Albrechts Privatgalerie | Künstleralphabet

Reinhard Döhl | Die Bilder Günter Sommers sind Inszenierungen

Günter Sommer inszeniert auf Papier und auf Leinwand. Günther Sommer inszeniert in den unterschiedlichsten Techniken, in Mischtechnik, mit Kreide, mit Acryl, mit Lack.

Darauf ist in der Literatur über Günther Sommer u.a. von Wojciech Sztaba ansatzweise bereits hingewiesen worden, wobei er für die Kunst Günther Sommers "der Welt als Theaterbühne", dem "theatrum mundi", das profane "Spielfeld" an die Seite stellt, das etwas anderes" bedeute "als eine Theaterbühne".

Wojciech Sztaba bezieht sich dabei auf eine Bildeinschrift Günther Sommers: "Spielfeld - anima mundi", die dem "theatrum mundi" eine oder die "anima mundi" an die Seite stellt. Folgt man dieser These Wojciech Sztabas, wäre zwischen "Seele der Welt" und "Theater der Welt" dann das zu orten, was auf den Bildern Günther Sommers zu sehen ist.

Ich denke, daß dies noch etwas komplexer ist und beginne meinen Exkurs deshalb mit der Vorstellung der Welt als eines Theaters, auf dem die Menschen (vor Gott) ihre Rollen spielen; je nach der philosophischen oder theologischen Auffassung als Marionetten oder mit der Freiheit der Improvisation innerhalb der ihnen auferlegten Rollen.

Diese Vorstellung erscheint als Vergleich oder Metapher bereits in der Antike und im Urchristentum und wird seit dem 12. Jahrhundert ein bis in die Barockzeit weitverbreiteter Topos, bis Calderón de la Barca das Welttheater erstmals auf die Bühne bringt, zum Gegenstand eine Auto sacramentale macht (= El gran teatro del mundo / Das große Welttheater", 1635? UA 1645?), in dem unter der Regie der Frau Welt die einzelnen Rollenträger agieren, bis sie der Tod von der Bühne abruft und Gott ihr Spiel beurteilt. [Vgl. MEL 25, 223]

Die Nachdichtung des "Großen Salzburger Welttheaters" durch Hugo von Hofmannsthal interessiert mich im heutigen Zusammenhang weniger als die gegenläufige, nihilistische Lesart in Folge der Aufklärung,

Ein vor allem ästhetischer Neuansatz findet sich dann in der Literaturrevolution zu Beginn des vorigen Jahrhunderts bei Arnold Schönberg ("Die glückliche Hand"), Wassily Kandinsky ("Der gelbe Klang") oder in Kurt Schwitters Vorstellung einer MERZgesamtkunstbühne, Schöpfungen und Entwürfen in Bild, Ton und Musik in deutlicher Opposition zu Richard Wagner. Was sich in ihnen ändert, wird vielleicht am schnellsten deutlich in einem Vergleich der verschiedenen Entwürfe und Fassungen zu "Der gelbe Klang":
Der Mensch, entindividualisiert und namenlos, wird mehr und mehr zum Träger von Farbe und Bewegung reduziert. Die "Menschen sind wie Gliederpuppen", bestätigt Kandinsky im 5. Bild Büchners Auffassung der Marionette. Aus der "grellen, bunten Menschenprozession mit Fahnen und Kränzen" werden "Menschen in verschiedenfarbigen Trikots, sie ähneln Gliederpuppen, ihre Haare sind durch enganliegende haarlose Perücken verdeckt". In der letzten Fassung sind die Perücken und die Gesichter von der selben Farbe wie die Trikots: "Erst kommen graue, dann schwarze, weiße, schließlich farbige Menschen." Schließlich wird daraus dann (im 3. Bild, vom vierten Satz an bis zu den sinnentleerten Worten des Tenors, und über weite Strecken des 5. Bildes) ein vollends "abstrakte[s] Spiel mit Bewegungen, Geräuschen und farbigem Licht". [vgl. Emmert, 81 f.]
Wichtig ist mir, daß die genannten Künstler Mehrfachbegabungen und mindestens in zwei Kunstarten tätig waren: Kandinsky auch als Autor, Schönberg auch als Maler und Schwitters gleich als alles zusammen. Ich will das hier nicht weiter vertiefen sondern lediglich als Beleg nennen dafür, wie sich hier Grenzen der Kunstarten bis heute folgenreich verwischen.

