Doppelausstellungen sind immer etwas Vertracktes, für das Publikum ebenso wie für den Eröffner. Denn das Zusammentreffen zweier künstlerischer Temperamente, die gemeinsame Präsentation unterschiedlicher Produktionen und ihre unterschiedlichen Ansprüche, die sie an den Betrachter machen, verführen schnell dazu, das Ausgestellte zu vergleichen oder auch zu unterscheiden, gegeneinander zu wägen und aneinander zu werten. Mit der Gefahr, daß dies alles sehr oberflächlich gerät.
Ich bemerke dies als Warnung vorweg, da ich mir nicht sicher bin, ob ich in jedem Fall dem Vordergrund, den Vordergründen der Reinhardtschen Mischtechniken, der Oberfläche, den Oberflächen der Heuserschen Materialbilder hinter den Sinn bzw. auf den Grund gekommen bin.
Da sowohl Frau Reinhardt wie Klaus Heuser in dieser Galerie bereits ausgestellt haben, dem Publikum also keine Unbekannten mehr sind, erspare ich mir Vorstellung und Skizze der Werkentwicklung und greife gleich zur Einladung, genauer zu den beiden dort wiedergegebenen Arbeiten. Bei ihnen ist mir nämlich - von der nicht ganz glücklichen Farbabstimmung einmal abgesehen - aufgefallen, daß Christiane Reinhardt ihre Arbeit recht lakonisch ,"Zählerkasten" getitelt hat, während Klaus Heuser eher verspielt von "Variations sur un K: saltimbanque" spricht, von den Variationen eines K und von einem Gaukler oder Possenreißer.
Da ich selbst ein wenig verspielt bin, erlaube ich mir, den eher lakonischen Titel des Bildes von Frau Reinhardt ebenfalls zu verfremdsprachlichen und ihn durch Metritis revmatos zu ersetzen. Und ich tue dies, weil uns ein solcher Metritis revmatos sprachlich nach Griechenland führt und damit Ort und Anlaß der hier ausgestellten Mischtechniken benennt, während die Bildunterschrift Klaus Heusers nach Frankreich weist. Auslandsaufenthalte und -erlebnisse sind demnach ein erster gemeinsamer Nenner der hier gemeinsam ausgestellten Arbeiten, wobei es sich in jedem Fall nicht um eine einmalige Reise handelt.
Bei Christiane Reinhardt ist mit den Griechenlandreisen allerdings ein Themenwechsel verbunden. War es ursprünglich die griechische Landschaft, die sich ihr physiognomisch erschloß und den Landschaftscharakter des menschlichen Körpers entdeckte (Schütz), so waren es im letzten Jahr sehr private Erlebnisse, die ihr die farbigen Zählerkästen an griechischen Häusern zur Metapher persönlicher Getroffenheit werden ließen.
Ohne solche Einbrüche wurden für Klaus Heuser häufigere Frankreichreisen zum Anlaß seiner Materialbilder, steht bei ihm an Stelle einer persönlichen Ge- eine ästhetische Betroffenheit, ausgelöst durch Einritzungen in Mauern oder Wänden, durch hinterlassene Spuren, die die Fantasie in Gang setzen. Wobei man den Fundort - die Touraine - zu einem ersten Verständnis Bemühen darf. Setzt sich diese doch bekanntlich aus Kreideplateaus zusammen, die von tonigen Sanden bedeckt sind - eine Geologie, die dem Betrachter gleichsam als Eselsbrücke den leicht ritzbaren Stein und den Sand liefert, die für die Materialbilder eine so entscheidende Rolle spielen.
Geht man zusätzlich dem Alter der Wände und ihrer Inschriften nach, verliert man sich schnell ins 16. Jahrhundert, gewinnt die Zeit ein zusätzliches Gewicht. So mag sich der geneigte Betrachter je nach Leseerfahrung oder Laune an Marcel Prousts "A la recherche du temps perdu" erinnert fühlen oder - profaner - an Sanduhren. Diese Erfahrung der Zeit aber ist zugleich ein zweiter gemeinsamer Nenner der heutigen Ausstellung, sind doch Prousts Romantitel, Sanduhr oder Zählerkasten als Metaphern durchaus vergleichbar.
