Theodor Storrn
Besuch bei Eduard Mörike
 
Auf dem Bahnhofe in Stuttgart empfing mich nicht Mörike, er gab gerade seine einzige Unterrichtsstunde (Literaturstunde) am Katharineum, sondern sein Freund Wilhelm Hartlaub, der Pfarrer in der Nähe ist, und Mörike oft besucht, ausgerüstet mit einem lateinischen Beglaubigungsschreiben Mörikes. Auf dem Wege zu Mörike erzählte er mir, daß dort, was ich noch nicht wußte, vor vier Monaten ein Töchterchen, Fanny, angelangt und daß "der Eduard" sehr glücklich sei. "Sie kommen zur glücklichsten Stunde", sagte er, "der Eduard hat was vollendet, was von überwältigender Schönheit ist.
Als wir anlangten, war Mörike noch nicht da. Hartlaub ging, die Frau Doktorin zu holen. Ich besah mir das Quartier. Sie wohnen drei Treppen hoch, sind einfach, aber behaglich eingerichtet. Die Möbel, wie überall im Süden, von Nußbaum, was mir sehr gefiel. An den Wänden einige gute Bilder und Raritäten. Aus dem Fenster sieht man zwischen den gegenüberliegenden Häusern hindurch auf Weinberge, die die Stadt umgeben.
Bald kam Frau Gretchen, eine schlanke Gestalt von 35 Jahren, mit edlen Gesichtszügen und besonders schönen, sanften und dabei doch schelmischen Augen, aber mit einem sehr wetterbraunen Teint. Frau Gretchen hieß mich im allerschwäbischsten Akzent willkommen und setzte mir zum Frühstück gesottene Kringel, ungesalzene Butter und Käse vor, nebst selbstgezogenem Wein, der natürlich wie Wasser aus Biergläsern getrunken wurde. Dann kam Eduard Mörike. Er sieht beweglicher, nicht so bürgerlich vornehm aus, wie auf dem Dir bekannten Bilde, obgleich er bei Gelegenheit sehr vornehm soll sein können. Denn ein hiesiger Bekannter, der ihn besuchte und wohl nicht recht mit ihm zu Gange gekommen ist, meinte auf diese Äußerung: "Den Teufel auch!" Seine feinen Züge sind etwas verfallen, er ist kränklich, Hypochonder, so daß ihm nur ein paar Stunden Arbeitsfähigkeit des Tages bleiben. Er ist jetzt 50 Jahre alt.
Er nahm mich bei den Händen, guckte mir in die Augen und sagte zu seiner Frau gewandt: "Gelt, Alte, so haben wir uns ihn ungefähr vorgestellt". Meine und Constanzes Bild hingen seit einem Jahre über seinem Sopha. Er ist in seinem Wesen ganz wie in seinen Schriften. Mir ist nie ein Mensch vorgekommen, der sich mit solcher Gegenständlichkeit ausdrückt.
Nachdem wir gegessen und Kaffee (dazu schwäbisches Gebäck) getrunken hatten, gingen wir, Mörike, Hartlaub und ich, ein paar Stunden meist in der Stadt spazieren Die Stadt machte mir durch ihre altertümliche Einfachheit einen behaglichen Eindruck, zumal auch die Kleidung der Leute mir hier viel anspruchsloser als im Norden erscheint. Dazu die freundlichen Weinberge, die man überall sieht, und dann war ich in so guter Gesellschaft. Nach Hause zurückgekehrt, zogen wir uns in das hintere Zimmer zurück. Mörike machte, obwohl es noch hell war, die Jalousien dicht, ließ eine Lampe bringen und fragte seine Frau, "ob sie was Warmes zu schlürfe hab". Dann Tee mit schwäbischem Gebäck. Mörike schleppte mir aus seiner kleinen Arbeitsstube seinen großen Korduanlehnstuhl herbei. Ich begann zu trinken und er las, und zwar gut und ohne Dialekt "Mozart auf der Reise nach Prag". Es ist ein kleines Meisterstück, worin alles frei erfunden ist. Bei einer Lesepause wandte sich Hartlaub ganz erregt nach mir um: "I bitt Sie", sagte er, "ist das nu zum Aushalte?" Es war in der Tat schön. Mörike ist ein eifriger Musikkenner, kommt aber mit seiner Liebe nicht über Haydn und Mozart hinaus, die er und Hartlaub "die Seligen" nennen, wie Schiller und Goethe. Tags darauf - ich logierte bei Mörike und schlief wie ein Prinz unter der schönsten, purpurseidenen Steppdecke - kamen meine Eltern und wir machten nun noch mit Mörike und seiner Schwester einen Spaziergang. Da hättest Du Mörike und meinen Alten Arm in Arm die Stadt beschauen sehen sollen, beide den Hut im Nacken und in der besten Laune.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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Eigentlich wollte ich Maler werden
Friedrich Theodor Vischer
 