Vor diesem Hintergrund sehe ich auch Günther Sommers Inszenierungen, von denen ich ja schon sagte, daß sie BühnenbildBilder für eine BilderBildbühne seien. Zwar ist Günter Sommer kein Gesamtkünstler im Sinne Kandinskys, Schönbergs oder gar Schwitters'. Aber auf seiner BilderBildbühne sind im Grunde genommen von Anfang an alle Künste, die bildende Kunst, die Musik, die Literatur und das Theater, mit im Spiel. Und das möchte ich wenigstens andeuten.

Ich beginne dabei naheliegend mit der Malerei, die im Falle Günther Sommers unter anderem auch ein Dialog mit der Kunstgeschichte sein kann, ein dialogisches Spiel freilich mit doppeltem Boden und Bildgrund, durchsichtig auf andere Inszenierungen, z.B. von Velazquez (1599-1660), dessen "Papst Innozenz X" (1564 -1655; Papst seit 1644) der Papst-Serie Günther Sommers von 1986/88 Modell saß. Wobei es vielleicht kein Zufall ist, daß Calderón und Velazquez Zeitgenossen waren.

Wirklich spannend wird Günther Sommers Papst-Serie aber erst, wenn man hinzuzieht, daß Francis Bacon bereits 1953 einen "Papst Innozenz X" (nach Velazquez) gemalt hatte (heute Sammlung William Burden, New York), dem sich Günther Sommers "Papst I" von 1987 vergleichend an die Seite stellen läßt, der dann gleichzeitig mit der ursprünglichen Inszenierung eine erste Nachinszenierung zitiert und damit einen Kollegen, für den Kunst erklärtermaßen "mehr eine Methode" war "Gefühlsräume aufzutun, als Gegenstände abzubilden". Wozu dann noch, worauf bereits Klaus Bushoff verwiesen hat, die Möglichkeit kommt, Innozenz doppeldeutig als "in no sense" zu lesen und zu verstehen.

Auf eine andere zitierte Inszenierung Günther Sommers ist anläßlich der Sindelfinger Ausstellung 1989 Otto Pannewitz eingegangen, auf Günther Sommers "Valpecon"-Serie von Mischtechniken auf Papier aus den Jahren 1984 bis 1988 und ihr Modell: auf Ingres "Die Badende von Valpencon".

"So nimmt die ideale Form Ingres' Eingang in die Arbeiten Günther Sommers, attackiert, gewandelt, als ehemaliges Faktum einer spezifischen Ästhetik und Ausdruck festgefügter Weitsicht des Künstlers in Frage gestellt, bleibt sie lediglich als Chiffre einer Kultur erhalten, die schließlich unsere eigene ist. Ingres' "Badende" ist in den Arbeiten Günther Sommers ihrer einstmaligen Idealität wie ihrer Schönheit beraubt, regellos jeder ehedem gegebenen Normativität enthoben in eine Umgebung gesetzt, die heutigen Raum meint, schwer faßbar, in jedwede Richtung offen - oder vielleicht auch geschlossen. Verloren ist die Schönheit im lngresschen Sinn, verschwunden unter der Wort-, Lärm-, Bilderflut nicht erst unserer Tage - doch auch unserer. Verschwunden sind oder verschwinden noch Ideale, Gesichertheiten geistiger, optischer und jedweder Art, es bleiben Offenheiten im rapiden Wandel, eine stete, uns verändernde Veränderung - und die immer schneller. Dies verdeutlicht sich in Günther Sommers Mischtechniken mit Ingres' "Badende von Valpencon", bei denen nur noch der Hinweis auf die Herkunft der "Badenden" im Titel der Arbeiten Eindeutigkeit besitzt: Valpencon."
Als weiterer, von Günther Sommer zitierter Maler wäre noch auf Eugène Delacroix, hinzuweisen aber auch auf scheinbar vertraute Tableaux' wie Kreuzigung und Torso, oder die überraschenden Plazierungen traditionellen Bildpersonals als gedoppelte Venus mit Staubsauger oder eine Olympia zum Beispiel auf einer Juke-box.Mythos und Kultur sind, so scheint es, zu deformierbaren und deformiertenVersatzstücken und Spielelementen einer Malerei geworden, in der sie als der fadenscheinige Kontext einer Zivilisation erscheinen, als Fundus einer Zivilisation, deren Selbstinszenierungen zunehmend leerlaufen.

