Reinhard Döhl | Künstleralphabet | Kei Suzuki
Reinhard Döhl | Die Entstehung eines SHO-Schreibkunstwerks.

Zu einer Sho-Demonstration von Kei Suzuki

Drei Mißverständnisse

Das westliche Verständnis von "Sho"-Kunst ist mit einigen Irrtümern besetzt. Das wird bereits deutlich, wenn wir hartnäckig "Sho"-Kunst mit Kalligraphie, mit "Schreibkunst" übersetzen. Diese "Schreibkunst" entwickelte sich im Barock, als nach Erfindung des Buchdrucks der Beruf des Abschreibers überflüssig wurde. Sie ist in ihrer Genese an den Namen Johann Neudörffer und das Entstehen der deutschen Schrift gebunden, was hier aber nicht weiter interessiert. Was Kalligraphie, was "Schreibkunst wollte und sollte, definierte 1659 Louis Barbedor:

SCRIPTURA // Ars / Nec mechanica nec liberalis / Vtriusque tamen origo. / Non scientia, sed scientiarum via; / Non virtus sed virtutum dispensatrix; / Ad mentis illustrationem et oculorum oblectationem / Nata. Frei übersetzt etwa: Schreiben - weder eine mechanische noch eine freie Kunst, sondern die Wurzel von beidem. Nicht Wissenschaft, sondern der Weg der Wissenschaften, nicht Tugend, sonder Verwalterin der Tugenden, zur Erhellung des Verstandes und der Ergetzung der Augen geboren.

Damit bleibt die Kunst des schönen Schreibens dem "delectare" und "prodesse", dem Nützen und Erfreuen noch dort verpflichtet, wo sich der Schreiber um höchste "Kunstfertigkeit" bemüht. Und sie wird maniriert, wo er sich verkünstelt.

Das ist in der "Sho"-Kunst durchaus anders. Sie zeigt nicht und will nicht unter Beweis stellen die "Kunstfertigkeit" des Schreibers, sie ist vielmehr Ausdruck des "Lebensgefühls", aus dem heraus der Schreiber das oder die Schrift-Zeichen zu gestalten versucht.

Dabei gebe es, sagt Ijima Tsutomu, "unendlich viele Möglichkeiten, die eigene Freiheit zu behaupten und dem Zeichen die Gestalt zu geben", die "dem eigenen absoluten Leben" entspreche. Eine "unbeschränkte Ausdrucksfreiheit" könne durchaus dazu führen, daß das geschriebene Zeichen "nicht mehr ver
ständlich, das heißt unlesbar" sei. Das könne aber in Kauf genommen werden, weil es beim Betrachten eines "Sho"-Kunstwerks nicht so sehr darum gehe, "das Zeichen zu lesen und seine Bedeutung" zu verstehen, "sondern daß man es als Kunstwerk" betrachte und seinen "ästhetischen Inhalt" erfasse. Mit anderen Worten, es geht beim Betrachten einer "Sho"-Arbeit weniger um semantische als vielmehr um ästhetische Information, nicht um verstehendes Lesen, sondern um nachvollziehendes Betrachten.

Diese "Ausdrucksfreiheit" der "Sho"-Kunst bis an die Grenze der Unlesbarkeit hat im Westen zu einem weiteren, zweiten Mißverständnis geführt, nämlich die Kunst der Pinselschrift mit abstrakter Malerei zu vergleichen und, wo sie sich skriptural gebärdete, sogar zu verwechseln. Aber wo die abstrakte Kunst gegenstandlos ist, den Schreibgestus allenfalls fingiert, geht der "Sho"-Meister immer noch vom Schrift-Zeichen, von seiner Struktur und Bedeutung aus, um sie auf eine andere Ebene zu transponieren.

Ein drittes Mißverständnis, dem die "Sho"-Kunst im Westen ausgesetzt ist, besteht in Versuchen, an die mit dem Pinsel geschriebenen Bilder unsere ästhetischen Maßstäbe anzulegen, was in der Regel dazu führt, daß man an Äußerlichkeiten hängen bleibt und das Wesen der "Sho"-Kunst gleich doppelt verfehlt.

