Rainer Wochele
Zwickmühlen und Doppelexistenzen. Ein Lesezeichen

Merkwürdige Leute, diese Schriftsteller! Merkwürdig, nicht wahr, und auch irgendwie erheiternd, weil sie, trotz aller Merkwürdigkeiten. die ihnen anhaften, immer noch das hervorbringen, was sie sollen: Literatur.

So sehen sie sich zum Beispiel immer wieder dazu veranlaßt, wahre Doppelexistenzen zu führen. Damit nicht genug. Es kann ihnen zudem passieren, daß sie in eine Zwickmühle geraten: in die Öffentlichkeits-Rückzugs-Zwickmühle etwa. Beispiele? Bitte sehr! Alfred Döblin war so ein Gedoppelter, war Schriftsteller und Nervenarzt, Tschechow, der Russe, war Arzt, der Wiener Schnitzler ebenso, und auch die beiden Stuttgarter Rabsch und Lippelt sind beides, Ärzte und Autoren. Das Medizinische und das Literarische gehen, so scheint's, immer wieder Zweckbündnisse ein.

"In erster Linie verstehe ich mich als Arzt", sagt Udo Rabsch, "in diesem Beruf gehe ich auf." Wir glauben ihm letzterers gern. Aber auch wieder irgendwie nicht ganz. Denn Rabsch, 1944 in Ostpreußen geboren, in Stuttgart seit langem als Medicus wirkend, hat auch mehrere Romane geschrieben. Und gute dazu. Die "Zeit" rühmte "enorme Sprachkraft". Romane, die leider viel, viel zu wenig bekannt sind. Ebenso wie ihr überaus öffentlichkeitsscheuer, im baden-württembergischen Literaturgetriebe eher selten in Erscheinung tretender Autor.

"Mexikanische Reise", "Der Hauptmann von Stuttgart", "Julius oder Der schwarze Sommer", so die Titel der im Tübinger konkursbuch-Verlag Claudia Gehrke erschienenen, fein edierten Romane von Rabsch. In seinem letzten, "Tazacorte", erzählt er bannend, lapidar, bilderstark, eine Abenteuergeschichte, hinter der sich zutiefst melancholische Zivilisationskritik verbirgt: Nach einem Unfall auf See gerät ein Mann, nunmehr ohne Erinnerungsvermögen an die Vergangenheit, auf eine kanarische Insel voller Europaflüchtlinge, Aussteiger, Touristen. Sätze wie Seziermesser, die durch die Oberfläche ins Mark menschlicher Existenz stoßen. Ein Roman wie ein Röntgenbild, das unsere geheimen Krebsgeschwüre sichtbar macht.

Er schöpfe aus den Begegnungen mit den Patienten, sagt Rabsch, der sich während seiner Praxiszeiten immer wieder Notizen macht, nachts dann zwischen elf und eins schreibt, wobei er sich oft "wie in Trance" fühle. Als Literat möchte Rabsch "hinter meinen Büchern verschwinden, weil nicht eigentlich ich es bin, der schreibt". Seine Zurückhaltung in der Öffentlichkeit bezeichnet er als "Reflex". "Ich fände es anmaßend, wenn ich über mich spräche". Auch könne die Fahrt auf dem öffentlichen Literaturkarussell zu einer "Zerstörung des schreibenden Ichs" führen. Zwickmühle: Geht der Autor umtriebig in die

literarische Arena, gefährdet er vielleicht seinen Schreibimpuls. Läßt er seine Bücher in der Öffentlichkeit allein, hemmt er deren angemessene und im Falle des "Geheimtips" Rabsch allemal wünschenswerte weitere Verbreitung.

Christoph Lippelt wäre es ganz gewiß lieber gewesen, man hätte auf seinen letzten Roman "Kannibalentanz" (Silberburg-Verlag, Tübingen und Stuttgart) weniger heftig reagiert. Was er "juristische Schritte" und "böswilliges Mißverstehen" nennt, hat kurzzeitig gar sein "Schreibselbstverständnis ins Wanken gebracht". Lippelt, 1938 geboren, vor den Toren Stuttgarts als Hautarzt arbeitend, als Autor vielfach mit bemerkenswerter Lyrik hervorgetreten, mit Preisen ausgezeichnet, hat im "Kannibalentanz" den Arzt als Schriftsteller literarisch thematisiert. Dieser Doktor Thymian, dem Heilen und Schreiben gleich wichtig sind, durchläuft, wie sein Erfinder es getan hat, Klinik, Gesundheitsamt freie Arztpraxis: ein Roman, sprachsatt, farbenreich. Und manchen Auswüchsen im Medizinbereich stellt er jodbrennend scharf eine vernichtende Diagnose. Ein Arztkollege des Autors wähnte sich porträtiert, glaubte eine Institution geschmäht, bemühte Standesorganisation, Anwälte. Die Sache verlief im Sande.

Zwickmühle: Geht ein Autor mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen, Beobachtungen, auch mit seiner Wut, seinem ethischen Maßstab romanschreibend in die Öffentlichkeit, und alles Schreiben zählt ja letztlich nur auf diese, so kann ihm von dort her eiskalter Wind entgegenblasen. Unterläßt es ein Autor, die Stoffe, die ihm sein Leben zuspielt, und er hat genaugenommen nur diese, literarisch umzuschmelzen, entzieht er sich als Künstler den Boden. Christoph Lippelt sagt es so: "Das gehört für mich zusammen. Nur weil ich Arzt bin, kann ich schreiben."

Merkwürdige Leute, diese Autoren. Merkwürdig zwiegenäht
 
 

[Stuttgarter Zeitung, 6.3.1994]





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