Daß man bei der Olympia auf der Juke-box auch den Automatenmenschen aus E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" denken könnte, der dem Helden vermittels eines Perspektivs als glutäugige "Olimpia" erscheint, bringt mich zur Literatur in Günther Sommers Malerei. Das scheinbar vertraute Tableaux' "Kreuzigung" z.B. begegnet überraschend im Kontext einer in der heutigen Ausstellung nicht gezeigten Serie (ich verweise den Interessierten stattdessen auf den Sindelfinger Katalog, S. 23-26), die Günther Sommer "Die Möve (Tschechov)" getitelt hat.

Man könnte bei diesen Bleistiftzeichnungen auf Papier an Theater-Figurinen, Szenenskizzen denken. Und in der Tat ist die Vorlage - für den, der von Günther Sommers Zusammenarbeit mit Theatern in Esslingen, Heilbronn und Ulm weiß, - kaum überraschend - eine bekanntere Komödie Tschechovs: "Die Möve". Allerdings eine eher negative Komödie, die bereits in der Personengruppierung des 1. Aktes die Vereinzelung ihres Personals und im Verlaufe des Stückes die Brüchigkeit aller bestehenden oder entstehenden menschlichen Beziehungen und Bindungen zeigt. Dem entsprechen die Figurendarstellungen der einzelnen Blätter, auch wenn sie den Personen der Komödie nicht immer eindeutig zugeordnet werden können.

In welchem Maße Literatur für Günther Sommer inszenierte Literatur ist, wird an den Theaterzeichnungen zu George Taboris "Cannibals" (1968) recht deutlich, wobei es, vom Inhaltlichen - einem Fall von Kannibalismus in einem KZ - einmal abgesehen, vor allem, wie ich vermute, die Ritual und Revue verknüpfende Dramaturgie Taboris ist, die Günther Sommer bei seiner Neigung zu Bildinszenierungen gereizt hat.

Wieweit sich dabei der Fächer des Sommerschen Interesses an inszenierter Literatur spannt, läßt sich im Zusammenhang einer Eröffnung nur andeuten mit dem Hinweis auf ein Theaterplakat zu Arthur Millers "Spiel um Zeit", auf die Mischtechniken/Montagen "Goethe, lapidar", mehr noch die "Schiller, Maschine", in deutlicher Anspielung auf Heiner Müllers "Hamletmaschine", die Günther Sommer 1990 zu einem Wettbewerb des Mannheimer Nationaltheaters einreichte, einem der vehementesten Ausbrüche Sommerscher Inszenierungwut.

Daß diese Inszenierungswut und -lust in den 90er Jahren nachläßt, will und muß ich wenigstens erwähnen, glaube aber, daß es im Rahmen einer Retrospektive legitim ist, noch eine Weile beim angeschlagenen Thema zu bleiben.

Günther Sommer hat zu seiner Retrospektive eingeladen unter der Überschrift "past presence", wobei mir nicht deutlich ist, ob es sich hier möglicherweise um ein verstecktes Zitat handelt, spricht doch auch Philosophie gerne vom Vergangenen im Gegenwärtigen, wie immer dem sei -

Günther Sommer hat zu seiner Retrospektive eingeladen unter der Überschrift "past presence" und unter dem selben Titel ein kleines Bilderbuch veröffentlicht, das auch Exponate abbildet, auf denen der Politiker Gorbatschow, der keltische Zauberer Merlin, der Naturwissenschaftler Galileo Galilei (1565-1642) und Echnaton zu identifizieren sind, - politisch und/oder geschichtlich zum Teil kontrovers eingeschätzte Personen.

