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Reinhard Döhl | Kurt Schwitters' "Ursonate". Text als Partitur (3)

Die Bedeutung des Schwitterschen Gesamtwerks ist heute nicht mehr umstritten. Unterschiedlich gewichtet werden jedoch noch immer die einzelnen Werkteile. Und durchaus uneinheitlich bewertet wird die Rolle, die Schwitters in der Geschichte der akustischen Poesie spielt.

Obwohl Kurt Schwitters von 1919 bis 1947 immer wieder zur Geschichte der Lautpoesie beigetragen hat, konzentriert sich die theoretische und praktische Diskussion vor allem auf die "Ursonate" oder "Sonate in Urlauten" oder - wie das Tondokument ansagte - "Sonate mit Urlauten".

Auch in der folgenden Stunde ist vor allem von ihr zu reden. Und das heißt konkret zunächst vom eingespielten Tondokument. Denn dieses wurde nicht, wie in der Literatur immer wieder abgeschrieben wird, in Frankfurt am Main sondern am 5.5.1932 in Stuttgart aufgezeichnet. Diese Aufzeichnung, für die eine Sendung bisher nicht nachgewiesen werden kann, war fraglos auch Werbung in eigener Sache. Denn etwa gleichzeitig hatte Schwitters die 24. und zugleich letzte Nummer seiner Zeitschrift "Merz" erscheinen lassen. Und die enthielt, in der Typographie von Jan Tschichold, neben "Erklärungen zu meiner Ursonate" und "Zeichen zu meiner Ursonate" in endgültiger Fassung die Partitur der "Ursonate", an der ihr Verfasser 10 Jahre lang gearbeitet und gefeilt hatte.

Eine zweite Vorbemerkung betrifft den Umfang dieses Tondokuments. Denn dieses umfaßt nicht, wie ebenfalls in der Literatur über Schwitters immer wieder abgeschrieben wird, ausschließlich das "scherzo". Es enthält vielmehr Ausschnitte aus der "einleitung" und dem "ersten teil", ein Drittel des "zweiten teils", des "largo", und mit "scherzo" / "trio" / "scherzo" den kompletten "dritten teil" der "ursonate", so daß der damalige Rundfunkhörer im Querschnitt etwa den zehnten Teil der "Ursonate" hat hören können vorausgesetzt, daß er damals gesendet wurde.

Eine dritte Vorbemerkung betrifft die Rolle, die Raoul Hausmann bei der Entstehung der "Ursonate" gespielt hat. Hausmann hat immer wieder betont, daß ein "Plakatgedicht" von ihm der Ausgangspunkt für die "Ursonate" gewesen sei.

Erst trug Schwitters mein Gedicht im "Sturm" als "Portrait Raoul Hausmann"vor, später, gegen 1923, hatte er es stark ausgebaut in 50facher Wiederholung und endlich 1932 hatte er das Scherzo "lanke trgll und andere Teile dazu erfunden und das Ganze als "Urlautsonate" in seinem "MERZ" Nr. 24 veröffentlicht.

Obwohl Schwitters den Anstoß durch Raoul Hausmann stets betonte, hat Hausmann seinen Beitrag zur "Ursonate" noch einmal quantifiziert:

Aber Sie sollten sich mal ansehen, was Schwitters mit meinen Lautgedichten von 1918 (die als Plakate erschienen sind) angefangen hat. Er lernte sie 1921 anläßlich unserer Soiree Anti-Dada-Merz in Prag im September 1921 kennen und seit dann hat er nie mehr aufgehört, "Fmsbwtäzäu" etc. als zuerst "Portrait Raoul Hausmann" und später 173 mal als die größere Hälfte seiner "Ursonate" von 1932 zu verbreiten.

Diese Bemessung seines Beitrags, eine falsche Datierung des "scherzos" sowie die scharfe Kritik an der gewählten Sonatenform haben eine sachliche Auseinandersetzung mit der Schwitterschen Leistung eher erschwert. Haben Kritiker wie Helmut Heißenbüttel zum Beispiel veranlaßt die "Ursonate" ausschließlich mit Hausmanns "Optophonetischen" und "Plakatgedichten" zu vergleichen und für letztere Partei zu ergreifen. Dabei wurden Spuren verwischt, Hinweise überlesen, die gewichtig genug sind, die Diskussion noch einmal zu eröffnen.

