Reinhard Döhl | Narrenspiel und Maulwürfe oder vom Unsinn der Kunst gegen den Wahnsinn der Zeit

Der in seiner literarischen Bedeutung immer noch unterschätzte Günter Eich hat seine Leser zweimal nicht nur provoziert, sondern zu radikalem Nach- und Umdenken über Literatur angeregt. Das erste Mal 1959 in seiner Dankrede anläßlich der Verleihung des Büchnerpreises, deren Inhalt so brisant war, daß die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die bis dato alle Reden der Büchnerpreisträger im Wortlaut abgedruckt hatte, in diesem Fall sich auf eine sehr verkürzte, inhaltlich relativierende Wiedergabe und einen Kommentar beschränkte. Das zweite Mal provozierte Eich in den 60er Jahren seine Leser durch die Erfindung einer neuen, unsinnigen literarischen 'Gattung', die er "Maulwürfe" nannte. Aus ihnen zitiere ich den Text

KALAUER
Die Etymologie hat nachgewiesen, daß Kalauer nicht aus Calau stammen. Sie stammen aus Luckau. Ich weiß es, ich bin im Grenzgebiet beider Kreise aufgewachsen. Luckau hat eine Strafanstalt, Calau hat garnichts.
Die kleinen doldenförmig angeordneten Blüten brechen schon zeitig im Frühjahr aus dem noch gefrorenen Boden. Sie sind anspruchslos; wenn es keinen Regen gibt, ist ihnen auch ein Vortrag recht. Für Sonne bedanken sie sich. Sie sind lila und haben meine Jugend koloriert. Ich fände die Neubildung Kalukkauer recht glücklich.
Luckau hat keine großen Söhne, nur Zugereiste, was durch die Strafanstalt bedingt ist. Liebknecht hat hier Briefe geschrieben, es hat nichts genützt.
Wie gesagt, Kalauer sind keine Steigerung von Calau. Aber mir sind sie recht. Eine Möglichkeit, die Welt zu begreifen, vielleicht die einzige, anspruchslos und lila. (1a)

Die folgenden Äußerungen entnehme ich einem Interview des Jahres 1967:

Ich habe mich vom Ernst immer mehr zum Blödsinn hin entwickelt, ich finde also das Nichtvernünftige in der Welt so bestimmend, daß es auch in irgendweiner Weise zum Ausdruck kommen muß. Ich kann also den tiefen Ernst, den ich früher gepflegt habe, nicht mehr verstehen und kann ihn auch nicht aushalten, vielleicht kann man das, was ich heute mache, auch Humor nennen, aber ich würde es wirklich im dadaistischen Sinne anschauen, nämlich, daß der Blödsinn eine ganz bestimmte wichtige Funktion in der Literatur hat, vielleicht auch eine Funktion des Nichteinverständnisses mit der Welt.
[...] Gerade weil ich finde, daß Sprache unbenutzbar sein sollte, halte ich die[...] ganz extremen Dichtungsformen, die mit Buchstaben und sonstwas arbeiten, heute für ungeheuer wichtig und komischerweise auch für politisch wichtig. (1b)

Schon 1914 war Hugo Ball überzeugt, einer destruktiven entwertenden, schändenden Zeit (2a) mit keinem Prinzip der Vernunft mehr beikommen zu können: Gerade mit dem Vernunftprinzip muß gebrochen werden, aus Gründen einer höheren Vernunft (2b). Das impliziert bereits im Vorfeld die Frage nach dem Sinn des unsinnigen Unternehmens Dada, zumal dieser spezielle Gesichtspunkt der Analyse durch zahlreiche Äußerungen der späteren Dadaisten legitimiert und dimensioniert wird.

Ich beschränke mich bei der Frage nach dem Sinn des Unsinns von kleinen Exkursen abgesehen, auf den Zürcher Dada. Das ist zu rechtfertigen durch die Tatsache, daß der Zürcher Dada, nicht zuletzt bedingt durch seine internationale Besetzung, in einer bestimmten historischen Situation praktisch alle Tendenzen bündelte und in seinen Auftritten vereinte, die sich nach dem Kriege in seinen nationalen und lokalen Fortsetzungen verselbständigten und zum Teil gegenseitig ausschlossen. (3)

In der Sache stütze ich mich vor allem auf Zitate, die ich aus der Fülle einschlägiger Selbstäußerungen der Züricher Dadaisten wähle, und ihrer provisorischen Ordnung.

Auffallend häufig bei Arp findet sich das Stichwort Unsinn.