Erst kürzlich hat sich die katholische Kirche ja erst bequemt, Galileis Beobachtung, daß sich die Erde um die Sonne drehe, als richtig anzuerkennen. Es scheint mir nach dem bisher Gesagten kaum verwunderlich, wenn sich Calderon, Innozenz, Velasquez mit Galilei ein weiterer Zeitgenosse zugesellt. Und es überrascht mich genauso wenig, daß auch dieser Zeitgenosse im bildkünstlerischen Werk Günther Sommers Spuren hinterlassen hat, im Kontext nämlich der historischen Anekdoten "Galileo und der Papst" von Armin Elhardt, denen Günther Sommer montierte postkolumbianische Zeichnungen beigegeben hat. [Edition Wuz, Nr. 8]. Wie umgekehrt Armin Elhardt seinerseits zum Werk Günther Sommers Texte beigesteuert hat, z.B. "Wenn die Ganglienblockade..." [In. Günther Sommer. Arbeiten 1998-2001. Verlag der Studiengalerie 2001, S. 24]

Mehr noch als Galilei interessiert mich Echnaton. Auch dieser Echnaton ist eine äußerst mehrdeutige Figur, als Mystiker bedeutend (< Aton) und als Anreger einer neuartigen Kunst (< die Stadt Amarna) war er als Herrscher unglücklich, ließ sein Imperium verfallen und brachte den Staat an den Rand des Zusammenbruchs.

Echnaton ist nicht nur in "past presence" präsent sondern hat in "See this King" aus den Jahren 2001/2002 seine eigene Serie bekommen, die gleichzeitig den Bogen zur Frage Musik im Werk Günther Sommers schlägt. Denn wenn sie vielleicht auch nicht der Anstoß war, so bildet die "Akhnaten"-Oper von Phil Glass in jedem Fall den musikalischen Hintergrund dieser Serie, und zwar bis zum Titel, der ausgeschnitten wurde aus:

The bones of the hellhounds tremble
the porters are silent
when they see this king.
Das will so recht auf den historischen Echnaton nicht zutreffen. Und in Wirklichkeit bezieht sich dieser Text auch auf seinen Vater, auf Amenophis III. Was interpretatorisch sicherlich einiges hergeben würde. Aber das ist Günther Sommer nicht wichtig, ihm geht es um das, was er gesprächsweise "Bedeutungsüberhöhung" genannt hat, um das Gewicht, das alle genannten Personen und Bilder eigentlich erst durch ihre Inszenierung und den Kultwert, der ihnen damit zugewiesen wird, erfahren. Und das ist auch ein psychologisches Problem, das dann - ich erinnere noch einmal an die Kunstvorstellung Francis Bacons - nach "eine[r] Methode [...] suchen muß, "Gefühlsräume aufzutun", nicht "Gegenstände abzubilden". Oder- wie ich es überspitzen möchte: Autoriäten zu demontieren, nicht zu portraitieren.

Die Rolle der Musik für die und in der Kunst Günther Sommers ist mit der Oper "Akhnaten" von Phil Glass nur zum Teil erfaßt. Durchaus anders verhält es sich nämlich bei den auch auf der Einladungskarte wiedergegebenen Exponaten, bei denen der Titel "Travel by Night" auf den Jazzgitarristen und -musiker Colin Walcott verweist. Wobei ich hinzufüge, daß Günther Sommer mit Jazz- und Rockmusik durchaus einschlägige praktische Erfahrungen hat.

Daß Günther Sommer eine Mischtechnik auf Papier aus dem Jahre 2000 "Songs and Signs" getitelt hat, sei hier wenigstens im Vorbeigehen erwähnt.

Diese auch auf der Einladungskarte wiedergegebenen Exponate sind aus zwei Gründen interessant. Einmal als Beleg für nun seit den 90er Jahren zunehmendes Nebeneinander von Inszenierung und Nichtzinszenierung, oder anders gesagt: von noch stofflicher und nur noch malerischer Inszenierung.

