Ein häufiger zitiertes Gedicht Goethes über Gedichte ließe sich allgemein auf Kunstwerke übertragen Danach wären Kunstwerke gemalte Fensterscheiben, die sich nicht dem Philister auf dem (Kunst) Markt sondern nur dem Besucher der Kapelle, also dem wirklichen und ernsthaften Betrachter erschließen. Nur ihm wird - wie der zentrale Satz des Gedichts formuliert - der Schein des Kunstwerks bedeutend. Es ist die Mehrdeutigkeit des Wortes Schein, die Goethes Auffassung so interessant macht Denn scheinen kann - ohne die Bedeutungsnuancen im einzelnen durchzuspielen - einmal leuchten, einleuchten heißen Es kann aber auch heißen, daß es dem Betrachter nur so scheint, daß es den Anschein hat. Vielleicht, könnte man vermuten; macht gerade die Spannung eines derartigen Bedeutungsspektrums das Eigentümliche des Kunstwerks aus. In Annäherung ließe sich dies auch auf die Arbeiten Johannes Schreiters, speziell einige Grafiken übertragen. Nicht gemalte Fensterscheiben, deuten ihre in eine Scheinräumlichkeit eingespannten, angerissenen; angebrannten Textflächen zugleich den historschen Abstand an: der ästhetische Rahmen umfaßt Zerstörbares und Zerstörtes, der ästhetische Raum stellt sich in Frage, schon äußerlich durch die Spuren der Zerstörung, die sich in der Spannung von Redefragment über Kunst zu Konzernbilanz auftut So gesehen greift Schreiter sogar eine Antithetik wieder auf, die die Klassik versöhnen wollte, die barocke Antithetik von memento mori, vanitas vanitatis mundi auf der einen und einem carpe diem auf der anderen Seite, das Schreiter zur puren Bilanz verflacht. Schreiters Grafiken demonstrieren diese Antithetik jedoch nicht inhaltlich, sondern (bedingt durch ihren Zitatcharakter) als künstlerisches Dilemma und ästhetisches Programm, als Antithetik von Konstruktion und Destruktion. Sie bauen einen Kunstraum auf und zeigen ihn als Scheinrahmen. Sie spannen diesem Scheinrahmen die Textfläche ein, die sie gleichzeitig zerstören Sie deuten die Erkenntnisfunktion des Bildes an und bezweifeIn zugleich seinen Erkenntniswert Und sie bedeuten so nicht mehr den edlen Schein, sondern die Frage nach einer Kunst, die sie in Frage stellen.
[1975/76]
Siehe auch unter:
Galerie
und Edition Geiger >