Ich darf, mit freundlicher Genehmigung von Frau Reinhardt, zitieren, wie in einer bestimmten Situation in Griechenland der Zählerkasten für sie bedeutend wurde, wobei die Situation selbst als privat ausgespart bleiben kann. Unser Leben, hat Frau Reinhardt notiert, scheint mir im 'Zählerkasten' festgehalten . Wiedergabe von Energieverbrauch, gelebtes Leben, Zwischenbilanz... Verbindung zu quadratischen und rechteckigen Gegenständen, die ein Zählwerk in sich tragen und dem Menschen das Vergehen der Zeit deutlich machen. [ . . . ] Spielen Raum und Zeit keine Rolle? Oder spielen sie die Hauptrolle? Wie verwende, oder verschwende ich meine Zeit, meine Energie?
Damit, daß Frau Reinhardt auf ihre Mischtechniken gelegentlich auch Sand aufbringt, ist nun allerdings kein drittes Gemeinsames gegeben, deutet sich vielmehr entschieden Unterschiedliches an. Dazu muß ich ein wenig ausholen. Die Interpretation hat als zentrales Thema der Landschaftskörper bzw. Körperlandschaften Christiane Reinhardts den Menschen als handelndes und leidendes Wesen benannt. Die Landschaft sei der Lebensraum, der den Menschen präge; zugleich aber verändere und deformiere er diesen seinen Lebensraum (Schütz). Diese implizite Dialektik verlagert sich in dem Maße, in dem sich Christiane Reinhardts Bildgegenstände ändern oder - anders ausgedrückt - in dem Maße der Mensch, die menschliche Figur aus ihren Bildern verschwindet.
Man kann über die hier angenommene Werkentwicklung vielleicht streiten, zumal bei Frau Reinhardt manches noch ausfomuliert wird, während sich anderes gleichzeitig schon artikuliert. Doch möchte ich bei meiner Reihenfolge bleiben und sie mit den Körperlandschaften (Anfang der 80er Jahre), den "Mauerstücken" (1986) und schließlich den "Zählerkästen" beispielhaft besetzen. Ist auf den "Mauerstücken" der Mensch allenfalls noch spurenhaft anwesend, vielleicht noch als Errichter der Mauer denkbar, verweisen die "Zählerkästen" auf ihn lediglich noch als Energieverbraucher (in dem Sinne, in dem ich Christiane Reinhardt zitiert habe).
Nun ist auffallend, daß in dem Maße, in dem der Mensch aus diesen Bildern verschwindet oder ausgespart bleibt, die Betroffenheit einer persönlichen Getroffenheit weicht, die ursprüngliche wilde Farbigkeit der Bilder sich zurücknimmt, ihre Gegenständlichkeit sich versachlicht. Dies allerdings nicht so, daß man davon sprechen könnte, die neueren Arbeiten Christiane Reinhardts seien ruhiger geworden. Wer dies so sieht, der übersieht die Bedeutung der zurückgenommenen, nachdenklicheren Gestik, des Wechsels der Farbigkeit in Richtung der Erdfarben. Der übersieht die ausweglosen Höhlen auf diesen Bildern, zu denen der Malakt die Zählerkästen mutieren läßt, der übersieht die unübersteigbaren Mauern hinter diesen Kästen und ihre Undurchdringlichkeit noch dort, wo sich die Kästen wie Nischen in sie eingegraben haben. Ich jedenfalls denke, daß die hier ausgestellten Arbeiten nur bedingt die Unruhe, die Depression verbergen, aus denen heraus sie entstanden sind auf der Suche nach einer Antwort. Und dabei sehe ich den zum Teil aufgebrachten Sand weniger material als funktional: als etwas, das scheuert, reibt und in diesem Sinne Schmerz erzeugen, verletzen kann, als malerisches Signal für Verletzbarkeit und Verletzung.
Das ist bei den Materialbildern Klaus Heusers ganz anders. Für ihn hat der aufgebrachte Sand vor allem farbliche Qualität, spielt seine hellgrüne, rosa oder ockrige Tönung vor allem eine kompositorische Rolle. Und vielleicht kann man den Unterschied und das jeweils Eigenständige auch so ausdrücken, daß man sagt: Christiane Reinhardt nähert sich bei ihren "Zählerkästen" den Erdfarben, wobei sie gelegentlich Sand als haptisches Bi/ldelement einsetzt, während Klaus Heuser ihn primär optisch, zum Einfärben seiner Materialbilder einsetzt, deren wesentliches Element er zugleich ist.