Im ersten Fall stellt dabei "Travel by Night" den ausholenden Inszenierungen, dem theatrum mundi mit einer banale Straßenszene ein fast profanes Spielfeld an die Seite, das in Harlem oder sonstwo lokalisiert werden könnte: im Hintergrund ein Bus, im Vordergrund zwei angeschnittene menschliche Figuren, eine Szene, deren Fortgang sich der Betrachter je nach seiner Filmkenntnis so oder so ausmalen kann.

Zu diesem "Spielfeld" zu rechnen sind aus den 90er Jahren weitere profane "Spielfelder", in denen sich oft Figürliches andeutet, das sich als Spielfeld, als Roulette, als Tischfußball oder Flipper deuten ließe. Den Brettern, die die Welt bedeuten, wird die Welt banaler Spiele an die Seite gestellt. Beide werden dabei nicht aneinander gemessen sondern sind die zwei Seiten ein und derselben Münze, ein und derselben Welt, die um sich selbst kreist.

Dabei kann und soll es vielleicht auch geschehen, daß die gestische Malweise Günter Sommersden Zuschauer vor der BilderbildBühne in die BühnenbildBilderhineinzieht, mit einbezieht in eine absurde Inszenierung, in ein groteskes ästhetisches Spiel, das dann nicht mehr das Spiel Günter Sommers allein ist.

Die Literatur über Günther Sommer hat in diesem Zusammenhang mehrfach den Vergleich mit einem Strudel, das Bild vom Malstrom bemüht. Ob zu recht, möchte ich abschließend fragen.

Edgar Allan Poes hier zur Diskussion stehende Erzählung "Der Sturz in den Malstrom" (auch zitiert als "Der Maelstrom"), wird den "Tales of terror" zugerechnet, denen es nicht um "Wahrheit in Gestalt von logischen Schlüssen und logischer Analyse" gehe, in denen vielmehr alles berechnet sei auf die Erzeugung eines einzigen Gesamteffektes, der, schwer zu umschreiben, mit dem Wort "Grauen" nur unzulänglich getroffen werde, eines Effektes, der im Schrecklichen plötzlich Schönheit erkennen lasse. Ein wörtliches Zitat macht dies deutlicher als jede Erklärung. Das Boot der beiden Lofotenfischer ist gekentert. Der Erzähler kreist im alles verschlingenden Malstrom.

"Ich nahm meinen Mut zusammen und blickte wieder auf meine Umgebung. Niemals werde ich die Gefühle von Ehrfurcht, Schrecken und Bewunderung vergessen, mit denen mich der Anblick erfülte. Das Boot schien wie durch ein Wunder an der inneren Oberfläche des Trichters zu hängen, der von weitem Umfang und unerkennbarer Tiefe war, und dessen glatte Flächen man für Ebenholz gehalten hätte ohne die erschreckende Schnelligkeit ihres Herumwirbelns und den grausigen Schimmer, der von ihnen ausging in den Strahlen des Vollmonds, der aus der kreisrunden Wolkenöffnung, die ich schon beschrieben habe, eine Flut goldenen Scheines auf die schwarzen Wände und weit hinunter in die innersten Winkel des Abgrundes ergoß.
Zuerst war ich zu verwirrt, um irgend etwas genau beobachten zu können. Die plötzliche Erscheinung schrecklicher Größe war alles, was ich begriff. Als ich wieder zu mir kam, wandte sich mein Blick unwillkürlich nach unten. [...] Die Mondstrahlen schienen den untersten Grund des tiefen Schlundes zu durchsuchen. Aber noch immer konnte ich nichts genau sehen, durch den dicken Nebel, der alles einhüllte und über dem ein herrlicher Regenbogen hing wie die schmale, schwankende Brücke, die nach dem Glauben der Mohammedaner den einzigen Pfad zwischen Zeit und Ewigkeit bildet."
Was Edgar Allan Poe hier beschreibt, ist der Prozeß eines Umschlagens von Grauen in Erstaunen und schließlich in Bestaunen von etwas schrecklich Schönem.

Das aber, glaube ich, wird den Bildern und Zeichnungen Günther Sommers so nicht gerecht. Wohl aber in einer anderen Lesart, die den "Malstrom" dann wortwörtlich nehmen müßte und dem Bewußtseinsstrom der Literatur analogisieren, also als einen dem stream of consciousness analogen stream of painting verstehen.

