Reinhard Döhl | Zu den Hörspielen Christa Reinigs

Zitat

Ein Charakteristikum des dünschis generalis [sic, R.D.] ist, daß er nie ohne Komplikationen auftritt. Man kann nicht einfach Dünnschiß bekommen, hinauseilen und die rettende Tür öffnen. Nein. Sobald er kommt, gibt es weit und breit keine Tür, kein Baum, kein Strauch. Und es gibt auch keinen Trost. Gewöhnlich ist kein Leiden so groß, daß man es nicht mit der Lektüre einer Boulevard-Zeitung lindern könnte. Ei, was da alles passiert, da kann ich in meiner Lage mit meiner Situation noch hoch zufrieden sein. Man kann nicht hinter einem Menschen her, der vom Dünnschiß befallen, wahnwitzig umhereilt, mit geöffnetem Zeitungsblatt hinterherrennen und sagen, Hör doch mal, was hier steht: Außenminister stirbt an Krebs, Flugzeug abgestürzt, Überlebende ernähren sich durch Kannibalismus, Hungersnot in Biafra! Ist das nichts? Es ist nichts.

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Derart grotesk-komisch leitet Christa Reinig in ihrem autobiographischen Bericht "Die himmlische und die irdische Geometrie" die Schilderung des Tributs ein, den auch sie in der Osterwoche des Jahres 1962 der Typhus-Epidemie in Ostherlin zollen mußte. Womit wir bereits beim Thema sind. Denn Hörspiel und Autobiographie spiegeln nicht nur die Bandbreite Reinigscher Fabulierlust, ihrer formalen, sprachlichen und perspektivischen Vielfalt. Die doppelte Präsentation eines konkreten Geschehens in der Autobiographie und in der Fiktion läßt Zusammenhänge auch für das weitere Werk vermuten, deutet Wechselbeziehungen an, auf die eine bisher vorliegende Literatur merkwürdigerweise noch gar nicht geachtet hat.

1926 unehelich geboren, wuchs Christa Reinig im Berliner Osten unter armseligsten Verhältnissen auf. "Die himmlische und die irdische Geometrie" memoriert in eindrucksvoller Weise Milieu und soziale Konditionen dieser Kindheit und Jugend, die Arbeit in der Fabrik oder nach dem Kriege als Trümmerfrau, die (abgebrochene) Lehre als Blumenbinderin in einem Betrieb an jenem Alexanderplatz, den Alfred Döblin drei Jahre nach Christa Reinigs Geburt mit seiner "Geschichte vom Franz Biberkopf", seinem Roman "Berlin Alexanderplatz" weltberühmt machte. Der abgebrochenen Blumenbinderlehre folgten die Arbeit als Bürogehilfin, das mühselige Erlernen von Stenographie und Schreibmaschineschreiben, und - etwa mit sechzehn Jahren - ein erster literarischer Gehversuch.

Zitat

Ich kann mich noch entsinnen: Es war Sommer. Ich saß in der Kantine, es war heiß, ich beschloß auf der Stelle, ein Weihnachtsgedicht zu machen. Wie alt war ich damals? - Sechzehn Jahre oder was. Es kam Entsprechendes heraus, es war alles drin: Tannengrün, Schnee fiel, Glocken haben geklungen. Als es fertig war, dachte ich, es ist eigentlich ganz ordentlich geworden. Heute würde man sich kaputt darüber lachen. Damals dachte ich: du hast doch was weg... Ich war mir bewußt, daß es eigentlich Stümperei ist, daß es Kinderei ist, und daß ich etwas erarbeiten muß.

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1950 bis 1953 besuchte Christa Reinig die "Arbeiter- und Bauernfakultät" in Ostberlin, auf der Arbeiter, die lediglich zur Volksschule gegangen waren, zur Universitätsreife geführt wurden. 1953 begann sie an der Humboldt-Universität ein Studium der Kunstgeschichte und christlichen Archäologie. Nach dem Examen zunächst arbeitslos, fand sich schließlich eine Stelle als wissenschaftliche Assistentin am Märkischen Museum, wo sie Grafiken vermaß und katalogisierte.

Zwar konnte die Studentin der Arbeiter- und Bauernfakultät 1951 ein erstes Gedichtbändchen und in einer Anthologie eine frühe Prosa veröffentlichen, doch blieb ihr bald, nicht ohne eigenes Zutun, ein weiteres Publizieren in der DDR verwehrt, erscheinen Prosa und Gedichte der 50er Jahre erst nach 1960 in Westberlin und in der Bundesrepublik. 1964 erhielt Christa Reinig für einen schmalen Band "Gedichte" (1963) den Bremer Literaturpreis, blieb nach seiner Entgegennahme in der Bundesrepublik und lebt seither in München. Eine 1965 erschienene, 148 Seiten starke Sammlung, "Drei Schiffe. Erzählungen, Dialoge, Berichte" umfaßt mit Ausnahme des letzten Textes fast das ganze neben den "Gedichten" in der DDR entstandene Prosawerk, darunter die Funkerzählung vom "Teufel, der stumm bleiben wollte" und das Hörspiel "Kleine Chronik der Osterwoche". 1964 ("Der Teufel ...") bzw. 1965 ("Kleine Chronik ...") werden beide in Westberlin (Rias), bzw. der Bundesrepublik (SDR) realisiert und machen Christa Reinig schnell einem breiteren Publikum bekannt. Die nächsten 'Veröffentlichungen' sind bezeichnenderweise ebenfalls Hörspiele, und zwar in der Reihenfolge ihrer Erstsendung 1966 "Tenakeh", 1967 "Das Aquarium", für das Christa Reinig den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt, und 1968 "Wisper".

