Das Faltblatt der Volkshochschule Stuttgart hat diese dritte Ausstellung im Rahmen des Japan Festivals überschrieben: SHO -Japanische Kalligraphie. Und sie ist damit einer Tradition ge-folgt, die das Wort Sho mit Kalligraphie übersetzt, was in un-serem abendländischen Verständnis mit Schönschrift, Schönschreiben zu umschreiben wäre und als etwas äußerlich Geschöntes mißverstanden werden kann. Genau das aber ist Sho nicht.
Ursprünglich waren die chinesischen Schrift-Zeichen (Kanji), die auch in Japan verwendet werden, Bild-Zeichen, verloren aber im Laufe der Zeit ihren Bild-Charakter immer mehr. Diese Schrift-Zeichen dienen (wie unsere mit Hilfe des Alphabets gebildeten Wörter) in ihrer Addition in erster Linie der Information, wobei es mehr auf die Bedeutung als auf die gestaltete Form ankommt. Gestaltet man das Schrift-Zeichen jedoch aus seinem individuellen Lebensgefühl heraus, nähert man sich der Schrift-Kunst, der Kunst des Schreibens, dem Sho do. Dabei gibt es, wie Ijima Tsutomu anläßlich einer Ausstellung schrieb, unendlich viele Möglichkeiten, die eigene Freiheit zu behaupten und dem Zeichen die Gestalt zu geben, wie sie dem eigenen absoluten "Leben" entspreche. Wobei es "nicht mehr so wichtig" sei, "daß das Zeichen gelesen und seine Bedeutung verstanden" werde, "sondern daß man es als Kunstwerk" betrachte und seinen "ästhetischen Inhalt" erfasse. Und weil es nicht mehr um Lesen, sondern um "Betrachten", nicht um Information,sondern um "ästhetischen Inhalt" geht, ist es mit den Worten Ijuma Tsutomus auch erlaubt, "daß das Schriftzeichen infolge unbeschränkter Ausdrucksfreiheit nicht mehr verständlich, das heißt unlesbar" ist.
Diese Ausdrucksfreiheit an der Grenze zur Unlesbarkeit hat in Amerika und Europa dazu geführt, die Kunst der Pinselschrift mit abstrakter Malerei zu vergleichen und zu verwechseln. Aber wo diese entweder völlig gegenstandlos ist oder vom Gegenstand abstrahiert,geht "Sho" immer noch vom Schrift-Zeichen, seiner Struktur und Bedeutung aus, um sie auf eine andere Ebene zu transponieren.
Ein drittes Mißverständnis ist jeder Versuch, an die mit dem Pinsel "geschriebenen" Bilder unsere ästhetischen Maßstäbe anzulegen, was stets zur Folge hat, daß man an Äußerlichkeiten hängen bleibt und das Wesen von "Sho" weit verfehlt. Denn nicht auf die äußere Erscheinungsform eines Schrift-Zeichens, auf sein Entziffern allein kommt es an, vielmehr geht es beim Betrachten darum, das Schrift-Bild "in seiner geistigen Tiefe zu empfinden und zu erfassen".
Wie sich dies aus der Sicht eines Sho-Meisters darstellt, möchte ich mit den Worten Morita Shiryus belegen: "Ich schreibe", sagt Morita Shiryu, "das Schriftzeichen Tod, , ausgesprochen shi. Diese irdische Welt ist voll von Gegensätzen, Widersprüchen und Beschränkungen: Leben und Tod, Nichts und All. Für uns gibt es keine Freiheit, solange wir von diesen Gegensätzen und Beschränkungen gefesselt sind. Es ist unmöglich, daß unser Leben vollkommen funktioniert. Dies wird in der Tatsache klar und sinnfällig, daß zwischen meinem Ich und dem Schriftzeichen shi, wie ich es jetzt schreibe, ein Gegensatz besteht. Wie ich die Beschränkung dieses Schriftzeichens überwinde, wie ich mein Ich frei und vollkommen entfalten kann, darauf konzentriert sich mein ganzes Streben."
Aber, schränkt Morita Shiryu sein "Streben" ein: dies sei nur "sein Wunsch". Denn er wisse, daß "es schwierig" sei, ein befriedigendes "Werk zu vollbringen. [...] Zehnmal, sogar hundertmal muß ich neu schreiben. Jedesmal, wenn ich mit meiner Arbeit nicht zufrieden bin, prüfe ich meinen inneren Zustand, ehe ich die unbefriedigenden Formen und Linien entdecke. In der Tat, die meisten Fehler an meinem Werk haben ihre Ursache weit eher im inneren Seelenzustand als in der technischen Unzulänglichkeit. Auf diese Weise versuche ich durch Sho-Schreiben mein Ich zu finden."
