Wenn ein Künstler in einer Galerie zum ersten Mal ausstellt, ist es vernüftig, ihn vorzustellen. Im Falle Hans Schreiners wäre dann darauf hinzuweisen, daß er Schüler des unlängst verstorbenen Manfred Henningers war und sich auch stets dazu bekannt hat. Daß er Mitte/Ende der 50er Jahre engeren Kontakt zu jener legendären Gruppe 11 hatte, also zu Atila (heute Paris), Günther C. Kirchberger (heute Krefeld), Friedrich Sieber (Stuttgart) und Georg Karl Pfahler (heute Nürnberg) die Malerei des deutschen Südwestens an die internationale Entwicklung nach dem Kriege wieder anschlossen. Und es wäre zu betonen, daß Hans Schreiner nach seiner wichtigen informellen Werkphase einen dann sehr eigenen und eigenwilligen Weg einschlug, den er bis heute - unberührt von den schnell wechselnden Moden und Trends des Kunstmarkts - konsequent fortgeschritten ist.
Diese Konsequenz und die Konstanz seines Werkes, von der noch zu sprechen sein wird, brachten ihm Mitte der 60er Jahre das Villa-Massimo-Stipendium und in diesem Jahr das internationale Stipendium der Cité des Arts, ein Paris-Stipendium ein, vor allem aber 1985 den Hans-Molfenter-Preis. Dieser Preis ist an den Namen eines Malers gebunden, für den "nicht nur ein moralisches, sondern auch" das "künstlerische Gewissen "zählte, das durch nichts erschüttert werden" dürfe, eine Haltung, die auch für Hans Schreiner charakteristisch ist.
Will man sie technisch beschreiben, umfaßt die heutige Ausstellung Hans Schreiners Acrylbilder und Aquarelle. Das klingt weitgestreut und ist dennoch bei Hans Schreiner gar nicht so weit auseinander, wenn man genauer hinsieht. Denn seine Aquarelle versuchen nicht den flüchtigen Augenblick festzuhalten. Sie entstehen nicht spontan, eher langsam. Dabei verwenden sie die Farben weniger lasierend, eher deckend, in einem Auftrag, der nach dem Trocknen aufhellt und gelegentlich durchaus dem Pastell ähnliche Wirkungen erzielt. Auch mit den wasserlöslichen Acrylfarben arbeitet Hans Schreiner seltener lasierend, meist pastos, was die von ihm gewollte haptische Wirkung der Farbe ergibt. Verkürzt ließe sich sogar sagen, daß die Aquarelle Hans Schreiners, an der Grenze zur Gouache, auf der einen und die Acrylbilder auf der anderen Seite lediglich technische Varianten einundderselben sinnlichen Farbauffassung sind. Daß dabei Schreiners Arbeiten auf Papier, die Aquarelle oft experimentell erproben, was die späteren Leinwandbilder durchführen, bestätigt diese Nähe, die nicht nur technisch, sondern auch thematisch gegeben ist. Tema con variazioni also formal wie inhaltlich.
Damit komme ich zur inhaltlichen Diskussion der Schreinerschen Arbeiten, zur Frage der Landschaft. Und hier ist Aufmerksamkeit geboten. Denn Hans Schreiner zeichnete, aquarellierte, malte Landschaften, 1ange bevor dieses Sujet "als Farb- und Ausdrucksträger" (Wirth, S. 178 ff.) Ende der 70er Jahre plötzlich wieder populär wurde. Und er ging bei seinen Arbeiten nicht von realen Landschaften aus, die er seinen Intentionen entsprechend abstrahierte oder ummodelte. Seine Landschaften entstanden vielmehr und entstehen im Atelier aus abstrakt-materialen Malvorgängen, sind - als Ergebnis dieser Malvorgänge - eher ideale Landschaften, Idee von Landschaft, landschaftliche Ideation.
Es gibt eine Bleistiftzeichnung Schreiners aus dem Jahre 1968 (Werkmonographie, S. 122), die Hans Schreiner "Eine Landschaft entsteht" getitelt hat. Sie führt im Doppelsinn vor, was Landschaftrnalerei hier bedeutet:
Hans Schreiner hat seine Kunst einmal auf die Formel gebracht, er suche eine Entsprechung zwischen dem, was in ihm sei, und von dem, was außerhalb ihm stehe. Bezogen auf diese Formel wären die Bilder und Aquarelle der heutigen Ausstellung sichtbare Gestalt, Erscheinung dieser Entsprechung, Außenwelt einer Innenwelt, deren Spiegelung moralischem wie künstlerischem Gewissen verpflichtet ist.