Kritisierte Hausmann: Die "Ursonate" von Schwitters ist ein Irrtum, denn sie ist nach den Regeln eines Musikstücks konstruiert und macht den Eindruck einer Imitation einer klassischen Sonate nach den Gesetzen der Harmonie - kritisierte Hausmann derart und aus seiner Sicht verständlich die Verwendung einer traditionellen Form, reklamierte Hans Arp für die "Ursonate" musikalische Zeitgenossenschaft: In der Krone einer alten Kiefer am Strande von Wyck auf Föhr hörte ich Schwitters jeden Morgen seine Lautsonate üben. Er zischte, sauste, zirpte, flötete, gurrte, buchstabierte. Es gelangen ihm übermenschliche, verführerische, sirenenhafte Klänge, aus denen eine Theorie entwickelt werden könnte ähnlich derjenigen der Dodekaphoniker.

Erinnerungen dieser Art sind natürlich nur mit Vorsicht als Argument zu verwenden, ein gemeinsamer Aufenthalt in Wyck auf Föhr zum Beispiel bisher nicht nachweisbar. Die beiden bekannten Ferienaufenthalte Arps auf norddeutschen Inseln, mit Sophie Taeuber 1920 auf Sylt, mit Hannah Höch und Schwitters 1921 auf Rügen [allerdings gibt Höch 1923 an, zit. Ohff: Höch, S. 27!] datieren noch vor Beginn der Arbeit an der, wie sie zunächst heißen sollte, "Sonate in Urlauten" seit dem September 1921. Andererseits kannten sich Schwitters und Arp seit Ende 1918, mit Sicherheit seit 1919, haben sich in der Folgezeit häufiger getroffen und 1923 in Hannover auch intensiver zusammengearbeitet. So daß Schwitters über Arp fraglos auch Kenntnis von Zürcher Dada-Experimenten gehabt hat. Ein erster hier einschlägiger Text, ein "Simultangedicht", dessen Typoskript mit dem 5. Dezember 1919 datiert ist, verweist deutlich in diese Richtung.

Weitere Gedichte wie die beiden für die Prager Soiree ausgewählten Gedichte "Cigarren (elementar)" und ein "Alphabet von hinten", belegen, daß Schwitters bereits 1921 das Material seiner Gedichte auf Silben, einzelne Buchstaben, das Alphabet reduziert hatte, als er anläßlich der Vorbereitung dieser Soiree auch Hausmanns "Plakatgedichte" kennen lernte.

Wenn Schwitters 1924 in seinem berühmten Manifest "Konsequente Dichtung" schreibt: Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe, wenn er an anderer Stelle ergänzt: Man kann z.B. das Alphabet, das ursprünglich bloß Zweckform ist, so vortragen, daß das Resultat Kunstwerk wird, wenn er schließlich für eine "Konsequente Dichtung" zusammenfaßt:

Die konsequente Dichtung ist aus Buchstaben gebaut. Buchstaben haben keinen Begriff. Buchstaben haben an sich keinen Klang, sie geben nur Möglichkeiten zum Klanglichen gewertet werden (sic, R.D.) durch den Vortragenden. Das konsequente Gedicht wertet Buchstaben und Buchstabengruppen gegeneinander, dann war diese konsequente Dichtung bereits vor der Vortragsreise nach Prag angelegt und in Ansätzen entwickelt.

Hausmanns "Plakatgedichte", ihr Vortrag in Prag können also allenfalls den Anstoß zu einem weiteren Buchstabengedicht, eben zu einem "Portrait Raoul Hausmann", gegeben haben. Portraitgedichte für seine Freunde, aber auch auf Bilder hat Schwitters seit 1919 in größerer Zahl geschrieben und ihre Untersuchung ist nachwievor ein Desiderat der fächerübergreifenden Forschung. Schwitters Portraitgedichte lassen sich als Versuche des bildenden Künstlers verstehen, mit Hilfe von Sprache zu portraitieren, ein für Schwitters bezeichnender Kunstartenwechsel.

Im augenblicklichen Zusammenhang sind dabei zwei Gedichte von besonderem Interesse, ein "Portrait Rudolf Blümner", des bedeutenden Vortragskünstlers des Sturm-Kreises um Herwarth Walden, und eben das "Porträt Raoul Hausmann".

Portraitierte Schwitters in seinem Gedicht 1919 Blümner noch ausschließlich als den bedeutenden Vortragskünstler, konnte er ihn im Juli 1921, also noch vor der Prag-Reise, auch als einen bedeutenden Vertreter akustischer Poesie kennen lernen. Damals veröffentlichte "Der Sturm" nämlich nicht nur Blümners bedeutendes absolutes Gedicht "Ango laina", sondern gleichzeitig den theoretischen Aufsatz "Die absolute Dichtung", in dem sich Blümner gegen die 'willkürliche' Gestaltung der Dadaisten absetzt und für seine Lautdichtung reklamiert, was den Gesamtkünstler Schwitters faszinieren mußte:

Wie der Maler Farbformen nach Belieben, also unabhänglg von einer Bedeutung, zur Gestaltung zusammensetzt, der Komponist Töne rhythmisch nach vollkommener Freiheit aneinanderreiht, so stelle ich Konsonanten und Vokale nach künstlerischen Gesetzen zusammen.