Mein Wunsch war eigentlich Maler~ ~nerden DieMutteneinewei-
che, grundgute, empfängliche begabte Frau, voll lebendigen
Interes-
ses für Kunst und Poesie, stand in freundschaftlicher
Verbindung mit
Künstierfamihen, ich durfte mit ihr die Werkstätten Eberhard
Wäch-
ters und Hetschs besuchen Alles Bild entzückte mich Ein
Italiener
hängte seine ,,Holgen~ <SO hießen die Bilderbogen, der Name
weist auf
früheren holländischen Handel mit Heiligenbildern in
Deutschland,
die Schweizer sagen: Helgen) im überbauten Gange des noch
stehen-
den Restes der alten Stadtmauer auf f~unter der Mauer0), das
war die
einzige Kunsthandlung des damaligen Stuttgart. hier stand ich
täglicli
in staunende Betrachtung verloren. Auch Dannecker wurde be~dit,
ich sah sein schwächstes Werk, seinen Christus, entstehen; aber
da
stand die Schillerbüste, das Modell der Ariadne, und am nahen
See des
Parkes sein schönes Nymplienpaar.
Eberhard Wichter war es, der meiner Mutter am entschiedensten
ab-
n~et;mich nach meinem Wunsche Maler werden zu lassen; er wußte
es
freilicli aus bitter schwerer Erfahrung, was das Wort besagt:
Kunst
gcht rah Brot Allerdings konnte man nicht wissen, ob die Neigung
des Knaben auch wirklicher Beruf sei; denn die Kritzeleien, die
ich im
Privatunterricht nach der alten Methode des Nachzeichnens von
Vor-
lcgeblättern fertigbrachte, lieferten keine Probe, und ohne
Beweis
vor~szusetzen, daß etwas vom Geiste Peter Vischere in mir
stecke,
wäre doch eine all~kihne Hypothese gewes~ - auch angenommen,
die Tradition, daß wir von ihm abstamnien, die allerdings rnit
einem
kleinen silbernen Kruzifix als seinem Werk in der familie
überliefert
ist, wäre urkundlich bewiesen, wie sie es nicht ist, da in
Nürnberg die
Zunftbücher verschwunden sind. Da war aber noch ein anderes Hin-
dernis; hätte das Talent auch unzweifelhaft sich angekündigt.
wie die
Mittel für eine Künstlerlaufbahn erschwingen? Die Mutter war
sehr
arm; ich bin unterdem Drucke der Not aufgewachsen,und so ist
esim
Grunde einfach die Armut, die mich in die theologische t~fbahn
führte: es waren die Klöster mit ihren Stipendien, welche die
rettende
Hand boten. wie mein Bruder wurde auch ich für das Seminar be-
stimmt. ]ch schied nicht eben leicht von meinem Wunsche, doch
auch
nicht so schwer, daß ich von widerwilligem Gehorchen reden
dürfte
 
 
 
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