Nach dieser eher allgemeinen Charakteristik des Schreinerschen Werkes möchte ich jetzt konkret ansetzen, und zwar bei einem kleinen Aquarell, das Ihnen von der Einladung her bereits vertraut ist. Ich gehe dabei davon aus, daß Sie die Abbildung dieser Arbeit, die auch in der Ausstellung hängt, genauer betrachtet haben. Wähle diese Arbeit aber auch, weil sich das, was ich zu ihr sagen möchte, anschließend von jedem nachprüfen läßt, hier in der Ausstellung oder Zuhause.
Eine einlässige Analyse, das Überziehen eines Rasters läßt schnell ablesen, wie komponiert - nicht konstruiert! - dieses Aquarell ist. Deutlich zeigt es eine Doppelstruktur. Vertikal in der vulkanschlotähnlichen Zäsurierung der dominierenden roten Fläche, die, unten breiter, sich allmählich verjüngt und in einem Wasser- oder Lavabecken endigt. Horizontal in der Kontur eines an Gebirge erinnernden Horizonts, über dem sich - von links nach rechts gelesen - ein Riß, ein wolkenähnliches Gebilde befindet und über den ein Regenbogen sich schlägt. Unter letzterem verliert sich in der Diagonalen die Andeutung einer Röhre, eines Schlotes.
Das Bildgeschehen findet also links der senkrechten und deutlich oberhalb der waagerechten Mittelachse statt. Damit wäre die ästhetische Spannung dieses Aquarells eigentlich schon erkannt und beschrieben. Berücksichtige ich noch das dominante Rot der Landschaft, das Braun des Firmaments, sind die Möglichkeiten, mich dieser Arbeit analytisch zu nähern, zunächst erschöpft.
Begreife ich sie aber als Außenwelt einer Innenwelt, muß ich - über die Komposition hinaus - noch auf anderes achten, konkret auf das, was mein Auge zu der Formenwelt des Aquarells assoziiert.
Das wäre zum einen die schon als Wolke gedeutete Form, die genau auf der senkrechten Mittelachse liegt, was ihr bereits kompositorisch Gewicht gibt. Links von ihr wäre es der Riß im Firmament, der sich auch als Schnitt, Schnittwunde, als Verletzung deuten ließe. Rechts von ihr wäre es der Regenbogen, seit der Renaissance Wasserzeichen des melancholischen Künstlers, aber auch Brücke zwischen Himmlischem und Irdischem und zugleich Symbol für die Grenzen menschlicher Naturerkenntnis.
Der auffällig hoch liegende Horizont des Aquarells läßt ihn kaum überwindbar erscheinen. Wobei mir drei umgangsprachliche Assoziationen hilfreich scheinen.
So sagen wir einmal: etwas erscheine am Horizont, der berühmte Silberstreif zum Beispiel. Bei Hans Schreiner erscheinen hie Risse, Wolken, Rauchzeichen, Regenbögen.
Wir sagen aber auch: jemand überschreite den/seinen Horizont. In diesem Fall assoziiert Horizont Weite, Unendlichkeit. Aber das braune Firmament dieses Aquarells wirkt eher wie eine Mauer, eine undurchdringliche Wand.
Drittens sagen wir noch, daß etwas über unseren Horizont gehe, wenn wir etwas nicht begreifen wollen oder können. Auch dies läßt sich vor allem auf die letztjährigen Arbeiten Hans Schreiners ummünzen, wenn wir begreifen, daß sie uns etwas zu verstehen geben wollen, das einzusehen wir (noch) nicht gewillt sind.
Gehe ich davon aus, daß eine so gelesene, oder vielleicht besser: daß eine so meditierte Landschaft Ergebnis eines zunächst abstrakt-materialen Malvorgangs ist, daß dieser abstrakt-materiale Malvorgang zugleich von der Innenwelt des Künstlers gesteuert wird, sein Ergebnis also als Außenwelt einer Innenwelt betrachtet werden kann, dann habe ich noch einen für das Verständnis der Schreinerschen Arbeiten gewichtigen Faktor außer Acht gelassen: den Betrachter selbst. Dieser Betrachter ist bei den Arbeiten Hans Schreiners Landschaften konfrontiert, die menschenleer sind. Der Mensoh also nicht in sondern vor einer Landschaft, und dabei nicht vor einer natürlichen, wie auch immer abgebildeten, sondern vor einer imaginierten, aus einem Malprozeß resultierenden Landschaft.