Aber noch ein Zweites mußte Schwitters an Blümners Ausführungen interessieren, die Gewichtung nämlich des Vortrags für die Entstehung der Lautdichtung:

Meine Dichtung ist nicht nur zusammen mit der rhythmisierten Sprechmelodie entstanden, sondern, so merkwürdig das scheinen mag, nach Entstehung von Sprechmelodie und klanglichem Rhythmus. Ein Gefühlsinhalt, der bereits seine Gestaltung durch rhythmisierte Sprechmelodie gefunden hatte, verlangte die Bereicherung durch die Verschiedenartigkeit von Geräuschen und Tönen.

[Vgl. die Unterscheidung von Sing- und Sprechstimme im Falle des "Pierrot Lunaire" Schönbergs.]

Das zweite, für den heutigen Zusammenhang wichtige Portrait ist das "Porträt Raoul Hausmann", dessen Existenz und Vortrag im "Sturm" durch Kurt Schwitters zunächst nur durch Aussagen Hausmanns belegt sind. Schwitters jedenfalls hat dieses "Portrait" zu Lebzeiten nicht veröffentlicht. Allerdings gibt es gute Gründe, anzunehmen, daß wir es bei einem in der Pariser Sammlung Doucet befindlichen handschriftlichen "Gedicht" mit eben diesem "Porträt Raoul Hausmann" zu tun haben.

Dazu sind zunächst die beiden "Plakatgedichte" Hausmanns zu zitieren, undzwar in der Reihenfolge, die für Schwitters von Bedeutung wurde. Das erste Plakat enthält in Kleinschrift die beiden Buchstaben- und Satzzeichenfolgen

fmsbwtözäu / pggiv-..?mü;

das zweite in Groß- und Kleinschrift die Satzzeichen und Buchstabenfolgen

OFFEAHBDC / [in Großschrift] BDQ [eine nach unten weisende Hand] [zwei Kommata] [in Kleinschrift die Buchstaben] qjy [in Großschrift den Buchstaben] E [und ein abschließendes Ausrufezeichen].

Aus dem Bericht Hausmanns wissen wir, daß Schwitters auf der Rückreise von Prag, und fraglos angeregt durch die Hausmannsche Interpretation der "Plakatgedichte" plötzlich anfing, mit den Buchstabenfolgen zu improvisieren:

Kurt begann gleich morgens: "fmsbwzäu, pgiff, pgiff, mii" - er ließ den ganzen Tag nicht mehr locker [...]. Auf dem Rückweg begann Schwitters wieder: "fms" und "fms" und immer wieder "fmsbw"; es wurde ein bißchen viel.

Das klingt auf den ersten Blick wie die endlose Wiederholung eines Ohrwurms, ist aber mutmaßlich, was Hausmann nlcht bemerkt hat. eher ein zunächst unbewußtes akustisches Entwickeln einer Sprechmelodie, ganz im Sinne Blümners, nach dem die Lautdichtung nicht nur zusammen mit der ryhthmisierten Sprechmelodie ent-steht, sondern [...] nach Entstehung von Sprechmelodie und klanglichem Rhythmus. Das nur handschriftlich erhaltene, mutmaßliche "Portrait Raoul Hausmanns" wäre demnach nicht die phantasievoll akustisch zu realisierende Partitur, sondern das Notat eines akustisch entwickelten Portraits. Entsprechend deutlich fällt denn auch bereits optisch der Unterschied zwischen den beiden Hausmannschen "Plakatgedichten", aus dem zweiten verwendet Schwitters nur die letzten vier Buchstaben, und dem mutmaßlichen Portrait aus:

Gedicht

B
f
bw
fms
bwre
fmsbewe
beweretä
fmsbewetä
p
beweretäzä
fmsbewetäzä
p
beweretäzäu
fmsbeweretäzäu
pege
fmsbewetäzäu
pegiff
Qui-E

