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Reinhard Döhl | Säkularisierte Apokalypse

Wer sich einlässiger mit den letztjährigen Arbeiten Ursula und Dietmar Ihiele-Zolls beschäftigen will, könnte sein Interesse zunächst auf eine Einzelarbeit richten, die ihm vielleicht schon beim Betreten der Ausstellung auffiel wegen ihrer in Kreuzform geschichteten Platten. Von ihr, genauer: von ihrem Titel möchte auch ich ausgehen. Er lautet nach dem Willen der beiden Künstler: "Selig sind die Friedensstifter" und damit durchaus anders, als wir die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen im Ohr haben, nachdem sie in Luthers Verdolmetschung zur Quelle zahlreicher geflügelter Worte wurden. Als ein solches wird zum Beispiel gerne zitiert: "Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen", was Luther zwar folgenreich, aber nicht korrekt eingedeutscht hat. Denn was er mit "Selig sind die Friedfertigen" wiedergibt, lautet im griechischen Original: "makarioi oi eirävopoioi".

Diese aktive und nicht passive Valenz des "makarioi" war den Zeitgenossen Luthers durchaus geläufig. So paraphrasierte zum Beispiel Thomas von Kempen um 1410 in seiner vielgelesenen "De imitatio Christi": "Homo pacificus plus prodest quam bene doctus"; und Shakespeare übersetzt noch Ende des 16. Jahrhunderts in "Heinrich VI": "Blessed are the peacemakers on earth".

Auf dieses richtige Verständnis zielen auch Thiele-Zoll, wenn sie in ihrem Bildtitel sozusagen den Urtext wieder herstellen, unter der entscheidenden Auslassung allerdings seines zweiten Teiles: "denn sie werden Gottes Kinder heißen". Interpretatorisch will dies besagen, daß der Mensch nicht passiv der Dinge harren soll, die da kommen, sich nicht auf obrigkeitliche oder metaphysische Instanzen verlassen darf. Daß er vielmehr die Sache des Friedens als seine Sache in die eigenen Hände nehmen muß. Das erklärt auch, warum an Thiele-Zolls "Kreuz" der traditionell dort erwartete Christus ausgespart bleibt, warum das Kreuz in seiner Konstruktion nach unten verweist. Wie sich, anders gesehen, die konstruktive Schichtung des Kreuzes als Plädoyer für das Rationale, als bildlicher Ausdruck der Überzeugung deuten läßt, daß Überschaubare Lösungen möglich sein müßten.

Die Genauigkeit, die sich in diesem Fall bereits bei der Titelgebung beobachten läßt, ist zugleich der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Arbeiten Ursula und Dietmar Thiele-Zolls bringen lassen. Sie müssen bereits in ihren Voraussetzungen genau sein, um sie gemeinsam herstellen zu können. Und sie sind dies in zweifacher Weise: in ihrer Handwerklichkeit und in ihrem konstruktiven Ansatz. Zum Beleg des ersteren beschränke ich mich auf den leicht überprüfbaren Hinweis auf die für alle Arbeiten dieser Ausstellung charakteristischen Farbverzüge, die ausnahmslos mit dem Pinsel gemalt sind. Dieser Genauigkeit des
Handwerklichen entspricht der konstruktive Ansatz der Thiele-Zollschen Malerei, dessen konsequente Ausfaltung bereits in der Ausstellung 1978 auffällig wurde.

Ein Text Hans Fröhlichs hat damals darauf hingewiesen, daß die Bilder Thiele-Zolls "von zwei Räumlichkeiten bestimmt" würden. Und er hat diese Räumlichkeiten als "düstere, [...] leblose Urlandschaft, eine Ruine der Vergangenheit" und als "Durchblick ins Helle", als "Fenster der Utopie" charakterisiert, als "Raum der Depression" und als "Hoffnungsraum" unterschieden. Die Durchblicke, die Fensterbilder der folgenden Jahre ließen sich durchaus noch im Anschluß an die Beschreibung und Unterscheidung Fröhlichs betrachten.