Richtig betrachtet, ist nämlich bei jeder "Sho"-Arbeit auf die "Linie" zu achten. "Die Schriftkunst", zitiere ich im Folgenden Zaitsu Nagatsugi, "besteht aus zwei entgegengesetzten Elementen, Weiß und Schwarz, die jenseits aller Farbwerte liegen. Das Schwarz als Element gewinnt durch die Form der schwarzen Linien seine Gestalt." Da nun alle Zeichen eine bestimmte Schreib-Reihenfolge haben, "nach der sich die schwarze Linie bewegt",ist die "Tuschlinie eine Linie in Bewegung. Da sie nach bestimmten Richtungen mit verschiedenen Geschwindigkeiten geschrieben wird, kann man die fließende Bewegung im sosho [...] mit den Augen selbstverständlich nachvollziehen. Insofern unterscheidet sie sich von derjenigen in der Malerei. Sie ist eine ununterbrochene Linie, denn selbst, wenn die schwarzen Linien auf dem Papier nicht verbunden sind, fließt die Idee der Linie über den leeren Raum hinweg in der Bewegung des Pinsels weiter, so als ob die Linie auf einem räumlichen Papier weitergeschrieben worden wäre. D.h. die Bedeutung des Geschriebenen ist die kontinuierliche geistige Verbindung."

Um das Wesen einer "Sho"-Arbeit zu erfassen, muß der Betrachter sich also erstens auf den Nachvollzug der "Linie" einlassen. Um die "geistige Tiefe" der Arbeit aber zu empfinden und zu erfassen, kommt noch ein Zweites hinzu, nämlich daß man der Arbeit die Intensität des Schreibakts abspürt. Ein solcher Schreibakt besteht nämlich nicht wie in der Kalligraphie in einer möglichst schönen Wiedergabe von Zeichen, sondern in einer geistigen Auseinandersetzung mit ihnen.

Das für mich einleuchtenste Beispiel habe ich Anfang der 60er Jahre bei dem "Sho"-Meister Morita Shiryu gelesen, der seine wiederholten Versuche, das Kanji "shi"[= Tod] zu schreiben, wie folgt begründete:
"Diese irdische Welt ist voll von Gegensätzen, Widersprüchen und Beschränkungen: Leben und Tod, Nichts und All. Für uns gibt es keine Freiheit, solange wir von diesen Gegensätzen und Beschränkungen gefesselt sind. Es ist unmöglich, daß unser Le-ben vollkommen funktioniert. Dies wird in der Tatsache klar und sinnfällig, daß zwischen meinem Ich und dem Schriftzeichen shi, wie ich es jetzt schreibe, ein Gegensatz besteht. Wie ich die Beschränkung dieses Schriftzeichens überwinde, wie ich mein Ich frei und vollkommen entfalten kann, darauf konzentriert sich mein ganzes Streben."

Morita Shiryu macht zugleich klar, daß er hier einen Wunsch formuliere, da es "schwierig" sei, ein befriedigendes "Werk zu vollbringen. [...] Zehnmal, sogar hundertmal muß ich neu schreiben. Jedesmal, wenn ich mit meiner Arbeit nicht zufrieden bin, prüfe ich meinen inneren Zustand, ehe ich die unbefriedigenden Formen und Linien entdecke. In der Tat, die meisten Fehler an meinem Werk haben ihre Ursache weit eher im inneren Seelenzustand als in der technischen Unzulänglichkeit. Auf diese Weise versuche ich durch Sho-Schreiben mein Ich zu finden."

Bumbo-shiho
Morita Shiryus Hinweis auf eine mögliche "technische Unzulänglichkeit bringt neben dem Was auch das Wie, die Praxis und Technik des Schreibens, die technisch-materialen Voraussetzungen der Schrift-Kunst zur Sprache. Mit ihrer Skizzierung möchte ich zugleich zur anschließenden Schreib-Demonstration Kei Suzukis überleiten.