Ich kann und will hier die Entstehungsgeschichte der "Sonate in Urlauten" im Einzelnen nicht nachzuzeichnen, doch sind einige Aspekte bemerkenswert. Anders als Blümners Großunternehmen "Ango laina" ist sie nicht aus einem Guß entstanden, sondern in einer Folge kleinerer Einzeltexte, bei denen Schwitters zunächst nicht einmal an eine spätere Zusammenfügung dachte. Es sind dies neben dem mutmaßlichen "Portrait Raoul Hausmann" vor allem das schon in Prag vorgetragene "Alphabet von hinten" sowie als Seitenstück der Alphabettext "Z A (elementar)", die für den "schluß" der "ursonate" wichtig werden. Einer Bemerkung der "Allgemeinen Erklärungen" von 1927 folgend dürfen wir annehmen, daß auch das "Register (elementar)", ein weiterer Alphabettext, zum ursprünglichen Textcorpus zu zählen ist, zu dem ferner die einzeln, z.T. ohne Überschrift veröffentlichten Texte "Lanke trr gll" (1923), das spätere "scherzo", die spätere "ablösung" "Grimm glimm gnimm bimbimm" (1923) und die spätere "kadenz" "Priimiitittiii" (1927), sowie einzelne Textteile gehören.

Diese oft als elementar ausgewiesenen Texte bzw. Teiltexte verweisen aber über Hausmann hinaus noch auf eine weitere Spur in der Geschichte der Lautdichtung, die für Schwitters ebenfalls von Bedeutung gewesen sein könnte, nämlich auf den russischen Futurismus.

Die Schwittersforschung hat diesen Aspekt bisher vernachlässigt, so daß nicht sicher entschieden werden kann, auf welchem Wege Schwitters von den hier einschlägigen russischen Experimenten erfahren hat.

Als Informationsträger in Frage käme natürlich wiederum Hans Arp. Denn durch Hugo Balls Bekanntschaft mit Kandinsky noch in München, bei der Hochschätzung Kandinskys durch die Zürcher Dadaisten ist es leicht vorstellbar, daß sie über Kandinsky auch von den sprachlichen Experimenten der russischen Futuristen erfahren hatten, speziell der von ihnen entwickelten Theorie einer transrationalen Sprache, "Zaumnyj jazyk". Daß ihnen durch Kandinsky Beispiele bekannt waren einer Poesie, die verstanden wurde als eine nicht primär auf der Bedeutung gründende Kombination von Lauten und Worten mit abgeschwächter Semantik (Roman Jakobsen). Ein denkbarer Anstoß auch für die Ballschen "Verse ohne Worte" oder die "wolkenpumpen" Hans Arps wäre hier einmal zu überprüfen.

Der zwelte und wahrscheinlichere Weg, auf dem Schwitters von den russischen Futuristen erfahren haben könnte, ist seine Bekanntschaft mit El Lissitzky, die mit spätestens 1922 zu datieren ist. Aus diesem Jahr stammt auch die collagierte Merzzeichnung "Moskau" mit deutlicher Anspielung auf Kasimir Malewitsch, dessen suprematistisches Programm vorsah, alles Gegenständliche aus der Malerei zu verbannen, das Bild auf die reine Fläche und das Quadrat als bildneutrale Nullform zurückzuführen. Was ja den Experimenten der russischen futuristischen Dichter, aber auch Malewitschs eigenen Versuchen entsprach, Gedichte aus den Elementen von Vokalen und Konsonanten zu komponieren.

Als 1923 in Hannover Lissitzkys Mappe "Die plastische Gestaltung der elektromechanischen Schau 'Sieg über die Sonne"" erschien, mußte dieser Entwurf einer visuell-akustischen Schau den Merzgesamtkünstler Schwitters außerordentlich reizen. Vor allem aber konnte er im Vorwort Lissitzkys, wie schon zitiert, nachlesen:

Für die erste Aufführung dieser elektro-mechanischen Schau habe ich ein modernes Stück, das aber noch für die Bühne geschrieben ist, benutzt. Es ist die futuristische Oper: "Sieg über die Sonne" von A. Krutschonjch, dem Erfinder des Lautgedichtes und Führer der neuesten russischen Dichtung. Die Oper wurde 1913 in Petersburg zum erstenmal aufgeführt. Die Musik stammt von Matjuschin (Vierteltöne). Malewitsch malte die Dekorationen (der Vorhang = schwarzes Quadrat).

Es ist also leicht vorstellbar, daß Schwitters über Lissitzky zumindest die Lautgedichte kennen lernte, die Krutschonjch für diese Oper geschrieben hatte, darunter "Das erschrockene Spiesserlied" und "Das Kriegslied".

Wenn von der Kritik bis heute, auch hier Raoul Hausmann folgend, immer wieder vorgebracht wird, Schwitters "ursonate" (wie allgemein seine Beiträge zur Lautdichtung) gingen nicht vor die Sprache zurück, seien parasemantisch und nicht selbstorganisierter Klang (Schuldt), ist dies richtig und falsch zugleich. Natürlich ist eine Lautpoesie vorstellbar und wird so auch von François Dufrêne oder Henri Chopin und anderen praktiziert, bei der die Artikulationsorgane ausschließlich instrumental eingesetzt werden. Was im Resultat dann eher Musik als Poesie ist.