Erst 1969 folgen wieder Buchpublikationen, Prosa und Gedichte, darunter mit den "Schwabinger Marterln" und "Papantscha-Vielerlei" zwei Bände mit unsinnsnaher Posie, die sicherlich auch als Reflex auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit, ihrer Erfahrung durch Christa Reinig gelesen werden müssen. 1975 legt Christa Reinig, als "Roman" getarnt, mit "Die himmlische und die irdische Geometrie", eine autobiographische Bestandaufnahme vor, um 1976 schließlich mit "Entmannung", einem vielbeachteten aber auch umstrittenen autobiographischen "Roman", nachdrücklich die Szene der Frauenliteratur zu betreten.

Von jenem Weihnachtsgedicht der sechzehnjährigen Büroangestellten zum "feministischen Roman" der in München lebenden freien Schriftstellerin scheint es ein weiter Weg, im Inhaltlichen wie im Sprachlichen. Doch wohnt ihm - wenn man sich darauf einläßt, ihn vorurteilslos lesend nachzugehen - eine erstaunliche Konsequenz inne. Es ist - so will es uns jedenfalls scheinen - der konsequente Prozeß einer Selbstfindung, in dem die Hörspiele einen besonderen Stellenwert haben. Sie vor allem sind Gegenstand dieser Sendung, um so mehr, als eine bisher vorliegende Literatur über Christa Reinig, zum Beispiel Stefan Bodo Würffel in "Das deutsche Hörspiel", ein Gespräch mit Ekkehart Rudolph, aber auch ein Artikel Karl Rihas im "Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" ausschließlich das preisgekrönte "Aquarium" erwähnen, Riha die anderen Hörspiele immerhin dem Titel nach bibliographisch vermerkt, wenn auch mit falschen Aufführungsdaten. Diese Mißachtung ist um so ärgerlicher, wenn man sich einmal ausrechnet, daß allein die vier Hörspiele im deutschsprachigen Rundfunk bis heute 51 Aufführungen, bzw. Wiederholungen erlebten und damit eine Hörerzahl an der Millionengrenze erreicht haben dürften.

Es ist selbst nach der verspäteten Einsicht, daß wir es seit 1945 mit zwei sich unterschiedlich entwickelnden deutschen Literaturen zu tun haben, immer noch unüblich, vor diesem Hintergrund den aus unterschiedlichsten Gründen in die Bundesrepublik gewechselten Autoren gesonderte Aufmerksamkeit zu schenken, im Bereich des Hörspiels etwa neben Christa Reinig Helga M. Novak oder Manfred Bieler. Diese Aufmerksamkeit verdient das Hörspielschaffen Christa Reinigs schon deshalb, weil es durch die Übersiedlung der Autorin gleichsam eine Zäsur erfährt, wodurch die beiden Teile ihre jeweils spezifische Aufmerksamkeit fordern.

Es geht zum Beispiel bei einer Analyse der "Kleinen Chronik der Osterwoche" nicht an, den konkreten Fall der Typhusepidemie mit ihren Folgen außer acht zu lassen. Eine Hörspielkritik, die Christa Reinigs "Kleine Chronik" mit Albert Camus' "La Peste" (1947) vergleicht, einer Erzählung, die von ihrem Erzähler und Arzt Rieux ebenfalls mehrfach als "Chronik" ausgewiesen wird, übersieht zum einen die Authentizität des Falles, stellt die "Kleine Chronik" auf die Stufe reiner Fiktion, fiktiven Artefakts. Auch übersieht sie das tendentiell Unterschiedliche der beiden Texte. Denn während es bei Camus Besatzungszeit und Faschismus sind, die als Pest über Oran hereinbrechen, bietet die Cholera der "Kleinen Chronik" der Macht ja gerade Paroli, leistet sie,

Einspielung

was mein und der Meinigen Arbeit gewesen wäre. Gott und die Seuche seien uns weiterhin gnädig und gnädig der Welt, der all die Wunder der Osterwoche verborgen blieben, und mögen uns schützen vor dem Feind.

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Zurecht hat sich Christa Reinig in einem Gespräch, das wir kurz vor der Sendung mit ihr führten, gegen den Vergleich ihrer "Kleinen Osterwoche" mit Camus' "La Peste" gewehrt.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Ja, als ich das las, da habe ich eine politische Kränkung erfahren. Wir saßen ja in Ostberlin und hatten die Cholera als Epidemie. Wir waren also gegen den Westen durch die Mauer abgeschlossen und nach Osten waren wir durch Polizeisperren abgeschlossen. Es konnte niemand rein und raus, auch aus der DDR. Auch Leute, die auf der Reise gewesen waren und aus der DDR sich in Berlin aufhielten, durften nicht mehr die Stadt verlassen. Und wir sitzen also in diesem Brei drin und das ganze deutsche Volk sitzt auf der anderen Seite und weiß nicht, daß wir an der Cholera sterben. Und daß da also plötzlich die Idee kommt, ohne Rücksicht darauf, daß natürlich solche Vergleichungen legitim sind: ach, da hast du also irgend was erzählt, was gar nicht stimmt - das hat mich gekränkt. Daß man in Ostberlin einen Massentod sterben kann, und in Westberlin, in Westdeutschland sitzen die und überlegen sich, ob Christa Reinig sich da was erfunden hat. Das haben die doch wissen müssen, daß es uns so dreckig ging.