Aber es läßt sich auf ihnen auch das bezeichnen, was die weitere Entwicklung wesentlich bestimmen sollte. Ich möchte es den Schritt vom architektonisch noch determinierten Raum, mit Durchbruch oder Ausblick auf etwas jenseits von ihm Liegendes, zum offenen Bildraum des Neben- und Gegeneinander nennen. In dem Augenblick, in dem es Thiele-Zoll gelingt, ihre ursprünglich architektonisch determinierten Räume in deren Elemente zu zerlegen, gewinnen sie den entscheidenden Spielraum freier Kombination und Variierbarkeit.

Will man diese Elemente benennen, wären dies zunächst die von unten ins Bild ragenden oder die von oben ins Bild fallenden Platten, die ich zugleich als konstruktives Element dieser Bilder bezeichnen möchte. Es wäre zweitens das Wechselspiel von Hell und Dunkel, physikalisch gesprochen: von an- und abwesender Farbe, das sich zunehmend als aufreißende Flächen, im Aufreißen von Flächen darstellt. Diese Hell/Dunkelflächen sind gegeneinander und in sich amorph, was sie drittens den konstruktiven Elementen antithetisch zuordnet. Eine viertens zunehmende Farbigkeit, vor allem aber das Nebeneinander von Farbfläche und Farbverzug gewinnen neben dem Wechselspiel von Oben und Unten, Hell und Dunkel, Konstruktiv und Amorph den Bildern Thiele-Zolls fünftens ihre eigentümliche Bild- oder Raumtiefe.

Dieses Wechselspiel ihrer Elemente, ihre Variabilität und Kombinationsmöglichkeit, die eine Bildserie ebenso zuläßt wie die Variation oder eine Positiv-Negativ-Umkehrung gefundener Lösungen, führte Thiele-Zoll zu einer Komplexität, die das ursprüngliche Assoziationsfeld ihrer Bilder wesentlich erweiterte. Das gilt zum Beispiel für das Bild, von dessen Titel ich ausging, das gilt insbesondere für die drei zusammengehörigen Bilder, denen Thiele-Zoll den Titel "Verheißung" gegeben haben. Ich wies bereits in einer Fußnote darauf hin, daß sich dieser Titel in Anführungszeichen versteht, daß er zugleich Zitat und unüblich gemeint ist.

Eine einlässigere Exegese wird sich damit aber nicht zufrieden geben dürfen, müßte zunächst einmal den genauen Titel nachtragen: "Verheißung oder Die Zukunft wird schöner sein als alles, was je zuvor auf Erden war". Er formuliert also, wenn auch ironisch, genau das, was die Bilder selbst in frage stellen wollen: ein Versprechen auf die Zukunft.

Nun sind Verheißungen auf Künftiges - je nach ihrem ideologischen Fundament - inhaltlich durchaus unterschiedlich besetzt. Für den Marxisten zum Beispiel ist Zukunft eine nach Aufhebung aller gesellschaftlichen Diskriminierungen und Unterschiede klassenlose Gesellschaft, im Verständnis Ernst Blochs: geschichtliches Ziel und ein Paradies am Ende. Für das Christentum ist
Zukunft, nach dem selbstverschuldeten Verlust des Paradieses am Anfang und dem Durchschreiten des irdischen Jammertales, die Hoffnung und Drohung zugleich eines Jüngsten Gerichts, das die Lebendigen und die Toten gleichermaßen erfaßt und, je nach Verdienst, belohnt oder bestraft: Verlust dieser und Gewinn einer neuen Welt: des Reiches Gottes.

Neben der sogenannten kleinen Apokalypse des Markus-Evangeliums hat vor allem die Offenbarung des Johannes die Buch- und Tafelmalerei seit dem Mittelalter zu immer neuen bildlichen Auslegungen angeregt. Im Rahmen der heutigen Ausstellung interessieren dabei die bildlichen Einzelheiten weniger als die Komposition dieser Apokalypsen. Bei ihr gibt es vor allem zwei Grundtypen.