[O-Ton: Beispiel]

Entwickelt sich dagegen die Lautdichtung aus reduziertem Sprachmaterial, aus Buchstaben, Buchstabengruppen, ihrer Kombination und Artikulation, bleibt sie selbst in ihren extremen Ausformungen immer noch der Sprache verhaftet.

die verwendeten buchstaben, bestätigt dies Schwitters in den "zeichen zu meiner ursonate", die verwendeten buchstaben sind wie in der deutschen sprache auszusprechen, ein einzelner vokal ist kurz, zwei gleiche nicht doppelt, sondern lang, sollen aber zwei gleiche vokale doppelt gesprochen werden, so wird das wort an der stelle getrennt.

Man sollte in diesem Zusammenhang auch die Diskussion nicht überlesen, die Schwitters 1927, also dem Jahr, in dem er endgültig an die Notation seiner "ursonate" geht, brieflich mit Walter Borgius führt. Eine Diskussion, die seinen Entwurf einer "Systemschrift" begleitet in der Forderung einer optophonetischen Schreibweise:

Ein neues Alphabet muß schon deshalb geschaffen werden, weil das alte übliche mangelhaft ist. Es fehlen die Zeichen für ng, sch, ch, es gibt keine unterschiedlichen Zeichen für Gaumen r und Zungen r, für ch in noch und ch in mich, für j in jeder und j in jamais, für th weich und th hart (englisch), für s hart und s weich. Dafür sind doppelte Zeichen für gleiche Laute vorhanden. Und es gibt noch viele Mängel. Von der Rechtschreibung gar nicht zu reden.

Man sollte also nicht weiter kritisieren, daß man es bei der "ursonate" immer noch mit Sprache zu tun habe statt mit purem Laut, sondern zu verstehen suchen, daß Schwitters seinerzeit bei der Entwicklung einer konsequenten Dichtung nicht weiter kommen konnte und wollte als bis zu einer Kombinatlon von Buchstaben und Buchstabengruppen mit abgeschwächter Semantik. Wobei es zwar nicht beweisbar aber durchaus wahrscheinlich ist, daß er sich hier - soweit er von ihren Experimenten wußte - an den russischen Futuristen mit orientiert hat.

Die Kombinationsform, die er für seine akustischen Partikel wählte, war die Form der Sonate, also eines Musikstücks. Das ist im Grunde nicht so konservativ, wie Hausmann und ihm folgend viele andere kritisiert haben. So gibt es durchaus ernsthafte Bemühungen um eine moderne Sonate, z.B. bei Busoni oder Charles Ives, Versuche, an alte Tonarten anzuknüpfen oder neue Systeme, vor allem serieller Techniken zu erfinden. Und die Zahl der Komponisten, die hier zu nennen wäre, ist so klein nicht.

Aber nicht an ihnen hat sich Schwitters bei seinem Bemühen um die Sonate orientiert, sondern an einer alten Harmonielehre. Nur deshalb ist die "ursonate" zum viel kritisierten Fehlversuch geraten, der, wie Bernd Scheffer einwendet, dennoch nicht irrelevant ist,

denn es bedurfte eines solchen Experiments, um eine extreme Grenze der phonetischen Poesie im Hinblick auf die traditionelle Musik zum Vorschein kommen zu lassen. Die Buchstaben in der Druckfassung der "Ursonate" lassen sich nicht in Noten übertragen, und die Erläuterungen von Schwitters bezüglich der Ähnlichkeit zur Musik [...] werden von ihm selbst bei seinem Vortrag nicht eingehalten.

Von einer mißlungenen Rettung der Sonate spricht auch Manfred Peters in einem Aufsatz über die "Ursonate als neue Vokalmusik". Aber Peters wertet den Widerspruch zwischen einer veralteten musikalischen Form und konsequenter Dichtung als eine Dialektik, die den Verlauf der Sonate als Suche nach der Synthese zwischen veralteter Form und befreitem Material bestimmt.

Und Peters schließt: Die Bedeutung der Freisetzung muß umso höher veranschlagt werden, als Schwitters dazu Parameter anbietet, die bis zum damaligen Zeitpunkt streng und zum Teil in einem anderen System (Tonhöhen!) determiniert waren.

Ausgehend von der Schwitterschen "zeichenerklärung", daß in seiner Partitur die Satzzeichen nur als Klangfarbe zu lesen seien, analysiert Peters die "ursonate" insgesamt als eine Klangfarbenkomposition und verweist damit wie auch andere Autoren auf das Unvollkommene der 'Partitur', das auch Schwitters selbst mehrfach betont hat.