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Bis in Details läßt sich Christa Reinigs Hörspiel entschlüsseln. Nicht nur, daß es infolge dieser Typhus-Epidemie in Ostberlin plötzlich Gemüse, Obst und Südfrüchte gab. Die Regierung der DDR hatte sich in der Tat in die CSSR, die höheren Funktionäre hatten sich ins sächsische Mittelgebirge zurückgezogen und die Dienststellen waren - wie man in der "Himmlischen und der irdischen Geometrie" nachlesen kann - nurmehr mit Pförtnern und Hausfrauen" besetzt. Ebenso entpuppt sich der Messerstecher, der vor dem Mauerbau seine Tätlichkeiten im Westen der Stadt verübte, jetzt, nach dem Mauerbau, als Ostberliner Realität und nicht krankhaft-dekadente westliche Erscheinung; ist bei genauerem Nachforschen die Krankheit des "Tyrannlein", dem die Cholera "den frühen Sonnabend" "in das fremde Land" folgt, konkret. Aus all diesen Gründen zögern wir, Christa Reinigs "Kleine Chronik" als - wie es bevorzugt geschieht - "dichterische Parabel" zu etikettieren. Sie ist viel eher eine chronique à clef, eine verschlüsselte und stilisierte Chronik und beispielhaft allenfalls dadurch, daß sie in einem konkreten Fall schildert, daß Macht in der, bzw. durch eine epidemische Krankheit ihre Grenzen erfährt. Wenn in der Literatur über Christa Reinig immer wieder von Parabeln die Rede ist, folgen die Autoren zwar einem Sprachgebrauch der Dichterin, übersehen aber die unübliche Verwendung.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Ja, das ist folgendermaßen. Zunächst einmal habe ich ja immer versucht, mich (...) eben zu entstellen oder zu verstellen Und dann habe ich mich niemals eigentlich als ein einsamer oder isolierter Mensch empfunden. Ich war immer Teil von etwas, auch wenn ich aus Krankheitsfällen oder Schicksalsfällen plötzlich mutterseelenallein dasitze. Ich bin immer in irgendeiner Welt oder in Kontakt zu irgendwelchen Menschen oder Lebewesen. Und dadurch besteht immer die Notwendigkeit, sich zu verständigen, in einer Moral. Das, was man Moral nennt, das ist für mich ganz einfach 'ne Verhaltensweise. Ich bin niemals so allein, daß ich mich nicht verhalten kann, sondern es ist immer zwischen mir und irgendwelchen Leuten eine Verständigung, die läuft immer. Und daraus ist also, das ist also drin, daß alles, daß alles, was ich mache, einen Sinn hat, daß alles, was ich mache, und wenn ich noch so alleine und nur an mich selber denke, irgendwie ist da immer ein Echo und Zurückkommen, ein feedback, wie man es sagen würde. Ich arbeite auf feedback, wenn man es so will, auch wenn ich es gar nicht darauf anlege. Und daher kommt, daß irgend etwas immer auf der anderen Seite ankommt, daß etwas einen Sinn ergibt, das, was man Moral, nicht im engeren Sinne der Moral, sondern eine Verständigung von Mensch zu Mensch oder von Lebewesen zu Lebewesen - das ist immer da und das hat also diese eigenartige Form der Parabel dann ergeben, daß etwas gesagt wird, das hat einen Sinn, und der andere findet diesen Sinn, eventuell ratet er ihn heraus. Wenn irgend jemand kommt und sagt, Christa Reinig, das ist Quatsch, dann sag ich: Na, dann lies doch was anderes.

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Eine solche Einschätzung der Parabel unterscheidet sich um einiges von einem traditionellen Verständnis, das Parabel definiert als eine an ein Publikum gerichtete Erzählung, die eine pädagogische Absicht verfolgt, wobei eine Sachhälfte (eine moralische Maxime, ein ethischer Satz) in einer Bildhälfte so dargestellt wird, daß die Sachhälfte in der fiktiven Bildhälfte immer gegenwärtig bleibt. So verstanden wäre allenfalls Camus' "La Peste" - auch das im wesentlichen Unterschied zur "Kleinen Chronik" - Parabel totalitärer Macht, während Christa Reinigs Hörspiel genau umgekehrt in einem konkreten Sachverhalt plötzlich einen verborgenen Sinn erkennen läßt, und wenn also Parabel, allenfalls verkehrte Parabel ist.

Ein weiteres Problem für den Interpreten stellt die nicht in dichterischer Absicht vorgesehene, sondern realiter vorgefundene Parallelität von Epidemie und Osterwoche dar mit ihrer durch die gewählte Sprachform immer angespielte heilsgeschichtliche Bedeutung (Kreuzigung und Auferstehung). Diese Anspielung geht bis zum wörtlichen Zitat, im folgenden Beispiel einer Stimme zugewiesen, die im Manuskript und Druck ausdrücklich als "der Sohn" ausgewiesen ist.

Einspielung

Kannst du nicht eine Stunde mit mir wachen?

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Das ist fast wörtlich die Frage, die Jesus im Garten Gethsemane an seine schlafenden Jünger richtet: "Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?" (Matthäus 26,40), bzw. "Simon, schläfst du? Vermochtest du nicht, eine Stunde zu wachen?" (Markus 14,37). Doch erfährt dieses Zitat zugleich eine Säkularisierung durch den Kontext.