Die Technik des Schreibens mit dem Pinsel weicht auf vielfache Weise von unseren Schreibgewohnheiten ab. Das beginnt mit der Haltung des Pinsels, den man traditioneller Weise senkrecht hält, undzwar mit gewölbter Hand. Anfängern gibt man dabei gelegentlich sogar ein rohes Ei in die Hand. Später nimmt sich der "Sho"-Meister allerdings bei der Haltung des Pinsels durchaus größere Freiheiten heraus.

Zweitens schreibt man von oben nach unten und - in der Regel - von rechts nach links. In dieser Richtung sind auch die "Sho"-Arbeiten zunächst zu lesen, will man den Verlauf der "Linie" entdecken und verfolgen.

Drittens ist beim Lesen einer "Sho"-Arbeit darauf zu achten, daß dem Schreibenden wahlweise verschiedene Schriftarten und -typen zur Verfügung stehen. Bei dem Traditionsbewußtsein der "Sho"-meister ist es kaum verwunderlich, daß auch alte

Schrifttypen, die eigentliche historische Phasen der Schriftentwicklung markieren, heute noch wahlweise benutzt werden können, so daß in der "Sho"-kunst verschiedene Schriften, chinesische "Kanji" und japanische "Hiragana", nebeneinander verwendet werden können. je nachdem, was und wie es der der Künstler ausdrücken möchte. Ferner sind im Werk Kei Suzukis vor allem zwei Schrifttypen zu beachten: die strenge "Tensho" und die freiere und fließende "Sosho", neben denen es noch die "Reisho, Kaisho" und, wiederum fließend, die "Gyosho" gibt. Für die heutige Demonstration hat Kei Suzuki dies mit fünf Fahnen belegt, mit einem 4-Wörter-Text, der von oben nach unten gelesen lautet: "Berg Pupurnebel Fluß Licht", oder etwas poetischer formuliert: "Der Berg verbirgt sich im Purpurnebel, hell leuchtet der Fluß".

Die Schreibmaterialien, die man auch die "Kostbarkeiten eines Literaturzimmers (= Bumbo-shiho)" nennt, sind der "Pinsel", "Pinselhalter", die "Tusche" und der "Tuschstein". Gelegentlich nennt man statt des "Pinselhalters" auch das "Papier", eine Viererfolge, an die ich michhalten werde.

Wählt man keine bereits fertige, besteht die "Tusche (= boku" aus einem meist länglichen harten Block, der aus Kiefernholzruß und Leim unter Zugabe von Duftstoffen gepreßt ist. Dabei wird zwischen zumeist verwendeter "schwarzer" und der selteneren, da nicht ganz leicht zu handhabenden "blauen" Tusche unterschieden. (Eine mit "blauer" Tusche geschriebene Arbeit hängt übrigens in der Ausstellung.)

Die "Tusche" wird vor dem Schreiben auf einem "Tuschstein (= suzuri)" unter Zugabe von Wasser in kreisenden Bewegungen angerieben, bis sie die vom Schreiber für den geplanten Schreibakt gewünschte Schwärze hat. Die "Tuschsteine" sind dabei oft Einzelstücke und nicht selten entsprechend wertvoll.

Im Falle des "Papiers (= gasenshi)" hat der Schreibende die Wahl zwischen dünnen oder dicken, weißen oder eher gelblichen, groben oder feinen Qualitäten, wobei die Papiere entweder aus der Rinde des Maulbeerbaums oder - in China - aus Seidelbast hergestellt sind, ein Papier, das Kei Suzuki für seine Arbeit bevorzugt. Die Wahl wird bestimmt durch das, was geschrieben werden soll. Das gilt auch für das Format. Will man z.B. ein Gedicht schreiben, wird man ein schmales Hochformat wählen, das man später auf eine Rolle aufziehen kann. Für die heutige Demonstration hat Kei Suzuki dies an zwei Tankas belegt, die aus einem Kettengedicht von Syun Suzuki und mir stammen.