1) ich habe vier naturen. ich habe zwei dinge. ich habe fünf sinne. sinn ist ein unding. natur ist unsinn. platz da für die natur da. die natur ist ein weißer adler. platz dada für die natur dada. (4)

2) 1916 habe ich in zürich unter freuden dada geboren. dada ist für den unsinn das bedeutet nicht blödsinn. dada ist un-sinnig wie die natur und das leben. dada ist für die natur und gegen die kunst. dada will wie die natur jedem ding seinen wesentlichen platz geben. (5)

3) Der Dadaismus hat die schönen Künste überfallen. Er hat die Kunst für einen magischen Stuhlgang erklärt, die Venus von Milo klistiert und "Laokoon & Söhnen" nach tausendjährigem Ringkampf mit der Klapperschlange ermöglicht, endlich auszutreten. Der Dadaismus hat das Bejahen und Verneinen bis zum Nonsense geführt. Um Überheblichkeit und Anmaßung zu vernichten, war er destruktiv. (6)

4) Dada ist der Urgrund aller Kunst. Dada ist für den "Ohne- Sinn" der Kunst, was nicht Unsinn bedeutet. Dada ist ohne Sinn wie die Natur und gegen die Kunst. Dada ist unmittelbar wie die Natur und versucht jedem Ding seinen wesentlichen Platz zu geben. Dada ist moralisch wie die Natur. Dada ist für den unbegrenzten Sinn und die begrenzten Mittel. Das Leben ist für den Dadaisten der Sinn der Kunst. (7)

Diese der "Straßburger Konfiguration" und den "Dada-Sprüchen" entnommenen Zitate sind nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Denn was sich scheinbar in ihnen aufhebt, dada ist für den unsinn das bedeutet nicht blödsinn. dada ist unsinnig (Zitat 2) gegenüber Dada ist für den 'Ohne-Sinn' der Kunst, was nicht Unsinn bedeutet (Zitat 4), erklärt sich aus dem Kontext eindeutig.

Positiv: Dada ist für den Unsinn im Sinne von Ohne-Sinn, was, wie ich später noch ausführen werde, auch Gegen-Sinn [= gegen den etablierten Sinn] meint.

Negativ: Dada ist kein Unsinn im Sinne von Blödsinn.

Wie sehr Arp daran lag, einem schnell sich einstellenden und bis heute verbreiteten Mißverständnis Dadas als eines sinnlosen, törichten Unternehmens entgegenzutreten, belegt ein weiteres Zitat aus "Dada war kein Rüpelspiel" (8):

5) Wer von Dada nur seine possenhafte Phantastik beschreibt und nicht sein Wesen, nicht in seine überzeitliche Realität eindringt, wird von Dada nur ein wertloses Bruchstück geben.

Arps nur scheinbar widersprüchliche Äußerungen sind also kein postdadaistisches Geplänkel, kein Verwirrspiel mit dem Leser. Sie erklären sich vielmehr

In Parenthese: Diese Ambivalenz des Wortes und Begriffs Unsinn, das historisch Unerklärte dieser Ambivalenz sind nicht zuletzt auch Ursache dafür, daß es bis heute keine wissenschaftlich befriedigende diachrone und/ oder synchrone Darstellung der Unsinnspoesie gibt (9).

In den ersten vier Zitaten hat Arp den Unsinn auf merkwürdige Weise mit der Natur, der er entspreche (Zitat 1, 2 u. 3), und einer Kunst verbunden, gegen die er sich richte (Zitat 1, 2, 3 u. 4). Und er hat in Zitat 3 zwei der populärsten Werke der Bildhauerei paradigmatisch benannt. Wie aber ist dies zu verstehen?

Fraglos nicht so, daß der dadaistische Unsinn, die Venus zu klistieren und Laokoon das Austreten zu gestatten, ausschließlich Parodie der Vorlage ist. Sie war allenfalls ein willkommener Nebeneffekt, der die unnahbaren, massenhaft begafften Ausstellungsstücke des Louvre und des Vatikan vulgarisierte. (10). Die Zielrichtung des Überfalls ist die Rezeption des postulierten Kunstschönen, die Destruktion erfolgt in Hinblick auf die Überheblichkeit und Anmaßung des bürgerlichen Konsumenten und Kunstbetriebs. Bezeichnenderweise lautet der letzte Satz dieses "Dada-Spruchs" in der ersten Fassung der "Kunstismen" von 1925: Um die Indifferenz zu erreichen, war er destruktiv.

Und Marcel Duchamp erklärte: Meine Ironie ist die Ironie der Indifferenz, ist Meta-Ironie (11). Duchamp hätte genauso gut Unsinn sagen können, denn die Gleichgültigkeit gegenüber Kunst/Nichtkunst, Geschmack/Geschmacklosigkeit, schön/ häßlich hebt den Sinn auf, stellt tradierte ästhetische Ordnung in Frage. Weniger auf die Venus, den Laokoon zielte also der dadaistische Überfall, sondern auf bürgerliche Ästhetik und ihr triviales Pendant: die Nippfigur.

