Was den Hörern von Radio-Essays und Nachtprogrammen seit längerem, den Arno-Schmidt-Lesern seit dem Erscheinen von "Dya Na Sore / Gespräche in einer Bibliothek" bekannt ist, bestätigt sich anläßlicn des "Belphegor" erneut: der Dichter Arno Schmidt ist nebenberufuch spitz=findiger Filologe, und kein schlechter dazu. Wenn man - abgesehen von jenen Alt- und Neuphilologen, die nebenbei in Dichtung machen - einmal überlegt, was Dichter heute neben ihren Büchern, von denen sie ja bekanntlich nicht leben können, machen müssen, ist eine Betätigung als nebenberuflicher Filologe durchaus ungewöhnlich. Und das macht zunächst auch den Reiz des neuen Buches von Arno Schmidt aus: "Belphegor / Nachrichten von Büchern und Menschen" (453 Seiten, Stahlberg Verlag, Karlsruhe).
"Belphegor" ist kein Wort aus dem Schmidtschen Dialektlaboratorium, kein erfundenes oder gefundenes Wort aus den Schmidtschen Zettelkästen, sondern der Titel eines von Schmidt wieder aufgefundenen aus der Kenntnis selbst der Fachphilologen fast gänzlich verschwundenen Romans von Johann Karl Wezel (1747-819). Dieser Wezel wird z.B. im "Kleinen Literarischen Lexikon" (hrsg. von w. Kayser, Sammlung Dalp Bd. 15-17) überhaupt nicht erwähnt.
In Literaturgeschichten taucht er gelegentlich auf, schön eingeordnet in den "Roman des 18. Jahrhunderts" und als mittelbedeutender Autor behauptet. Nirgends aber konnte der Rezensent in den heute landes- und handelsüblichen Literaturgeschichten einen Hinweis auf den Roman "Belphegor" finden. Dabei erscheint er, wenn man bei Arno Schmidt nachschlägt, als letzter in einer Reihe von drei beachtlichen Romanen des 18. Jahrhunderts, die die von Leibniz erklärte beste der möglichen Welten als schlechterdings schlechtmöglichste demaskieren, eine Romanfolge, die sich nach Scnmidt so liest: "Travels into several remote Nations of the World; by Lemuei Gulliver..." (Swift, 1726), "Candide" (Voltaire, 1758) und eben "Belphegor" (1776).
Zwar ist auch die Germanistik seit einiger Zeit dabei, das 18. Jahrhundert wieder zu entdecken und neu zu erforschen. Was aber den Filologen Schmidt von den Berufsphilologen unterscheidet, ist seine Methode: sozusagen 'Modell'fälle mitzuteilen, ihren aktuellen Kern bloßzulegen. Dabei scheut der Filologe Schmidt dann auch nicht davor zurück, im Zusammenhang des "Belphegor" von einem "Rosenkranz aus Atombomben" zu sprechen, mischt unbekümmert Heutiges dazu, bis unübersehbar eine Nutzanwendung herauszuspringen scheint. Nun: Arno Schmidt ist Moralist.
Im Vorspiel zu "Dya Na Sore" hat Arno Schmidt so etwas wie ein Programm seiner filologischen Betätigung mitgeteilt: "Müde vom Durchwandern öder Letternwüsten, voll leerer Hirngeburten, in anmaßendsten Wortnebeln, überdrüssig ästhetischer Süßler wie grammatischer Wässerer, entschloß ich mich: Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln!" - hat er seine filologische Tätigkeit als den Versuch erklärt, "nach und nach eine umfassende Physiologie, Psychologie, Pathologie des 'Dichters' unter den Gehirntieren [zu] geben".