Für andere Absichten sind verschieden große Formate im Handel. Sie können aber auch durch Zuschneiden individuell hergestellt bzw. durch Aneinanderfügen und -kleben vergrößert werden.

Die vierte "Kostbarkeit" schließlich ist der "Pinsel (= fude)". Auch hier gibt es natürlich die unterschiedlichsten Qualitäten: weiche oder harte, lange oder kurze, schmale oder dicke Pinsel. Und auch hier wird die Wahl immer davon abhängen, was der Schreibende auszudrücken versucht, welches Format er sich gewählt hat. Was für Überlegungen die Wahl des Pinsels bestimmen können, möchte ich mit einem bekannteren Beispiel belegen, einer chinesischen Mönchsarbeit (= "bokuseki") aus dem 13. Jahrhundert. Für seinen in "sosho" geschriebenen Text "Yün ch'ü-lai" (japanisch: "Un kyorai") = "Wolken gehen und kommen" benutzte Wu-an P'u-ning (japanisch: Gottan Funei), um den Duktus seiner Handschrift dem Inhalt des Textes adäquat zu machen, einen dicken, fast bürstenähnlichen Pinsel, der aber doch elastisch genug war, starke Druckunterschiede auf dem Papier in Gestalt wechselnder Strichdicke sichtbar zu machen, der andererseits aber auch einen "fei-pai"-Effekt an den Strichenden zuließ. (Zit. nach dem Ausstellungskatalog "Sho - Pinselschrift und Malerei in Japan vom 7.-19. Jahrhundert." Köln: Museum für Ostasiatische Kunst 1975).

Zu diesen "4 Kostbartkeiten des Studierzimmers" kommen schließlich noch hinzu die Unterlage, auf der geschrieben wird, meist ein rotes oder schwarzes oder blaues Filztuch. Man kann aber auch auf Decken oder Zeitungen schreiben. "Die Aula scheint leergeräumt", beschreibt 1991 Irmtraud Schaarschmidt- Richter eine größere gemeinsame Schreibübung in Kyoto: "Außer ein paar Bänken gibt es nichts zum Sitzen. Der Boden ist mit alten Decken und Lagen von Zeitungen fast völlig bedeckt. Dazwischen stehen Eimer und Schüsseln mit schwarzglänzender Flüssigkeit: Tusche. Pinsel liegen daneben, große armdicke und solche, die man kaum mit den Händen umfassen kann, wie Pferdeschwänze so mächtig."

Ergänzen muß ich dabei, daß die auf welchem Untergrund auch immer ausgebreiteten Papiere natürlich fixiert sein müssen, wobei es zum Fixieren verschiedene käufliche Gewichte gibt. Man kann aber auch - wie ich es gerne tue - Steine nehmen.

Ist endlich alles zum Schreiben vorbereitet, wobei die Vorbereitungen, z.B. das Anreiben der Tinte, bereits als Konzentrationsschritte aufgefaßt und genutzt werden können, folgt nach einer kürzeren oder längeren Konzentrationsphase, in der, mit den Worten Kei Suzukis, der Kopf leer und das Herz voll gemacht werden muß, die für westliche Augen ziemlich zügige Niederschrift, wobei - ich wiederhole - vor allem auf die "Linie" zu achten ist und die "Tiefe des Ausdrucks", das harmonische Ineinanderfließen von der strengen Form in den geistigen Inhalt.

Ist die Arbeit geschrieben, wird sie vom Künstler geprüft, und dies durchaus in dem Sinne, wie ich es mit Morita Shiryu beispielhaft zitiert habe. Erst dann und wenn das Ergebnis den Künstler befriedigt, wird signiert. D.h. im Falle der "Sho"Kunst gestempelt. Zu diesem Zweck hat der Künstler in der Regel mehrere Stempel aus Speckstein sich geschnitten oder schneiden lassen, unter denen er je nach Arbeit auswählt. Dabei ist es durchaus nicht unbedeutend, wohin, an welche Stelle der Arbeit der Künstler seinen Stempel druckt: stets in rot.

[VHS Stuttgart, 13.6.95]