Morita Shiryus Hinweis auf mögliche "technische Unzulänglichkeit" bringt neben dem Was auch das Wie, die Praxis des Schreibens ins Spiel. Sie hier verständlich zu skizzieren, würde den Rahmen einer Ausstellungseröffnung sprengen. Ich übergehe also diese Skizze mit dem Hinweis darauf, daß Kei Suzuki am kommenden Dienstag um 17 Uhr im Theodor-Bäuerle-Saal demonstrieren wird, wie "Sho"-Arbeiten entstehen. Dort kann sich der Interessierte durch Augenschein viel besser mit der Technik des "Sho-Schreibens" vertraut machen, als ich es im theoretischen Exkurs leisten könnte.
Nicht eingehen werde ich auch auf die Geschichte der "Sho"Kunst, die bereits in archäologischer Zeit in China beginnt, von dort im Laufe der Zeit nach Japan gekommen ist und hier eine durchaus eigenständige Tradition entwickelt hat.
Einen Aspekt allerdings möchte ich herausgreifen. Betrachtet man nämlich die "Sho"-Kunst in ihrer Tradition, fällt auf, daß sie - im europäischen Sinne - wenig Entwicklung zeigt, daß manche Arbeit früherer Zeit unserem Auge moderner anmutet als manche Arbeit von heute. Das hängt einmal damit zusammen, daß die "Sho"-Kunst ein größeres Traditionsbewußtsein hat als unsere abendländische Kunst. Das begründet sich aber auch aus der Tatsache, daß sie keine Epochenstile in unserem Sinne herausgebildet hat. Sie ist stattdessen eine extrem individuelle Kunst oder Kunstausübung, in der jeder auf seine Weise und mit seinen Mitteln versucht, sein "Ich frei" und "vollkommen" zu "entfalten".
Zwei Punkte, auf die ich einleitend noch eingehen möchte, sind der (von Ausnahmen abgesehen) ausschließliche Schwarz/ Weiß-Charakter der "Sho"-Kunst und das, was man die "Linie" nennt. "Die Schriftkunst", hat es Zaitsu Nagatsugi pointiert, "besteht aus zwei entgegengesetzten Elementen, Weiß und Schwarz, die jenseits aller Farbwerte liegen. Das Schwarz als Element gewinnt durch die Form der schwarzen Linien seine Gestalt." Da nun alle Zeichen eine bestimmte Schreib-Reihenfolge haben, "nach der sich die schwarze Linie bewegt", ist die "Tuschlinie eine Linie in Bewegung. Da sie nach bestimmten Richtungen mit verschiedenen Geschwindigkeiten geschrieben wird, kann man die fließende Bewegung im sosho [...] mit den Augen selbstverständlich nachvollziehen. Insofern unterscheidet sie sich von derjenigen in der Malerei. Sie ist eine ununterbrochene Linie, denn selbst, wenn die schwarzen Linien auf dem Papier nicht verbunden sind, fließt die Idee der Linie über den leeren Raum hinweg in der Bewegung des Pinsels weiter, so als ob die Linie auf einem räumlichen Papier weitergeschrieben worden wäre. D.h. die Bedeutung des Geschriebenen ist die kontinuierliche geistige Verbindung."
Nach diesen eher allgemein gehaltenen Hinweisen auf die "Sho"-Kunst habe ich abschließend noch ein paar Sätze zur heutigen Ausstellung anzuschließen. Die Verbindung eines japanischen, mehrfach ausgezeichten "Sho"-Meisters und eines europäischen Künstlers ist die Regel nicht. In diesem Fall erklärt sie sich aus einer langjährigen Freundschaft, wiederholter Zu-sammenarbeit und künstlerischem Dialog.
Die Ausstellung belegt dies mit verschiedenen Beispielen. Ich nenne als Beispiele Kei Suzukis Taegataki sizumori [...]", eine Arbeit, die ein Haiku von mir umsetzt: "Stille / kaum auszuhalten / so still".
Umgekehrt hat mich ein Haiku des Dichtermalers Buson, "Im Wintermondlicht / dort zwischen kahlen Bäumen / drei Schäfte Bambus", zu einem kleinen "Bambuswald" angeregt, in dessen erste Arbeit Kei Suzuki "Take ni ari joge no fushi" [bzw. Take ni joge noi fushi ari = Bambus hat oben und unten Knoten, aber der ganze Bambus ist eins (Tetsuo Nagaya)] eingeschrieben hat.