Einspielung

Chronist: Eine Wolke zog groß über die Schrift. Der Himmel erlosch. Ein Schnee fiel nieder. Osterschnee. Da stand ein Mann. Der sagte:
Sohn: Kannst du denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Cholera: Ich wache, Herr, ich kann gar nicht schlafen. Goott hat es mir verwehrt. Er hat vergessen, mir Augenlider zu schaffen.

Autor

Um eine Parallelisierung von machtbrechender Krankheit und Heilsgeschehen kann es dabei nicht gehen und keinesfalls um eine Ausdeutung der Epidemie als Heilsgeschehen. Denn die Epidemie zeitigt schließlich lediglich humanere Bedingungen irdischen Lebens, Kreuzigung und Auferstehung zielen dagegen auf ewiges Leben. Die Erklärung für Sprachform und -einsatz muß demnach woanders liegen, will man das Hörspiel nicht als verfehlt bezeichnen. Und hier findet sich in der Tat eine mögliche Erklärung, vor die wir allerdings zunächst einen Exkurs über die Sprache Christa Reinigs schalten müssen.

"Die himmlische und die irdische Geometrie" berichtet von einem extremen Lesehunger schon in jungen Jahren, von extensiver Lektüre von Sagen, Seegeschichten, Indianerbüchern aber auch Homers und damit dem Durchschreiten großer Phantasieräume, der Entwicklung einer Phantasiekraft, von der später nicht nur die Hörspiele Zeugnis geben. So führen vom "Aquarium" die Spuren zurück zu den Seegeschichten der Jugend, von "Tenakeh" zu einer Indianerliteratur, deren umfassende Kenntnis Christa Reinig im letzten Schuljahr in Erdkunde sogar ein sehr gut" bescherte. Hand in Hand mit diesem Bildungserwerb ging ein Spracherwerb, der zunächst recht amüsante Züge aufweisen kann, wenn die junge Christa Reinig bei der Lektüre von Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" "eine Stadt Paris" entdeckt, die "Schafe auf einem Berg" hütet, "der den Namen einer Tante" trägt (= Paris auf dem Berg Ida). Zu einem derart naiven Spracherwerb gesellt sich ein extremer Sprachhunger, eine wahre Wörterfresserei.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Ich bin in sprachlichen Dingen, also mit Wörtern, ein ungeheurer Fresser gewesen. Ich kann mich erinnern, als ich als kleiner Lehrling zum ersten Mal einen Duden in die Hand bekam, ich wußte gar nicht, was das ist, Duden, und sehe ein Buch voller Wörter, ich war also so geistig weggetreten, daß ich überhaupt nicht gemerkt habe, wie die Leute mit mir geredet haben.

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Dieser Sprachhunger, diese Freude an sprachlichen Entdeckungen sind Christa Reinig bis heute geblieben und führten sie zu immer neuen und immer weiteren Spracherfahrungen. Auch nach ihrem Wechsel in die Bundesrepublik.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Und wenn ich hier also rüber kam, nach dem Westen, da gab es also tolle Wörter: rushhour und Frustration, und allein ein solches Wort, frustrieren oder ausflippen, das hat meine Phantasie ungeheuer angeregt. Ich habe also alles, was ich an Wörtern antraf, mitsamt den Situationen einfach in mich hineingefressen und war mir eigentlich dieses Zustands gar nicht bewußt. Da war ich einfach drin wie ein Fisch im Wasser. Ich war in all diesen Wörtern, die ich antraf, das war meine Nahrung. Da habe ich gar nicht den Kopf zerbrochen. Das kam einfach. Hinterher, jetzt kucke ich so von oben nach unten und sage: Donnerwetter, da ist also ein ganzer Haufen zusammengekommen.

Autor

Vielleicht kann man sagen, daß sich Christa Reinig in den jeweiligen Lebensbereichen unter den jeweiligen sprachlichen Bedingungen gleichsam in Sprachringen jenes umfängliche Repertoire aufgebaut, jene vielperspektivische Spannung der Sprache erworben hat, die von der Kritik wiederholt konstatiert wurde.

Ein solcher Sprachring ist bis in wörtliche Zitate hinein die Sprache der Lutherbibel. Auch hier lassen sich Verbindungen zwischen Werk und Biographie leicht herstellen. "Ich bin das einzig getaufte Kind der Familie", notiert "Die himmlische und die irdische Geometrie"; denn die frömmelnde Mutter hatte in einem Oppositionsakt gegenüber der eher linksorientierten Familie ihre Tochter programmatisch auf den Namen "Christa" taufen lassen. Sie hatte sie Kindergebete gelehrt und in der Weihnachtszeit mit ihr "Krippen angeschaut und Karfreitag die Kirche besucht". Diesen Oppositionsakt einer christlichen

Erziehung setzte Christa Reinig in einem weiteren Oppositionsakt, dem Studium der christlichen Archäologie, fort, - kein Wunder also, wenn in ihren in der DDR entstandenen literarischen Arbeiten der Sprach- und Bildbereich der Lutherbibel eine besondereRolle spielt.