Was dies in Konsequenz meint, kann ein Vergleich mit romantischen Landschaften verdeutlichen, konkret mit Landschaften Caspar David Friedrichs, die dem Betrachter des Bildes im Bild selbst einen Betrachter vorschalten, sei dies der "Mönch am Meer", der "Mondaufgang am Meer", "Zwei Männer, den Mond betrachtend oder der "Wanderer über dem Nebelmeer". Diese Vermittlung fehlt im Falle Hans Schreiners. Der Betrachter seiner Bilder steht unvermittelt vor Landschaften, die er nachdenklich betrachtet, über die er betrachtend nachdenken sollte. Als Außenwelt einer Innenwelt sind Schreiners Landschaften Vorschläge, ja Aufforderung zu meditativem Nachvollzug, zielen also wiederum auf Innenwelt. Sie bieten ihrem Betrachter, mit einem Wort Schreiners, einen "Emotionsraum" an, dessen Formenwelt sich lesen läßt als Himmel und Erde, als Vulkan und Wolke, als Rauchzeichen und Regenbogen, als Baum oder Mauer, als Düne oder Berg, als Spur oder Weg. Wobei die Formvorgaben des Künstlers nicht immer eindeutig sind, oft unterschiedliche Lesungen zulassen. (So hängt in Schreiner Atelier ein Bild, das sich durchaus auch als erotische Landschaft lesen ließe).
In der Zuordnung der Landschaften zueinander, in der Werkentwicklung Schreiners beobachte ich dabei zunehmende Skepsis. Ein Überschreiten des Horizonts scheint kaum mehr möglich. Denn die Weite des Himmels wäre letztlich unverwundbar. Wunden setzen feste Körper voraus. Der Himmel, das Firmament also nicht als Raumtiefe, sondern als Mauer. Dem entspricht, daß Schreiner in letzter Zeit die Farben oft dicker aufträgt, so daß bei richtiger Ausleuchtung reliefartige Wirkungen, Schattenwürfe entstehen, die durchaus etwas Bedrohliches haben. In ihrer reliefartigen Struktur rücken aber - übertragen gesprochen - Himmel und Firmament gleichsam als unüberwindliche Mauer auf den Betrachter zu. Aus den Landschaften noch ohne Menschen werden Landschaften wieder ohne Menschen. Daß sie beides sein können, resultiert aus der Komplexität der Schreinerschen Bilder. Daß sie auch unser aller Bedrohtsein implizieren, erweist sie als existentiell.
Ich habe die Arbeiten Schreiners lange Jahre als ästhetische Weltentwürfe am Anfang gelesen, den Maler als Erfinder von Landschaften verstanden, die dem Betrachter eine andere Schöpfung in Erinnerung bringen sollten: eine Erde zwar nach Sündenfall und Sintflut (auch dabei ist der Regenbogen unübersehbar), aber doch eine Welt mit Chancen, so der Mensch sie nur vernünftig wahrnimmt. Diese Weltentwürfe haben für mich in den letzten Jahren etwas Endzeitliches bekommen. Die Schreiners Bildern jetzt häufiger eingeschriebenen Risse stellen zwar auch die Frage, was denn dahinter sei; aber sie sind, wo sie Rotes dahinter aufscheinen lassen, auch und immer deutlicher Verletzungen, Wunden, lassen sich zunehmend als der zum Bild gewordene Riß in der Schöpfung verstehen, von dem vor über 150 Jahren schon Georg Büchner sprach. Das muß nicht so sein, das kann aber sein. Graduell lassen sich die Gemälde und Aquarelle Schreiners, die hier zu besichtigen sind, verschieden lesen. Tendentiell kaum. In jedem Fall aber wollen sie nachdenklich stimmen, zum meditativen Nachvollzug anhalten. Erst wenn die in die Außenwelt des Bildes projizierte Innenwelt des Künstlers in die Innenwelt eines Betrachters zurückgeworfen wird, wird Kunst zum Prozeß, funktioniert ästhetische Kommunikation. Zu ihr aber ist letztlich jeder selbst aufgerufen.
[Kunstverein Augsburg, 14.1.1987]