Natürlich ist in der üblichen Schrift mit den Buchstaben [...] nur eine sehr lückenhafte Angabe der gesprochenen Sonate zu geben. Wie bei jeder Notenschrift sind viele Auslegungen möglich. Man muß wie bei jedem Lesen Phantasie haben, wenn man richtig lesen will. Der Lesende muß selber ernst arbeiten, wenn er wirklich lesen lernen will. Arbeiten fördert die Aufnahmefähigkeit des Lesenden mehr als fragen oder gar gedankenloses Kritisieren. Das Recht zur Kritik hat nur der, der alles verstanden hat. Besser als zu lesen ist die Sonate zu hören. Ich selbst trage deshalb meine Sonate gern und oft öffentlich vor und bin auf Einladung überall gern bereit, einen Sonatenabend zu veranstalten. Da es aber nicht gut möglich ist, überall Abende zu veranstalten, habe ich einige charakteristische Teile ins Grammophon gesprochen. Die betreffende Platte ist als MERZ 12 veröffentlicht und für 20 Mk. beim Merzverlag in Hannover zu haben. Waldhausenstraße 5. Die Dauer der ganzen Sonate ist ca. 35 Minuten.

Das ist natürlich auch ein bezeichnender Beleg dafür, wie Schwitters es bei jeder Gelegenheit verstand, Reklame in eigener Sache zu machen. Wichtiger ist aber sein Hinweis auf die Unvollkommenheit der Notation. Immer wieder hat er auf sie hingewiesen, immer wieder versucht, sie zu verbessern. Obwohl er die "Sonate in Urlauten" seit 1924 zum Vortrag anbot, wobei wir uns die Aufführungen als Stationen eines work in progress vorzustellen haben, hat Schwitters erst 1926 an eine definitive Notation und einen Druck gedacht, dessen Typographie El Lissitzky verantworten sollte. Am 16.9.1926 schickt er jedenfalls ein erstes Gesamttyposkript an Katherine S. Dreier, für das ein Druck in den Vereinigten Staaten vorgesehen war. Der umfangreiche, für die Entstehungsgeschichte wichtige Brief kann hier nur in einem zentralen Ausschnitt zitiert werden.

Die ganze Sonate ist aufgebaut aus nur 19 verschiedenen Melodien. Ich habe am Rande die einzelnen Melodien durch rote Zahlen gekennzeichnet. Immer wieder werden die Melodien abgeändert, wiederholt, so daß die Länge des ganzen 55 (lies: 35, R.D.) Minuten beträgt. Den Aufbau in die Hauptteile sehen Sie auch am Rande durch waagerecht rote Striche. Die ganze Sonate ist zur Orientierung in 26 Parcellen geteilt, die durch die Buchstaben A bis Z gekennzeichnet sind. Wenn Sie die Numerierung am Rande betrachten, so können Sie leicht die Komposition in gedrängt und weit oder in einfach und kompliziert sinnfällig sehen. Es war mir selbst eine freudige Überraschung, als ich es sah, daß die Sonate sehr geordnet ist, denn bislang konnte ich es nur hören, weil ich alles auswendig gedichtet habe. Ich bin der Ansicht, daß die Sonate nun gedruckt werden muß, denn sie ist etwas ganz Ungewöhnliches geworden, dabei aber allgemein verständlich. Es ist nur wichtig, daß der Druck vorbildlich wird, daß er sehr durchdacht und gut wird.

Der geplante Druck kam nicht zustande. Allerdings veröffentlicht die "internationale revue i 10< ein Jahr später den kompletten ersten Teil, mit einer vorangestellten "Zeichenerklärung" und "Allgemeinen Erklärungen", aus denen der Leser einiges über den Gesamtaufbau erfuhr. Als Ganzes wurde der Text, jetzt mit dem geänderten Titel "ursonate", schließlich, wie schon gesagt, 1932 als letztes MERZ-Heft gedruckt, in einer Form, die Schwitters als Notation dennoch nicht genügt zu haben scheint. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß Schwitters in der Folgezeit an einer speziellen 'Notenschrift' für seine "ursonate" gearbeitet, Kompositionsstudien gemacht, wenn nicht sogar Kompositionsunterricht genommen hat. Mit den Möbeln hatte er sich auch seinen Flügel ins norwegische Exil schicken lassen, wie sich einem Brief vom 10. Mai 1938 ablesen läßt. Und ein Brief vom 17. Dezember 1939 bestätigt derartige Kompositionsversuche, zeigt aber auch, daß Schwitters mit seinen Erfolgen recht unzufrieden war:

Dann kommt meine Musik. Ich habe mir nun einmal vorgenommen, entsprechend meiner Lautsonate auch für Klavier zu komponieren. Ich studiere mit allem Eifer Harmonielehre, da ich einsehe, daß es nicht möglich ist zu komponieren, ohne sie zu kennen. Meine Kompositionen sind aber teils unmöglich, teils trivial. Dadurch unterscheiden sie sich ja nicht von meinen Dichtungen, aber daß es z.B. Schubert wird, wäre nicht nötig gewesen.