Geht man von einem heutigen Verständnis aus, könnte man das in der DDR entstandene literarische Werk Christa Reinigs als Dissidentenliteratur, als sprachliche Opposition nehmen. Das gilt auch für eine kurze Prosa, "Ein Dichter erhielt einen Fragebogen", in der Christa Reinig auf die Frage, "Welches halten Sie für die günstigste Voraussetzung zum fehlerlosen Ablauf Ihres Schaffensprozesses", mit "Ergriffenheit", auf die Frage, "Können Sie uns ein Arbeitsmittel zur Anfertigung möglichst hochwertiger Kunstwerke nennen, das in unserem Wirtschaftsbereich nicht als Mangelware eingeplant ist", mit "Geduld" und auf die Frage, welches Material halten Sie bei der Herstellung Ihrer Kunstwerke für besonders unumgänglich", mit "Wahrheit" antwortet. Diese Antworten sind Stichworte zum Verständnis weiter Teile ihres Werkes, Stichworte, die sich mit einer der "Kleinen Chronik" entnommenen Wortreihe gut ergänzen lassen: "Gerechtigkeit", "Geduld" und "Erbarmen" (und dafür an anderer Stelle auch "Barmherzigkeit"). Für diese Stichworte ist mit Ausnahme der "Ergriffenheit" auch im Alten und Neuen Testament eine relativ hohe Frequenz auffallend.

Daß und wieweit mit einer solchen Sprache, die dabei eine Doppelfunktion erfüllen muß, nämlich Sprache der Opposition und gleichzeitig sprachliche Verschlüsselung zu sein, daß und wieweit konkretes Geschehen, politische Wirklichkeit mit einer solchen Sprache interpretiert werden können, belegt die "Kleine Chronik der Osterwoche". Daß und wieweit sich in solchem Sprachgewand auch politische Erfahrung der Studentin der Arbeiter- und Bauernfakultät verbergen kann, zeigt die Funkerzählung vom "Teufel, der stumm bleiben wollte". Denn was hier von einem Erzähler, der von sich durchgehend in der Du-Form erzählt, in einem abendlichen Teegespräch mit dem Panzer, der Rose, dem Schwan über Kain und Abel, Schuld und Sühne, Altes und Neues Testament als angebliches "Spiel" "aufgedeckt" wird, bezieht sich bis ins Wörtliche hinein auf einen konkreten Vorfall, ist dialogisierteAuseinandersetzung Christa Reinigs mit einer Schuld.

Der Vorfall ist durch den Kontext so verschlüsselt, daß man in der "himmlischen und der irdischen Geometrie" erst entdeckt haben muß, wie autobiographiehaltig das Werk Christa Reinigs ist, um hier überhaunt stutzig zu werden. Und selbst dann bedarf es noch der Hilfe der Autorin, um völlige Klarheit zu gewinnen.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Und ich saß da und war also buchstäblich in meiner Bude, die also buchstäblich herum um mich verkam, ich war ziemlich krank und konnte nicht mehr viel machen und dachte: du bist immer so triumphierend und machst immer alles richtig, und wenn du mal was falsch machst, kriegst du es wieder hin. Was hast du doch in deinem Leben alles angerichtet. Und da kam etwas ganz bestimmtes, daß ich in einer politischen Intrige einen Menschen zugrunde gerichtet hatte. Und zwar mit eiskalter Überlegung. Der trat in dieser politischen Intrige als mein Gegner auf. Und zwar gewissermaßen mieserweise. Weil es ein hundertprozentiger Kommunist war, hat er die Idee gehabt, daß Mütterchen Staatssicherheit solche Sachen in Ordnung bringt. Und plötzlich muß ich mich mit dem Staatssicherheitsdienst auseinandersetzen. Die Sache war verhältnismäßig harmlos. Es mußte also der Staatssicherheitsangehörige sich mit mir auseinandersetzen. Die Sache ging gut, weil es also eine interne Angelegenheit hatte. Ich war nämlich in der Arbeiter- und Bauemfakultätund war im dritten Studienjahr. Und da hat man schon alles rausgeschmissen, was falsch ist. Und jetzt ging es auf Tod und Leben. Wenn ich jetzt als Staatsfeind entlarvt, dann wäre ich verschwunden. Aber die Leute haben dort 'ne gewisse Realität, die wissen, was das bedeutet, die wollen aus ihrer Mitte keine solche Katastrophe haben. Und dann ging eine Intrige los ohnegleichen. Da habe ich gar nicht gewußt, wie viele Feinde ich habe, aber ich hatte auch Freunde. D.h.: ich sitze in der Mitte, und um mich rum tobt dieses ganze Seminar, und die einen sagen: Christa Reinig muß rausgeschmissen werden. Und die anderen sagen: Christa Reinig muß bleiben. Die einen sagen: die wollen wir jetzt, das ist doch ein Staatsfeind,was wollt ihr denn, die muß doch hier raus. Die andern sagen: Ihr seid wohl blöde, und so. Das ging mitten durch. Und das Ergebnis war, die haben niemals einstimmig mich rausschmeißen können, und darauf hat die Direktion mich gelassen. Und da ist folgendes geschehen. Es steht also ein junger Mann auf und sagt: Du, wenn du das gemacht hast, dann weiß ich nicht mehr, wem ich trauen soll. Und da hab' ich mich zum Worte gemeldet und habe gesagt: Also, das verstehe ich nicht. Das ist doch unsere politische Aufgabe. Wenn ich hier in ein Zwielicht gerate, mich hier zur Debatte zu stellen. Und ich kriegte recht, weil ich nämlich so schön objektiv fortschrittlich geantwortet habe. Und in dem ganzen Verlauf dieses Hin- und Herreißens habe ich mich auf diese Weise ins Recht gesetzt und die Schuld abgeschoben. Jetzt kann ich, aber damals nicht, sitzen das konnte ich nicht, ich kann nicht sagen: Ich habe einen Menschen, mit dem ich eigentlich befreundet war, vernichtet. Aber ich mußte es tun, ich mußte mich retten. Und da saß ich da in dieser Einsamkeit und war 'ne Denkmaschine und habe nun diese ganze Problematik durchgedacht und habe sie nun wieder objektiviert und in die Allegorie hineingemacht. Und schildere es, wie es dann nachher da geschildert ist. Das ist's also im Wesentlichen. Die Texte, die da gesprochen sind also fast wörtlich wie damals, aber die ganze Sache ist eben vermimmelt und vermammelt.

