielleicht ihr Narr sein könnte? Als Nougatkonfekt liegt sie mir jedenfalls nicht, obwohl mir dunkel und fällig sonst schon recht ist. 
 
Ich bin Drängler und Kilometerfresser, immer auf dem Sprung. Ja, wir sollten uns mehr Zeit nehmen, um hinter die Dinge zu sehen, aber die Atmosphäre kommt eben nicht mehr zurück, von hundert Häusern aus
Mörikes Zeit stehen noch zwei, von hundert Bäumen steht noch einer, die Welt in der er lebte, kommt uns nur noch trocken knisternd aus Büchern entgegen, hilflos blättern wir in den Führern. Aber, seltsam, ein Gedicht von Hölderlin, laut und langsam gelesen, wischt plötzlich allen Beton weg, die Straßen sind wieder geschottert und von Linden gesäumt, die Geräusche um uns haben nichts Beängstigendes mehr und aus den Gesichtern der Menschen verschwindet die Gleichgültigkeit. Da sind sie also wieder, die Wörter, die Bilder, nehmen poetische Kontur an und alle Kümmernisse fallen ab von uns, das ist der Zauber. Deshalb sind wir unterwegs. 
 
Und Wieland sitzt in seinem Gartenhaus, lacht sich ins Fäustchen, spitzt den Federkiel und denkt bei sich, daß wir selbst schuld sind am Herumirren, wie kommen wir auch dazu, nach Biberach zu fahren, um ihm hinterherzurennen. Und daß wir die Leute nach ihm ausfragen, ärgert ihn sowieso, er hat schon genug Ärger mit den Bibern, diesen Reichsstädtern, die von allem die Hälfte wollen, halb evangelisch und halb katholisch, halb Stadt und halb Land, halb Gerste und halb Weizen. Nur von der Literatur wollen sie nichts wissen, da ist es ihnen nicht um die Hälfte, Kammerschreibereirechnungen wollen sie von ihm geschrieben haben, die Krämer. Es geht einfach nicht, wir kommen ihm nicht näher, nur seine Bücher sind da, gewichtig und unlesbar. 
 
Der Asperg und Breuningerland, gefangener Geist und entfesselter Konsum, zwei Monumente, die zusammenpassen. Wir nähern uns den Betonburgen Stuttgarts, Hochspannungsleitungen zerschneiden die Landschaft, Autoschlangen kriechen über die Straßen, der Smog liegt über der Stadt, das Atmen fällt schwer, Lärm schlägt uns entgegen und hindert am Sprechen. Vom Asperg nach Stuttgart, der B-27-Horror-Trip, der in der Parkgarage endet, die wir verlassen, das Taschentuch vor dem Mund. 
Von hier sollten wir nach Obersontheim fahren, über Schwäbisch Hall und Gaildorf, ins Land der Schenken von Limpurg, um
Schubart einen Besuch zu machen, aber Schubart wird nicht da sein, er spielt in Ludwigsburg die Orgel, oder er liegt in Geislingen mit einem Mädchen im Heu, oder er schreibt in Ulm an seiner Chronik, oder er wird in Blaubeuren überlistet und gefangen, von einem einem württembergischen Amtmann, der sich dabei übergeben muß, ein Tag im Januar 1777, bei Schneegestöber, oder er sitzt in seinem Kerker auf dem Asperg und das Wasser läuft die Wände herab und die Zähne fallen ihm aus. Also fahren wir nicht zu Schubart, aber vergessen haben wir ihn nicht. 
 
Aus der Enge: aus Obersontheim, Aalen und Geislingen, aus diesem pietistisch-absolutistischen Korsett, das dem Menschen die Luft abschnürt, hinaus in die Dichtung oder hinüber in die Weinschenke, vieles läßt sich nur in Betäubung ertragen oder im Wegträumen mit Wörtern. 
 
Schubart nachspüren, von hier aus, wie könnte er sich wohl behaupten, heute, als Redakteur, Kirchemmusiker, Hausautor eines Verlages? Würde er nicht auch wieder vom Berg herabschauen und versuchen, mit einem Huldigungsgedicht auf Reagan, auf Tschernenko seine Freíheit zurückzureimen? 
 
Was aber sagt uns die Natur? Sie schweigt. Die Landschaft geht zugrunde. Schmutziger Regen fällt auf die Wiesen, Abgaswolken stehen über den Hügeln, das Wasser der Flüsse ist vergiftet, Baden verboten. Rufen wir uns noch einmal einen der Dichter zurück, der uns ein Naturgedicht machen könnte. Er wird keine Worte dafür finden.
 
Aus:Jürgen Stelling: Halte dich an die Regeln. Zürich: Orte-Verlag 1984





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