Trotz dieser ersten Enttäuschung muß Schwitters aber Kompositionen entsprechend seiner Lautsonate notiert haben. Denn eine dpa-Meldung vom 23. Januar 1993 berichtete von dem Fund bislang unbekannte(r) Notenschriften der "Ursonate" (durch) die Münchner Theaterwissenschaftler Arnulf Appel und Eric Erfurth. Schwitters [...] habe die handschriftlichen Arbeiten 1940 bei seiner Flucht aus dem norwegischen Exil bei einem befreundeten Organisten zurückgelassen. Dieser habe sie einem kanadischen Professor übereignet, der "die Dinger" aber vergessen habe.

Das letzte Wort über die "ursonate" ist also immer noch nicht gesprochen, die Geschichte ihrer Rezeption nach wie vor offen und durchaus skizzierenswert.

40 Jahre nach ihrem ersten vollständigen Druck versucht eine Sendung des Westdeutschen Rundfunks in der Reihe "Geschichte und Typologie des Hörspiels in Lektionen" durch umfassende Zitate nicht nur auf dieses wichtige Werk einer Ars Acustica hinzuweisen. sondern auch, ihm den gebührenden Platz in der Geschichte akustischer Kunst zuzuweisen.

Erst danach, und zunächst immer noch zögernd, setzt dann die eigentliche Rezeptionsgeschichte ein, und dies bald auf mehreren Ebenen. Zum einen in Folge einer Memoirenliteratur, die zwar manches Anekdotische anbot, zum Verständnis des Textes jedoch nur bedingt beitrug. Hier wären neben Hausmann und Arp vor allem Kate Traumann Steinitz und Hans Richter zu nennen, dem wir einen Bericht über einen Vortrag der "Sonate in Urlauten" und die Reaktion der Zuhörer verdanken. Der kanadische Theaterwissenschaftler und Vortragskünstler A.J.Peter Froehlich, der nach dem 2. Weltkrieg selbst Erfahrungen mit dem Vortrag des Schwitter-schen Textes sammeln konnte, hat den Bericht Richters über die Reaktionen des Publikums als schlüssig analysiert und dabei 6 typische Reaktionsschritte bzw. -phasen unterschieden:

1. Verwirrung
2. Selbstkontrolle
3. Wachsende Spannung
4. Kontroll-Verlust
5. Stille
6. Emotioneller Respons.
Die zweite Rezeptionsebene ist historisch-kritischer Natur. Hier müssen die im Verlaufe der letzten Stunde genannten Namen stellvertretend stehen für eine inzwischen größere Gruppe von Autoren, die in der Bibliographie von Christian Scholz' "Untersuchungen zur Geschichte und Typologie der Lautpoesie" fast vollständig erfaßt sind.

Auf einer dritten Ebene ist die praktische Rezeption anzusiedeln, undzwar in den Spielformen der reproduktiven und der produktiven Rezeption. Zur reproduktiven Rezeption wären alle Versuche zu rechnen, die Schwittersche Partitur durch (einen) Sprecher zur realisieren und damit auch zu interpretieren. Hier gibt es außer den schon genannten "performances" Froehlichs, einer Lesung durch den Sohn Ernst Schwitters inzwischen eine Reihe von Tondokumenten, deren vergleichende Analyse durchaus dringend zu leisten wäre, beginnend mit einer relativ frühen Lesung von Karl Buchheister, 1965, die schon deshalb von einigem Interesse ist, weil Buchheister und Schwitters in den 20er Jahren in Hannover nicht gemeinsam zur Gruppe "Die Abstrakten" gehörten, sondern auch darüber hinaus befreundet waren.

Aus der Fülle dann folgender Realisationen, die Christian Scholz in seiner "Discographie" aufgelistet hat, hebe ich eine Interpretation von Gerhard Rühm in einer Aufnahme des Süddeutschen Rundfunks aus dem Jahre 1974 und die Realisation von Eric Erfurth aus dem Jahre 1989 in einer Aufnahme des Bayerischen mit dem Westdeutschen Rundfunk heraus.

