Reinhard Döhl
Schatten zu überspringen in der Mittagsglut der Wüste, das wär's

Folgt man den Ausstellungsdaten, betritt Christiane Reinhardt die Kunstszene erstmals 1975. Und sie betritt sie anklagend. Arbeiten wie "Wir sind die Moorsoldaten" (1979), "...geboren in Gorleben" (1980), "Brokdorf" (1981), "Cadmium" (1980), "Helme" (l981), "Der Marionettenmensch" (1980), "Gebundene Hände" (1981) oder "Die Sache mit dem Alter" (1981) zeigen die Künstlerin politisch und sozial engagiert, ihre auch physische Betroffenheit thematisiert sich in der "Verletzbarkeit des Außenseiters" (1981). Bis Mitte der 80er Jahre bleibt dies zugleich eine thematische Konstante im Werk der Künstlerin, lassen sich Arbeiten wie "Die Alternative" (1984), "... und Kinder nicht mehr draußen spielen" (1986) diesem Themenumfeld leicht eingliedern. Zugleich weisen andere Arbeiten wie "Bleib doch noch" (1984;) oder "Psychiatrie" (1985) auf eine zunehmende psychische Betroffenheit, auf die "Außenseiter in uns" (1986) gleichfalls verweisen. Die Betroffenheit wandelt sich in ein Getroffensein, die Anklage wird zur Klage, die sich in zunehmender Farbigkeit artikuliert. Als "Bilder vom Menschen" faßt ein Katalogvorwort Ehrenfried Kluckerts die Werkentwicklung Christiane Reinhardts, die Arbeiten der 80er Jahre zusammen. Aber war das eindeutig so? War damit Ansatz und Intention dieses Werkes bereits gänzlich erfaßt?

Christiane Reinhardt war auf der Akademie Schülerin von Herbert Baumann, also ursprünglich als Bildhauerin ausgebildet. Bei ihrem Betreten der Kunstszene findet zugleich ein interpretatorisch nicht zu vernachlässigender Wechsel der Kunstart statt. An die Stelle der Plastik tritt die Zeichnung, das Bild, beides jedoch noch verbunden in der Figur. Den Figuren der Terrakotten (197?) entsprechen jetzt Aktzeichnungen und -bilder bis weit in die 80er Jahre ("Akt", 1981; "Akt", 1986), Arbeiten, an denen sich die Entwicklung der Künstlerin eindrucksvoll studieren läßt.

Aber bald kommt in Folge einer Griechenlandreise etwas Entscheidendes hinzu: die Entdeckung des physiognomischen Charakters der Landschaft und des Landschaftscharakters des menschlichen Körpers. Helmut G. Schütz, der sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die "Felslandschaften" von 1981 zu beziehen scheint, benennt als den Landschaftskörpern bzw. Körperlandschaften zentrales Thema den handelnden und leidenden Menschen. Die Landschaft, die den Menschen präge, werde zugleich von ihm verändert und deformiert.

Diese implizite Dialektik muß sich in dem Moment verlagern, in dem sich Christiane Reinhardts Bildgegenstände ändern, insbesondere in dem Moment, in dem sich der Mensch aus ihren Bildern verliert. Zeigt zum Beispiel "Was ihr getan habt" (1983) noch eine Figur vor einer Hauswand/Mauer, die mit bezeichnenden Inschriften versehen ist, ist der Mensch auf den "Mauerstücken" von 1986 entweder nur noch spurenhaft, als Zeichnung oder gar nicht mehr vorhanden. Das nimmt diesen "Mauerstücken" nichts von ihrer Mehrdeutigkeit. Denn einmal und traditionell bezeichnet der Titel das Genre (wie Blumenstück, Bruststück), zum anderen bezeichnet er den Gegenstand: ein Stück Mauer. Dieses Stück Mauer bleibt, selbst wenn der Mensch auf ihm nur noch spurenhaft und indirekt (Graffito) zu fassen, ja sogar abwesend ist dennoch Menschenwerk, geeignet zu schützen oder auszugrenzen.