Wie gesagt sind diese Versuche den Hörers von Radio-Essays und Nachtprogrammen bekannt, und wie "Dya Na Sore" ist auch "Belphegor" eine Sammlung inzwischen meist gesendeter Radio-Essays. Das erklärt die Aufteilung auf Sprecher. Daß diese Methode des Dialogs und eingeblendeten Zitats, die dialektische Gesprächsform (und wer will, mag hier an die Dialoge Platos denken), daß diese Methode eine fast ideale Möglichkeit zur Sezierung und Durchleuchtung Schmidtscher 'Modelle' bietet, liegt auf der Hand (und macht die Frage unwesentlich: ob daß Schmidtsche Programm nun die Methode bestimmt hat oder ob die Eigengesetzlichkeiten des Radio-Essays Schmidt gezwungen haben, aus der Not eine Tugend zu machen).
Was nun das neue Buch Arno Schidts betrifft, so werden hier nacheinander abgehandelt der schon erwähnte Roman "Belphegor", "Herder / oder Vom Primzahlmenschen", ein Johannes von Müller, von Schidt als "Gehirntier" apostrophiert, dessen 40 Bändchen "Gesammelte Werke" (und Schweizer Geschichte), 1831-35 bei Cotta erschienen und, bis heute nicht wieder aufgelegt, nicht nur die Quelle für Schillers "Tell" waren; es werden abgehandelt der in kaum einer Literaturgeschichte noch geführten Leopold Schefer, der - abgesehen von seinem starken Einfluß auf Stifter(vgl. z.B. zu Stifters "Eisbruch" Schefers "Waldbrand") - von Schmidt als einer der "besten Meister zweiten Ranges" charakterisiert wird, und ein 'politischer Roman' eines Heinrich Albert Oppermann, betitelt: "Hundert Jahre" (und fraglos gewichtiger als die weitaus bekannteren tausend Jahre "Volk ohne Raum"). Überhaupt hat es Arno Schmidt in seinem neuen Buch häufiger mit der 'Geschichte': Müller, Oppermann - und abschließend: Massenbach, eine "Historische Revue". In dieser Revue (mit Schmidtschem Schlenker: "Sie ersparen sich 2 Parkettplätze, 1 Band Weltgeschichte und viele politische Enttäuschungen") geht es weniger um die hinterlassenen Memoiren und Denkschriften Massenbachs, vielmehr um das Vorführen des Scheiterns dieser querköpfigen, nichtsdestoweniger geistreichen Persönlichkeit des preußischen Generalstabs an teutonischer Dummheit, einer Persönlichkeit, die politisch ein- und weitsichtig schon zur Zeit der Freiheitskriege einen 'Europagedanken' zu haben wagte. (Für den Schmidt-Leser bedeutet das übrigens eine Wiederbegegnung mit dem schon in Schmidts filologischstem Buch "Fouqué und einige seiner Zeitgenossen" wiederholt auftretenden Massenbach). Daß sich hinter dieser historischen Revue Schmidtsches Engagement spürbar verbirgt, verwundert den Beobachter heutiger politischer Verhältnisse und des Verhaltens heutiger Politiker kaum, könnte sich der Fall Massenbach doch zu jeder Zeit wiederholen, zumal seine Konzeption in vielen Punkten nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Wie schon in "Fouqué und einige seiner Zeitgenossen" und in "Dya Na Sore" hat Arno Schmidt auch in seinen "Nachrichten von Büchern und Menschen / Belphegor" viel Sachkenntnis und eine Fülle von Detailkenntnissen verarbeitet. Man hat ihm nachgesagt, er mache Wiederbelebungsversuche. Auch in diesem Falle wird man von geglückten, erfolgreichen Wiederbelebungsversuchen sprechen können. Und bei dem Versuch, nach und nach eine Physiologie, Psychologie, Pathologie des Dichters unter den Gehirntieren zu geben, könnte man die "Nachrichten von Büchern und Menschen" auch als einen weiteren Band einer bewußt-subjektiven 'Literaturgeschichte' des Filologen Schmidt bezeichnen, in die er aus der Geschichte der Literatur seinen Teil hineinnimmt, in eine bewußt=subjektive Literaturgeschichte des Gehirntiers.
[Die Kultur, Jg 10, Nr. 173, März 1962, S. 14]