Auf eine andere Art dokumentiert sich der Dialog in den beiden Arbeiten "Hogetsu" [= im Mondschein gehen] und "Kokurin" [= Schwarzwald]. Sie entstanden 1990 an einem Abschiedsabend, an dem wir gemeinsam schrieben. Ich reagierte damals auf eine ältere Arbeit Kei Suzukis, "Hogetsu", worauf Kei den Schwarzwald [= "Kokurin"] hinzufügte, was zusammengelesen den Wunsch eines gemeinsamen Mondscheinspaziergangs im Schwarzwald ergibt, den wir uns allerdings bisher noch nicht erfüllen konnten.
Eine dritte Möglichkeit des Dialogs wäre das Aufeinanderzuarbeiten, ablesbar etwa bei Kei Suzuki in einer deutlich zunehmenden Tendenz, einer Radikalisierung in Richtung des Abstrakten, z.B. auf dem Blatt "Kinchyo matawa nihon no sen" [= Spannung oder zwei Linien], was mich provozierte, das Kanji für Fluß [= "Kawa" zu radikalisieren.
Natürlich gibt es noch weitere gemeinsame Arbeiten, eine davon inzwischen im Dortmunder Museum am Ostwall, Collagen, die aber nicht Gegenstand dieser Ausstellung sind.
Von den Arbeiten Kei Suzukis, um deren Präsentation es in dieser Ausstellung vor allem geht, im einzelnen zu reden, ist schwierig. Aus dem, was ich allgemein zur "Sho"-Kunst anzumerken versuchte, ist deutlich geworden, daß über die hier einschlägigen Arbeiten nicht wie über ein Bild, eine Grafik abendländischer Kunst verhandelt werden kann. Kei Suzukis Arbeiten entziehen sich analytischer Betrachtung. Wer sie, falls es ihm gelingt, gelesen hat, hat erst die Oberfläche. Die Schönheit z.B. von "Sooi" [= Kleid aus Gräsern gewoben / Ehrliche Armut) oder "Shinke" [= Die reine Blume des Herzens] erschließt sich erst, wenn der Betrachter sich, das Thema nachvollziehend, auf "Schrift" und "Linie", auf den beschriebenen und den freien Raum, auf die Anwesenheit und die Abwesenheit von Schrift einläßt, wenn er das Verhältnis der Zeichen zu- und gegeneinander zu empfinden versucht.
Die Bildzuschriften, die deshalb auch in Übersetzung gegeben sind, können ihm dabei eine kleine Hilfe auf diesem Weg = "do" sein, wenn sie zum Beispiel als Thema benennen "Kakusan matawa kokoro no rizumo" [= Entfaltung oder mein Herzschlag] der "Sookoku" [= Im Streit mit ich selbst), aber auch "Yushin" [= An etwas das Leben genießen] oder "Hooitsu" [= Nur Eines festhalten].
Auf zwei Arbeiten, die etwas herauszufallen scheinen, möchte ich abschließend besonders hinweisen. Das ist erstens das durch seinen ideographischen Charakter auffällige Blatt "Yuroku wo iro" [= Ein spielendes Reh schießen] mit seiner deutlichen Anspielung auf die urzeitliche Knochenschrift in China (und damit auf die Tradition der "Sho"-Kunst). Zweitens ist dies die Arbeit "Gofu juu" (= Fünf Winde zehn Regen). Dieses Blatt ist nämlich mit einer anderen Tinte geschrieben, mit "blauer" Tinte. Und der "wäßrige" Eindruck, den es auf den Betrachter macht, lenkt seine Gedanken, sofern er sich von Schrift und Pinselführung leiten läßt, alsbald in die richtige Stimmung. Vorausgesetzt, daß er sich ernsthaft darauf einläßt. Sonst mögen ihm allenfalls der verregnete Mai und Juni dieses Jahres einfallen.
Ich möchte es mit diesen Hinweisen bewenden lassen. Kei Suzuki ist anwesend und wird sicherlich gerne das, was ich gesagt habe, ergänzen oder korrigieren. Im übrigen verweise ich noch einmal auf die "Sho"-Demonstration am kommenden Dienstag und bedanke mich für's Zuhören.
[VHS Stuttgart, 11.6.95]