Der stream of consciousness wird unter anderem definiert als subjektive Reaktion auf Umwelteindrücke vor ihrer gedanklichen, sehr wohl aber in einer zufällig ästhetischen Ordnung. Der stream of painting, der "Malstrom" wäre dann, wortwörtlich genommen und zugleich konkret auf Günther Sommer bezogen, seine subjektive Reaktion auf kulturelle Hypothek und subkulturelle Gegenwart, auf Archetypus, Individualität und Anonymität. Die Bretter, die die Welt bedeuten, werden zur "Spiel-Landschaft" (Kat. II, S. 21), das "Spielfeld" zum theatrum mundi. Und das alles nicht in gedanklicher Ordnung (das wäre Abbildung), sondern in einem freien ästhetischen Spiel in Form von Stenogrammen, Notaten, Partituren dessen, was Günther Sommer in zwei Arbeiten aus dem Jahre 1989 "Brainstorm" (Kat. I, 43) getitelt hat.

[Zehntscheuer Möglingen,  28.6.2002]


Pressespiegel

Das Bild als Einheit aller Künste
Günther Sommer ist in die Zehntscheuer zurückgekehrt: Ein Rückblick auf 20 Jahre

Möglingen | "Past Presence" - auf deutsch also "Vergangenheit Gegenwart". Unter diesem Titel läuft seit Freitagabend in der Zehntscheuer eine Ausstellung von Günther Sommer. Gezeigt wird eine Retrospektive mit Arbeiten aus 20 Jahren künstlerischer Tätigkeit.

"Die Bilder Günther Sommers sind Inszenierungen", begrüßte Professor Reinhard Döhl die zahlreichen Gäste der Vernissage, mit der Günther Sommer als einer der Väter der "neuen Ausstellungskonzeption" für die Zehntscheuer" ein Heimspiel feiert. 1989 hatte Sommer seine Werke bereits zur Einweihung der Zehntscheuer dort ausgestellt.
Seither gibt es zwischen Künstler und Ort eine enge Verbindung, so Bürgermeister Eberhard Weigele. "Durch seine Beratung konnten wir eine Austellungskonzeption auf den Weg bringen, die über Möglingen hinaus bekannt geworden ist", sagt der
Bürgermeister. "Dieser gute Ruf ist eng mit dem Namen Sommer verbunden." Bis 28. Juni kehrt der Künstler nun also nach Ausstellungen unter anderem in Bonn, Sankt Petersburg oder New York mit seinen Werken zurück in die Zehntscheuer.
Mitgebracht hat er eine Auswahl an Werken der vergangenen 20 Jahre; darunter zwei Leihgaben: die "Schillermaschine" (Nationaltheater Mannheim) und die "Konflikte" (Theater Heilbronn). Zum Themenkreis der menschlichen Figur gehören auch die jüngsten Arbeiten, in denen Sommer den Bezug zum Menschen indirekt durch Interpretationen von Objekten definiert. Sie sollen Rückschlüsse auf die menschliche Existenz ermögllchen. Unterschiedliche Techniken werden kombiniert, Reste bleiben zurück, Materialien beginnen miteinander zu kommunizieren. Ein "materialer Dialog der Bilder und Zeichnungen",
Literaturwissenschaftler Döhl in seiner Einführung, entsteht.
Das alles sind "Inszenierungen", bei denen Günther Sommer auf unterschiedliche Techniken zurückgreift: Kreide, Acryl, Lack, Mischtechniken - nur eine kleine Auswahl. "Manchmal", so Döh, "zitieren Günther Sommers Bilder Bilder und die Schrift in diesen Bild-Bildern kann dann das Bruchstück eines Regietextes, einer Partitur sein für eine Bilder-Bildbühne". Soll heißen: Alle Künste von bildender Kunst über Literatur bis zum Schauspiel sind in diesen vielfältigen Werken vereinigt. Zu sehen sind sie noch bis 28. Juli in der Zehntscheuer.

Stefan Friedrich
[Ludwigsburger Kreiszeitung 1.7.2002]