Aus dem gleichen Jahr, in dem Eric Erfurth noch einmal versuchte, den Intentionen der Schwitterschen "ursonate" durch eine Realisation der Partitur gerecht zu werden, stammt auch der bis-her wichtigste Beleg für eine produktive Rezeption, Stephan von Huenes "Erweiterter Schwitters. Eine Transplantation", ein Hörspiel, dem 1987 vorausgegangen war: "Erweiterter Schwitters. Auf dem Wege zum automatischen Hörspiel". Zum Verständnis dieser beiden Produktionen ist es notwendig, kurz noch einmal auf Einwände einzugehen, die gegen Schwitters "ursonate" vorgetragen wurden.

Untersuchungen mit dem Ziel einer rationellen Ausnutzung von Übertragungskanälen haben ergeben, daß der phonetische Katalog einer Sprache mehrere Tausend Phoneme anstelle der paar Buchstaben des Alphabets benötigt, zitiert Scheffer die Kritik Schuldts, der Schwitters oberflächliche Sprachmanipulationen, eine Befangenheit in gewohnten Sprachvorstellungen vorgeworfen hatte. Und Scheffer hält dagegen, Schuldts Hinweis ließe sich in Bezug auf die "ursonate" durchaus ins Positive wenden, weil man davon ausgehen kann, daß eine mit elektronischen Mitteln vorgenommene Minimalzerlegung auch bei der "Ursonate" zeigen würde, daß sie an den "mehreren tausend Phonemen" partizipiert.

Das ist wissenschaftliche Kontroverse im Vorfeld einer Computerlinguistik, interessant für die Analyse von, wenig bedeutend für einen produktiven Umgang mit Kunst. Wie sich ein Interesse an Schwitters in einen produktiven Umgang mit Kunst umsetzen kann. führen dagegen Stephan von Huenes "Erweiterter Schwitters I und II" vor. In einem Gespräch mit Klaus Schöning hat Stephan von Huene 1987 skizziert, wie es zu seiner produktiven Auseinandersetzung mit Schwitters und der "ursonate" gekommen ist.

O-Ton: Wenn ich so in Bibliothek oder so über ein Buch von Schwitters kam [...]
(bis)
[...] die physikalische Struktur von Vokalen, die immer zweitönig sind.

Das weitere Gespräch macht dann deutlich, was von Huene an der "ursonate" konkret gereizt hat, wie er mit ihr umgegangen ist.

O-Ton: Mein Interesse überhaupt in Schwitters und sein Witz und so, und dieser Humor [...]
(bis)
[...] daß hat heute mit dieser Technologie, das war schon etwas  das er nicht wußte, er hatte so, irgendwo liegte es, aber es war, es wartet für diese Technologie.

Es ist keine Frage, von Huenes Realisation ist nur eine Möglichkeit von Erweiterung und Aktualisierung. Eine andere Möglichkeit könnte zum Beispiel darin bestehen, daß Schwittersche Tondokument in seine Bausteine auseinanderzunehmen und mit diesen Bausteinen zu komponieren. Dabei ließe sich etwa die zitierte Erinnerung Arps beim Wort nehmen, die ja von Klängen sprach, aus denen sich eine Theorie entwickeln ließe ähnlich derjenigen der Dodekaphoniker. Ein Experiment das noch für längere Zeit durch die Erben verhindert werden wird.

Stephan von Huene hat für seine zweite Erweiterung aus dem Jahre 1989 einen anderen Weg gewählt, indem er kompositorisch frei über das Material des ersten Satzes seiner ersten "Erweiterung" verfügte, und dieses musikalisch anreicherte mit Zitaten aus Mozarts Klaviersonate c-dur, KV 545. Mit diesem Kunstgriff der Verschränkung von literarischem und musikalischem Zitat gelingt es von Huene auch, endlich den Vorwurf zu entkräften, Schwitters habe eine falsche, da traditionelle musikalische Struktur gewählt. Was Manfred Peters für Schwitters "ursonate" als Dialektik benannte, die den Verlauf der Sonate als Suche nach der Synthese zwischen veralteter Form und befreitem Material bestimme, wird bei von Huene kompositorisch Synthese.

[Hinweis: Huene ist mit Mozart besser vertraut, vgl. seine akustische Installation "Die Zauberflöte" 1986 in Berlin anläßlich der Veranstaltungen "Sprachen der Künste II" und seinen Kommentar in der einschlägigen Veröffentlichung, S. 100 ff.]

[Ursprünglich u.d.T. "Fümms bö wö tää zää Uu... (Zu Kurt Schwitters: Sonate in Urlauten)",  Radio-Essay. WDR III, 13.4.1993]