Dieses vorausgesetzt konnte auf einer erneuten Griechenlandreise, in einer konkret existentiellen Situation, der Zählerkasten zum Katalysator werden. Unser Leben, hat es sich Christiane Reinhardt damals und dort notiert, scheint mir im Zählerkasten 'festgehalten'. Wiedergabe von Energieverbrauch, gelebtes Leben, Zwischenbilanz... Verbindung zu quadratischen und rechteckigen Gegenständen, die ein Zählwerk in sich tragen und dem Menschen das Vergehen der Zeit deutlich machen. Fernsehapparat, Mikrowellenherd, Zählerkasten, Computer usw. Spielen Raum und Zeit keine Rolle? Oder spielen sie die Hauptrolle? Wie verwende oder verschwende ich meine Zeit, meine Energie?

War der Mensch auf den "Mauerstücken" wenigstens noch als derjenige denkbar, der die Mauer errichtet, im Falle der "Zählerkästen" ist er nurmehr destruktiv: Verbraucher von Energie in allem, was dieses Wort umschließt.

Als persönliche Zwischenbilanz gelesen, zeigen die hier einschlägigen Arbeiten ein weiteres Mal die entschiedene Entwicklung des künstlerischen Werkes Christiane Reinhardts vom Betroffensein zu persönlichem Getroffensein, von der Anklage zur Klage, bei der nicht einmal mehr die Farben schreien. Im Gegenteil: je mehr die wilde Farbigkeit der 80er Jahre sich zurücknimmt, je mehr sich die Gegenständlichkeit der Arbeiten versachlicht, um so stiller wird die Klage. Dies allerdings nicht so, daß man jetzt sagen kann, die Arbeiten Christiane Reinhardts seien ruhiger geworden, eine ehemals Wilde sei/habe sich gezähmt.

Wer dies so sieht, übersieht die Bedeutung der zurückgenommenen, nachdenklicheren Gestik des Farbwechsels in Richtung von Erdfarben. Wer dies so sieht, übersieht die ausweglosen Höhlen auf einer Vielzahl dieser Bilder, zu denen der Malakt die Zählerkästen mutieren läßt, übersieht die unübersteigbaren Mauern hinter diesen Kästen und ihre Undurchdringlichkeit noch dort, wo diese Kästen wie Nischen in sie eingegraben scheinen. Ich jedenfalls denke, daß die hier einschlägigen Arbeiten nur bedingt die Unruhe, die Depression verbergen, aus denen heraus sie entstanden sind auf der Suche nach einer Antwort. Dem entspricht der auf ihnen zum Teil aufgebrachte Sand als etwas, das scheuert, reibt und in diesem Sinne Schmerz erzeugen, verletzen kann, als malerisches Signal für Verletzbarkeit und Verletzung.

Wir glauben heute zu wissen, daß alle Versuche, sich mit sich selbst und in der Wirklichkeit zurechtzufinden, unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Reise durch die eigene Gegenwelt geraten können, zur "Suche nach der verlorenen Zeit". Die Antworten darauf können yerschieden ausfallen. Marcel Proust, der diese Suche vielleicht am konsequentesten thematisiert hat, beschließt sein "Recherche du temps perdu" in der "Wiedergefundenen Zeit". Ernst Bloch benennt als Ziel unserer Hoffnung etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. "Traum nach vorwärts" hat er das letzte Kapitel seines "Prinzips Hoffnung" überschrieben.

Versteht man, und dafür spricht fast alles, die Werkentwicklung Christiane Reinhardts in der zweiten Hälfte der 80er Jahre als eine solche Reise durch die eigene Gegenwelt, gewinnen die den "Zählerkästen" folgenden Arbeiten etwas von der Qualität einer wiedergefundenen Zeit, bekennen sie sich zum Prinzip Hoffnung. Eine auslösende Rolle spielte dabei die Aufforderung Anfang dieses Jahres, sich an dem Ausstellungsprojekt "Orient meets Occident" zu beteiligen. Bei der künstlerischen Auseinandersetzung mit diesem Thema wich die persönliche Betroffenheit zunächst einer Akzeptanz und zunehmend der Einsicht, daß ein zur Hälfte mit Wasser gefülltes Glas halb leer oder halb voll sein kann, je nach Standpunkt des Betrachters.