Autor

Auch in den späteren Hörspielen, die in der Bundesrepublik entstehen, finden sich - mit Ausnahme des "Aquarium", und indirekt selbst dort - zum Teil unübersehbare autobiographische Reflexe und Spurenelemente. Vor allem in "Tenakeh", das 1966 vom Bayerischen Rundfunk zusammen mit dem Süddeutschen Rundfunk in einer Inszenierung Heinz von Cramers gesendet wurde. Auch in diesem Fall wird die autobiographische Bedeutung erst greifbar, wenn man durch die Lektüre der "Himmlischen und der irdischen Geometrie" auf dieFährte gebracht wurde.

Zitat

In einem meiner Vorleben hieß ich Tenakeh. An diesem Namen hängt eine Assoziation von Freitod. Eines Tages stieß ich unvermutet auf eine altehrwürdige Photographie, die um das Jahr 1900 aufgenommen war. Sie zeigte einen Menschen Namens Tenokkay. Natürlich war es ein ganz und gar fremder Mensch für mich. Aber vieles, was mir in diesem leibhaftigen Leben,
das ich jetzt lebe, widerfuhr, wurde mir bei seinem Anblick deutbar.

Autor

Im Verlaufe der "Himmlischen und der irdischen Geometrie" begegnet man diesem Tenakeh dann noch einmal, und zwar in einem Lexikon-Bildband auf der weitgehend schon abgebauten Frankfurter Buchmesse, in einem "fremden, nie gekannten Gesicht." Wenn Christa Reinig sich dort losbittet, bittet, Tenakeh möge sie ihr eigenes Leben leben lassen, "dieses Leben (...), das du nun nicht mehr mit mir teilst", führt uns das mitten in eine Interpretation des Hörspiels hinein.

Wie schon in der Funkerzählung vom "Teufel, der stumm bleiben wollte" findet auch im Hörspiel eine Aufsplittung in mehrere Personen statt, in den Matrosen Boyd und den Ornithologen, Vogelprofessor und Pinquin, die gleichsam füir Ego und Alter ego der Autorin stehen. Nimmt man noch hinzu, daß sich Christa Reinig intensiver mit dem Buddhismus beschäftigt hat, ja in der Autobiographie für sich in Anspruch nimmt, Buddhistin zu sein, dann leistet das Hörspiel genau das, was auf der Frankfurter Buchmesse noch als Bitte formuliert wird: nämlich die Überwindung von "Tenakeh", und das heißt: die Überwindung einer alten, einer früheren Lebensstufe, für die "Tenakeh" steht. Und das ist zugleich der Gewinn einer neuen Lebensstufe und damit einer neuen Lebensqualität. vielleicht könnte man noch hinzusetzen, daß dies auch die endgültige Lösung aus der Seefahrer- und Indianerwelt der frühen Kinderund Jugendlektüre bedeutet.

Wie autobiographisch "Tenakeh" genommen werden darf, belegt noch eine andere Parallele zwischen Hörspiel und Biographie. In der "himmlischen und der irdischen Geometrie" erzählt Christa Reinig, sie habe sich einmal wegen einer sterbenden Katze beinahe das Leben genommen. Dem entsprechen im Hörspiel die Freitodgedanken des Ornithologen angesichts einer sterbenden Möwe. Biographische Reminiszenz, sind sie zugleich bildliche Konkretion der Tatsache, daß sich für die Autorin mit dem Namen Tenakeh stets der Gedanke an den Freitod einzustellen pflegt. Auch übrigens, als Christa Reinig den Einfall für dieses Hörspiel hatte.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Es gibt doch so manchmal, wenn man träumt, wacht man auf und denkt: nanu, das war ja so'n komisches Wort, was ich da gehabt habe. Und ich habe das in wachem Zustand, daß ich, wenn ich ganz ruhig bin, es in meinem Leben ein Wort gibt, und das heißt Tenakeh. Und ich sitze also wieder und kucke hier aus dem Fenster. Damals war der Tisch da. Und es also eine ganz verschneite Gegend, und ich habe also diese verschneite Gegend ja sehr gern. Ich bin ja so'n Schneemensch irgendwie. Ja, und kucke da runter und habe wieder diesen Blitz, das WortTenakeh und die Idee von Selbstmord, von Freitod, wie es da - und zwar völlig unvermittelt. Und ich fühle mich pudelwohl und hatte also überhaupt keinen Anlaß und überhaupt keine Spinnereien in dieser Gegend. (...) Und sitze da und habe diese Empfindung und forsche nach und denke: da ist irgendwas. Und das wurde also die Grundstimmung für ein Hörspiel, wobei ich sagen muß, daß ich bei einem Hörspiel immer eine Grundstimmung genommen habe. Entweder es regnet, oder es schneit, oder ist kalt, oder das ist Tenakeh. Und ich nehme jetzt das Wort Tenakeh, und ich nehme es in der Emotion, die es hat: eine riesige Schneelandschaft, in der also ein objektives Machtwesen ist, das Irgendetwas, das jetzt die Leute irgendwohin treibt.