Der erste (zum Beispiel in einer Darstellung des Meisters des Bambino Vispo in der Alten Pinakothek) teilt das Bild in drei Teile. Im oberen Teil die Majestas Domini (Christus als Weltrichter, umgeben von den 12 Aposteln). Um die Mittelachse herum verliert sich eine Landschaft mit Stadt im Hintergrund. Im unteren Teil erheben sich die Toten aus ihren Steinsärgen. Die deckenden Steinplatten sind beiseite geschoben und ragen diagonal versetzt nach oben. Und während auf der traditionell rechten Seite schwarze Teufel ihre Opfer holen, haben sich links am Rande die Anwärter auf das ewige Leben versammelt.

Durchaus anders stellt sich dies auf der Gerichtstafel Jan van Eycks dar, die in einer simplifizierenden Wiederholung durch Petrus Christus in den Staatlichen Museen Preußischer Kunstbesitz in Berlin hängt. Hier werden im oberen Teil die Seligen (übrigens nach Geschlechtern getrennt) von Christus und den 12 Aposteln empfangen. Um die Mittelachse herum erheben sich, in einer zwischen Erde und Wasser geteilten Landschaft, die Toten aus beiden Elementen. Eine brennende Stadt im Hintergrund signalisiert das Ende der irdischen Welt. Über die mit nackten Leibern vollgestopfte Hölle spannt sich im Unterteil fledermausähnlich das Skelett des Todes. Auf seinen Flügeln steht, mit den Schultern noch in den himmlischen Teil hineinragend und derart beides verbindend, der Erzengel Michael, mit dem Schwert in der Hand, als Richter der Verdammten.

Diese kurzen Inhaltsangaben reichen aus, zu erkennen, was die deutlich zweigeteilte Komposition des großen "Verheißungsbildes" von Thiele-Zoll ikonographisch anspielt. Deutlich lassen sich auf ihm ein lichterer Ober- und ein dunklerer Unterteil unterscheiden. Von der Mittelachse aus ragen die Blöcke sowohl nach oben wie nach unten. Dabei wirkt das vom unteren Bildrand aufgeschichte Blockfeld zweifellos bedrohlicher als die vom oberen Bildrand nach unten weisenden Blöcke. Links oben sind es übrigens genau sieben Blöcke, was sich durchaus als Anspielung auf die Apokalypse (das Buch mit den sieben Siegeln) deuten ließe. Und deutet man die beiden oberen Blockreihen bezogen auf die Mittelachse als angespieltes Kreuz, ließe sich dies ikonographisch auf das dem Christus der Apokalypsendarstellungen zugeordnete Kreuz münzen. Auch eine gemessen an früheren Arbeiten Thiele-Zolls auffällige Farbigkeit könnte, diesen Befund bestätigend, in die Vergleichung miteinbezogen werden.

Nun ist das Gesagte von mir nicht so gemeint, als hätten Thiele-Zoll mit ihren Mitteln ein Jüngstes Gericht malen wollen. Das wäre ein Anachronismus. Was hier festzuhalten ist, ist etwas anderes, nämlich, daß Thiele-Zoll ein durch ihre immer komplexer gewordene Malerei entstandenes weites Assoziationsfeld nutzen, eine traditionelle Bildkomposition anzuspielen, die inhaltlich-traditionell als Jüngstes Gericht besetzt ist.

Interpretatorisch wird dabei, wie schon beim Kreuz-Bild, bedeutend, daß alle traditionell erwarteten Bildelemente fehlen, die zum Beispiel den Himmel als Ort der Seligen und die Hölle als Ort der Verdammten festlegen würden. Da aber weder himmlisches noch höllisches Bodenpersonal auftritt, fehlt auch eine ideologische Festschreibung. Wiederum, wie schon beim Kreuz-Bild, verweisen Thiele-Zoll also die Verantwortung an den Menschen selbst, der es in der Hand hat, aus eigener Kraft und eigenem Verstand eine Lösung zu finden, statt Verheißungen zu folgen. Daß sich der Mensch bei seiner Suche nach vernünftigen Lösungen gefälligst beeilen möge, signalisiert die als "Verheißung" ausgegebene säkularisierte Apokalypse. Nicht irgendwann einmal und dort findet das Ende dieser Welt statt, erhält der Mensch seine Quittung, sondern hier und vielleicht schon bald.

[Galerie Geiger Kornwestheim, 9.3.1985]