Von diesem fast zu geläufigen Beispiel ausgehend, erweisen sich die neuesten "Horizontbilder" Christiane Reinhardts primär als der künstlerische Versuch, Gegensätze wie Oben und Unten, Himmel und Erde. Nähe und Ferne, Hell und Dunkel auszubalancieren, kommt es zwischen Schwarz und Weiß zu einem experimentellen Erproben der Grauvarianten. Und dies nicht nur als pures ästhetisches Spiel. Was hier in Reduktion und Variation erprobt wird, versteht sich durchaus bedeutungsvoll, wobei dem Malakt ein neues Gewicht zufällt. War er früher ausgerichtet auf ein konkretes Ergebnis, wird er jetzt gleichsam zu einem Meditationsvorgang, der sich dem Betrachter in den eingemalten, eingeschriebenen, eingeritzten Bildelementen durchaus erschließen kann. Die Wunde, auf den Arbeiten der 80er Jahre eindeutig als Verletzung zu lesen, ist jetzt zugleich Öffnung auf oder für Etwas. Das leere schwarze Boot am Strand (oder in den Himmel eingeritzt) signalisiert nicht nur Verlassensein, sondern auch Stille, und könnte zugleich ein Paradoxon Günter Eichs illustrieren, dessen Hörspiei "Festianus Märtyrer" mit der Dialogsequenz endet:

Belial: Laß alle Hoffnung fahren.
Festianus: Sie fährt, Belial. Ein Boot das uns alle aufnimmt. Auch dich.
Nicht mehr, wie im "Sterntalerkind" (1985), bittere Exegese, verweisen das Bildelement Krone, ein angedeuteter König jetzt auf den utopischen Gehalt des Märchens, auf Kindheit. Ebenso die in Himmel oder Erde eingeritzten Herzen. Manche dieser ikonographischen Elemente, manche Konstellationen sind nach Bekunden Christiane Reinhardts zuvor geträumt, nicht mehr als Albtraum, sondern nach vorwärts im Sinne Ernst Blochs.

Und was für Boot, Krone, Herz gilt, läßt sich leicht auch für die weiteren ikonographischen Elemente, die gelegentlich an Hieroglyphen oder auch nur an abstrakte Schrift gemahnenden Einritzungen geltend machen. Nun nicht so, als habe sich jetzt die Bildersprache Christiane Reinhardts ausschließlich ins Positive gewendet. Das schließt sich bereits durch die Mehrdeutigkeit der Bildinhalte, ihre Ikonographie aus, denn das Boot kann ebenso Hoffnungslosigkeit, Verlassenheit bedeuten, wie es die Hoffnung aufnimmt, der Mond ist auch das Gegenteil der Sonne und als Sichel dem Schwert, dem Nagel (weiteren Bildelementen) durchaus verwandt. Die von ihnen geschlagenen Wunden (Verletzungen) sind, wie schon gesagt, aber auch Öffnungen und so fort.

Liest man die neuen Bilder Christiane Reinhardts in dieser Mehrschichtigkeit, wird ihre Intention wohl am ehesten faßbar, wird der Horizont zu einem Ziel, auf das hin sich der Maler ebenso wie der Betrachter bewegen, ohne ihn möglicherweise erreichen zu können. Es ist die Akzeptanz des Weges als ein Auf-dem-Weg-sein, von dem die neuen Bilder Christiane Reinhardts sprechen. Ihre ikonographischen Elemente (Mondsichel, Boot, Krone, Schwert, Phallus, Herz, die unentzifferbaren Hieroglyphen usw.) sind gewissermaßen die im Malakt gesteckten Markierungen einer Sinnsuche, die die Polarität akzeptiert hat, um das Paradoxe weiß und das Absurde wagt.

Christiane Reinhardt schreibt auch Gedichte, möchte immer noch auf dem Regenbogen Amok laufen. Eines ihrer Gedichte schränkt jedoch ein: Ein Steinwurf weit, und ich hätte es fast geschafft. Ein anderes spricht davon, daß es der Lichtspringer [...] leichter habe als der Schatten beim Versuch, über seinen Schatten zu springen. Es endet, wie dieser kleine Versuch über die Arbeiten Christiane Reinhardts begann: Schatten zu überspringen in der Mittagsglut der Wüste, das wär's.

[1990]