Autor

Bliebe bei unserer autobiographischen Spurensicherung im Hörspielwerk Christa Reinigs noch ein letztes Hörspiel. Auch für "Wisper" gilt ein ausgesprochen autobiographischer Bezug, allerdings wiederum nur schwer und eigentlich nur mit Hilfe der Autorin auszumachen. Beim ersten Hinhören scheint Wisper, als er im Stimmenkonzert der drei Kreuzworträtselrater, die mit den Wörtern Euthanasie und Déjà-vu so ihre Schwierigkeiten haben - beim ersten Hinhörenscheint dieser Wisper ein Verwandter im Ungeiste jenes Pförtners zu sein, der in Günter Eichs "Man bittet zu läuten" (1964) latent faschistisch seinen Kropf leert.

Einspielung

Sie, mein Herr, wissen Sie denn überhaupt, wer ich bin? Ich bin Wisper. Nie gehört, den Namen. Sie lesen nicht Zeitung. Sie sehen nicht fern. Sie schlagen keine Illustrierte auf. General Wisper. Direktor Wisper. Generaldirektor Wisper. Vorsitzender des Präsidiums. Präsident. Präsident der vereinigten Stahlwerke - der Vereinigten Staaten. Der Präsident der USA John P. Wisper. Zum erstenmal in der Geschichte der Vereinten Nationen erhob sich der Präsident der USA John P. Wisper und sprach die entscheidenden Worte. Seit Menschengedenken hatte man in der politischen Öffentlichkeit nicht mehr einen solchen flammenden Redner erlebt. Die Gegenseite streckte die Waffen. Der Vertreter der Sowjetunion Wassily Smislow. Nein. Wie heißt der Kerl? Smirnow? Ist ja auch egal. Also Wladimir Schdanow machte eine abwehrende Handbewegung, als er zur Entgegnung aufgefordert wurde. Er enthielt sich klüglich der Stimme. Denn die Rede des Präsidenten Wisper erinnerte an die großen Zeiten Bismarcks, Clemencaus, Hitlers. - Wie komme ich denn dahin. Das wolln wir streichen. Noch mal zurück. Die Gegenseite streckte die Waffen. - Verzeihung, Herr Wachtmeister, ist das da drüben der Bahnhof?

Autor

Aber diese Verwandtschaft mit Eichs Pförtner ist allenfalls oberflächlich. In ihrer Funktion sind beide grundverschieden. Ist bei Eich die schier endlose Suada seines Pförtners sprachlicher Spiegel bundesrepublikanischer Unmenschlichkeit mit eingelegtem Endspiel, ist Christa Reinigs Handlungsreisender Katalysator, ist das ganze Hörspiel eigentlich sprachliches Purgatorium seiner damals knapp fünf Jahre in der Bundesrepublik weilenden Autorin.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Ich bin ja drüben in der DDR so anti gewesen, daß die endlich die Fresse von mir voll hatten, und hatten mir die Ausreise genehmigt. Offiziell für drei Tage. In Wirklichkeit haben die natürlich nicht damit gerechnet, daß ich da wiederkomme. Ist ja völlig klar. Und hier in der Bundesrepublik bin ich der bravste Bundesrepublikaner. Ich bin sofort angepaßt in allem. Ich hatte natürlich Freunde, die mir geholfen haben, sonst wäre ich ab und zu auf die Nase gefallen. Aber ich habe, also ich habe alles bejaht. Ich habe also stundenlang am Fernsehen gesessen und habe in Adenauers Beerdigung hineingeheiligt. Der große deutsche Mann wird jetzt begraben! Ich habe also stundenlang diese schrecklichen Mainzer Fastnachtsdinge - das war so herrlich und so wunderbar. Da war ich also ganz dabei. Ich war d e r Bundesbürger und wunderbar angepaßt. Und früher oder später fängt also dieser Anzug an, an mir zu schlottern. Ich kann doch nicht mehr mit allem einverstanden sein. Und das heißt, ich kann nicht mehr mit dem einverstanden sein, was ich jetzt als Meinung. Das erste was ich war, also eine der ersten Unternehmungen, die ich hier in der Bundesrepublik Deutschland - ich bin an die Hotelrezeption gegangen und wollte eine Bildzeitung kaufen, und legte einen Groschen hin. Und da hat der gelacht und gesagt: für 'nen Groschen kriegen Sie das Papier nicht mehr, geben Sie noch was zu. Und dann bin ichmit meiner herrlichen Bildzeitung abgezogen. Das ist heute überhaupt nicht mehr vorstellbar. Das war es. Der Westen war Bildzeitung und folglich Bildzeitungkaufen. Und dann gab's also Film. Endlich mal ins Kino gehen. Und mein erster Film, den ich hier gesehen habe, hatte den Titel "Mondo nudo". Hinein. Und dann kam also die Kulisse von New York. Und da bin ich in Tränen ausgebrochen und saß also da vorne und dachte: alles das gehört mir jetzt. Ich bin inzwischen nie in New York gewesen und habe auch gar keine Sehnsucht mehr, diese Stadt zu betreten. Aber damals war für mich das war alles. Und ich war also völlig angepaßt in diese Welt und früher oder später gehörte zur Normalisierung auch das Nichtmehrangepaßtsein, das Anti-Sein undsoweiter. Und jetzt mußte also alles das, was Christa Reinig, was Christa Reinig an Meinungen in sich hineingefressen und produziert hat, wieder raus. Und dieser Wisper, was der da alles zusammenguatscht, das ist das, was sich im Laufe der Zeit wie ein Dreck in mir angesetzt hat. Und insofern ist gerade Wisper unerhört autobiographisch. Also da stimmt es hundertprozentig. Da ist es ja schon fast in all dem Gequatsche drin, in den Wörtlichkeiten, die an mich rangekommen sind. Und das muß alles raus. Und das muß alles weg.