Nun ist das Epitheton material, der Terminus Materialbild durch einen zeitweilig inflationären Wortgebrauch mit Mißverständnissen besetzt, was mich gereizt hat, zu überlegen, was denn die Klassifizierung als Materialbild für Klaus Heuser besagen will. Denn das Adjektiv material bedeutet ja nicht nur - wie uns die Materialfetischisten weismachen wollten - stofflich, sondern es bedeutet auch inhaltlich, sachlich. Und das Substantiv Material meint nicht nur Rohstoff, Werkstoff, sondern zugleich Unterlage, Beleg, Sammlung. Sicherlich sind Heusers Materialbilder in ihrem ersten Ansatz von dem verwendeten Rohstoff: also dem aufgesiebten Sand, der gefundenen Einritzung oder Inschrift her determiniert. Aber in einem zweiten Ansatz sind sie auch Beleg (einer gefundenen Inschrift z.B.), gesammelt und archiviert als Frottage, also in jener von Max Ernst für die Kunst gefundenen Technik der Spurensicherung, aber auch der Möglichkeit ihrer inhaltlich überraschenden Ausdeutung. Ich erinnere an den Titel der Arbeit, von der wir ausgingen: "Variations sur un K: saltimbanque".
Wenn ich mich, wie bei Christiane Reinhardt, auch bei Klaus Heuser für einen Moment in die Werkgenese verirren darf: auch bei ihm scheint mir in den letzten Jahren ein entschiedener und entscheidender Schritt erfolgt im Übergang von den Wand- zu den Materialbildern, den Sandbildern, Buchobjekten und neuesten recht eigenwilligen Kleinplastiken. Spielten die Wandbilder, in ihrer gelegentlichen Nähe zur Trompe l'oeil-Malerei aber auch zum Fotorealismus, mit Wirklichkeit und Schein, mit einer vorgespiegelten Wirklichkeit, die nur Schein war, und mit Schein, der für Wirklichkeit gegeben wurde, können die Arbeiten der letzten Zeit auf solche Täuschungsmanöver verzichten. Sie gehen aus von Realität bzw. ihrer Oberfläche, von Wänden, Mauern und den Spuren, die reale Menschen irgendwann auf ihnen hinterlassen haben. Und sie fügen diese Ausgangsmaterialien zu überraschenden ästhetischen Botschaften neu zusammen. Zu ästhetischen Wirklichkeiten, die einmal für sich selbst stehen, und die zugleich in ihrer Materialität ausreichend Realität zitieren und enthalten.
Mit anderen Worten: an die Stelle der Täuschungsmanöver, der Verwirrspiele mit Wirklichkeit und Schein ist jetzt das Spiel zwischen ästhetischer neuer und zitierter alter Wirklichkeit getreten. Wobei mir daran liegt, Spiel besonders zu betonen, denn nicht von ungefähr hat Klaus Heuser eine Variation des K als Gaukler, als Possenreißer und damit als Spielfigur gedeutet.
Ein solches Spiel mit Wirklichkeit auf doppeltem Boden ist aber in seinem Grunde - wie die "Zählerkästen" Christiane Reinhardts es unter anderen Voraussetzungen auch sind - nichts anderes als der Versuch, sich mit sich selbst in der Welt und ihrer Wirklichkeit zurechtzufinden. Wenn ich unterstelle, daß Wirklichkeit mehr und anderes ist als das, was uns die Medien täglich als solche frei Haus liefern, darf ich die Arbeiten dieser Ausstellung auch sehen als dem unterschiedlichen Temperament der beiden Künstler adäquate Artikulationen von Wirklichkeitssuche, Kunstausdruck in einem Sinne, wie ihn Marcel Proust definierte. Der nämlich schließt seine Suche nach der verlorenen Zeit bekanntlich in der "Wiedergefundenen Zeit".
Wem das jetzt zu weit hergeholt scheint, dem sei zugestanden, daß man die hier ausgestellten Arbeiten selbstverständlich auch anders erklären kann. Und daß man sie am besten gar nicht erklärt, sondern sie sich an die Wand hängt und sich über sie freut, mit ihnen spielt oder sich von ihnen betroffen machen läßt - je nach Temperament.
[9.2.1990]