Autor

Mit "Wisper" hatte Christa Reinig ihr vorläufig letztes Hörspiel vorgelegt zu einem Zeitpunkt, an dem ein Neues Hörspiel begann, sich in die Diskussion zu spielen. Es könnte so aussehen, als hinge beides ursächlich zusammen. Aber dieser Anschein täuscht. Zwar hat man gemeint, im Falle des "Aquarium" Verbindungen mit einzelnen Elementen der Spiele Ilse Aichingers und Ingeborg Bachmanns "Knöpfe" und "Zikaden" aufzeigen zu können. Doch "erscheinen andererseits", worauf Stefan Bodo Würffel aufmerksam gemacht hat, "noch wichtiger die Bezüge zu den Formen des Neuen Hörspiels, in denen ein logischer Handlungszusanmenhang nur noch in Ausnahmefällen angestrebt" werde. Speziell die gewählte "Kreisform" (Dedner) markiert hier den Unterschied, denn obwohl die Mutter am Schluß Bruno nach Hause und Argil ins Bett schickt, geht das Spiel weiter, mündet das Spiel leicht variiert an seinem Ende in den Dialog der einleitenden Sequenz zurück.

Einspielung

Mama, horch mal. Sie spielen weiter..
Kapitän: Verdammt heiß heute.
Maat: Jawohl, Herr, verdammt heiß heute.
Kapitän: Aber der Reaktor macht sich verdammt gut.
Maat: Jawohl, Herr, verdammt gut.
Kapitän: Wir werden verdammt Fahrt haben.
Maat: Jawohl, Herr, verdammt.
Kapitän: Verdammt dicke Luft in der Robotercab.
Offizier: So dick, daß man sie essen könnte.
Kapitän: Der Teufel soll sie essen. Kurs ist PX 13 - 17. Ich bin in der Kabine.

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Auch die Science-Fiction-Elemente des "Aquarium" verweisen weniger rückwärts als vielmehr voraus auf die zahlreichen Hörspielversuche mit trivialen Genres, in deren Vorgeschichte wir in den 50er Jahren bereits Friedrich Dürrenmatts "Das Unternehmen der Wega" antrafen.

Christa Reinig selbst hat für das Ende ihres Hörspielschaffens eine ganz simple Erklärung zur Hand, die jede Spekulation in Richtung einer Hörspielkrise gegenstandslos macht.

Einspielung Gespräch Döhl/Christa Reinig

Ich bin also immer Produzent und Konsument in ein und derselben Ecke. Wenn ich zum Beispiel also in eine Buchhandlung gehe, da liegen dann diejenigen Bücher, die ich kaufe, immer in genau derselben Ecke, wo auch meine eigenen Bücher, wenn sie dort auftauchen, stehen. Also das liegt bei mir sehr dicht zusammen. Ich bin also Radiohörer. Ursprünglich hat hier immer so'n Radio gestanden. Ein ganz riesiges Ding. Und da saß ich jeden Abend undsoweiter. Und das war plötzlich weg, da war ein Fernsehen. Und damit hat sich im Grunde meine Gedankenwelt vom Radio weg entwickelt. Das ist also der ganz krasse, primitive Fakt. Das Anschaffen eines Fernsehapparats hat bewirkt, daß ich von der Hörspielproduktion weg war.

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Denkbar wäre allerdings ebenfalls, daß Christa Reinig, nachdem sie nach einer durch einen Unfall bedingten Arbeitspause in den 70er Jahren zu den großen Prosaformen fand und mit ihnen zur Möglicbkeit, unverlarvt oder kaum verlarvt von sich selbst zu sprechen, daß Christa Reinig in diesem Augenblick des Hörspiels als einer Möglichkeit, autobiographische Problematik im Spiel mit Stimmen zu objektivieren, nicht mehr bedurfte. So bleibt für den Augenblick Christa Reinig eine/r der wichtigsten Hörspielautor/inn/en der 60er Jahre, deren/dessen autobiographisch getönte Hörspiele sich vielleicht am ehesten noch den Hörspielen eines Dieter Wellershoff kontrastierend zur Seite stellen lassen. Beider Reiz liegt unter anderem darin, daß sie sich auf die Person ihrer Verfasser beziehen, auf ihre Verfasser hin interpretieren lassen. Aber - und das scheint uns zugleich der grundlegende Unterschied - während die Hörspiele Dieter Wellershoffs - überspitzt formuliert - Schritte literarischer Psychoanalyse auf dem Wege zur Therapie sind, sind die Hörspiele Christa Reinigs allenfalls Rollenspiele auf dem Wege einer literarischen Selbstfindung, schrittweise Annäherung an die Fähigkeit, von sich selbst sprechen zu können, deren Durchbruch ihr mit den großen Prosaarbeiten der 70er Jahre, in dem autobiographischenRoman "Entmannung" und vorher schon in der als Roman getarnten Autobiographie "Die himmlische und die irdische Geometrie" gelingt. Daß die Hörspiele Christa Reinigs unabhängig davon auch einfach als gute Beispiele ihrer Gattung zu hören sind, davon spricht nicht zuletzt ihre hohe Aufführungsquote, die mit 51 Sendungen für das Nachkriegshörspiel, insbesondere seit den 60er Jahren, alles andere als die Regel ist.

WDR III, 7.4.1980