Dagegen hatten sich in einer Fülle lyrischer Herzensergießungen schon früher Autoren gewandt:

Wie einst die Medizäerin
Bist, Ärmste, du jetzt in der Mode
Und stehst in Gips, Porzlan und Zinn
Auf Schreibtisch, Ofen und Kommode.

Die Suppe dampft, Geplauder tönt,
Gezänk und schnödes Kindsgeschrei;
An das Gerümpel längst gewöhnt,
Schaust du an allem still vorbei.

Wie durch den Glanz des Tempeltors
Sieht man dich in die Ferne lauschen,
Und in der Muschel deines Ohrs
Hörst du azurne Wogen rauschen. (11)

Trotz Metamorphose in eine der Mode unterworfene Nippfigur, erst mediceische, dann Venus von Milo, bleibt die Substanz der Kunst, ihre klassische Größe letztlich unberührt. So jedenfalls verstehe ich Gottfried Kellers Gedicht aus dem Jahre 1878.

Skeptischer liest sich dies dreizehn Jahre später bei Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski, dessen kulturpessimistisches Sinnen zu Füßen der Venus von Milo jäh von lärmenden Touristen unterbrochen wird.

Doch da hat plötzlich Lärm mein Sinnen unterbrochen
und schwatzend ein Haufen Touristen den Saal betreten.
Rothaarig und mager, in buntem Plaid,
hält die Lady den roten Baedeker unterm Arm.
Ihr zählt die Schönheit und das grenzenlose Genie
nach Pfunden Sterling in unserem demokratischen Zeitalter.
Arbeiten, zum Ewigen hinstreben?... Wozu denn?
Er kommt ja trotzdem her und verleibt sich alles ein
ohne unsere Opfer zu kennen, unsrer Seufzer zu gedenken,
der Bankier oder der Kaufmann, Besitzer von Millionen...
So überlegte ich in quälendem Schmerz. (12)
Der von Keller beklagten kunstgewerblichen Popularisierung entspricht bei Mereschkowski die beklagte Banalisierung des Kunstwerks zum Objekt massentouristischer Begaffung. Der Glaube ans Ideal, ja das Ideal selbst sind durch ein alles sich einverleibendes kapitalistisches Zeitalter gefährdet. An Stelle des stillen, der ewigen Schönheit klassischer Kunst noch sicheren Rückblicks und -lauschens Kellers tritt bei Mereschkowski der Blick vielleicht in ein neues, besseres Jahrhundert, in dem der Mensch zur Schönheit [...] ähnlich der unwandelbaren Natur zurückkehre.

Gegen derartigen ästhetizistischen Optimismus, gezielt gegen den ästhetizistischen Kritiker Wjatscheslaw Polonskij polemisiert Vladimir Vladimirovic Majakowskij, als er, der Kämpfer für die Zukunft, 1927 wie ein Narr gekleidet im angeblichen (oder wirklichen?) Auftrag Polonskijs der Venus von Milo im Louvre seine Reverenz erweist. Für ihn ist sie kein Kunstwerk von aktuellem Wert mehr:

Aus freiem Willen, ungeachtet des Glanzes, hätt' ich
nie im Leben hierher mich auf die Socken qemacht.
Und als sich Majakowskij nach Erledigunq des Auftrags verabschiedet, verabschiedet er sich von einem Torso:
"Madame, adieu!"
Kein Lächeln, nicht ein Gruß von ihren Lippen.
Und derweil den nächsten Haufen Cook treibt an,
scheiden ohne Händeschütteln wir infolge völligen Fehlens einer Hand. (13)
Ich füge zur Abrundung noch unkommentiert zwei kurze, despektierliche Texte Jean Cocteaus an:
Allegorie
Nun... Sie wissen es genau... denken Sie nach: Ein großes, pockennarbiges Mädchen, ein wenig füllig, mit prächtigem Busen, herrlichen Schenkeln... kurzsichtig... Ich bin sicher, daß Sie wissen, von wem ich rede... Ach, es ist zu dumm... halt, warten Sie... ohne Arme? Aber... das ist die Venus von Milo.

Ein Landwirt hat kürzlich auf seinem Feld die Arme der Venus von Milo entdeckt. Wem gehören sie nun? Dem Landwirt oder der Venus von Milo? (14)

Die zahlreichen, der Venus von Milo zugeeigneten lyrischen Herzensergießungen, aus denen ich nicht auch noch zitieren will, lassen sich als literarischer Hintergrund, die Gedichte Kellers, Mereschkowskijs, Majakowskijs und Cocteaus als der kritische Kontext bezeichnen, vor dem/in dem Arps "DadaSpruch", Arps Definition des Dada aus dem Jahre 1925 in ihrem Gegensinn deutlich werden. Weder Parodie noch Kritik, Klage oder Absage an den gedankenlosen Ge- und Verbrauch der schönen Künste als eines dekorativen Kunstschönen, stellen sie das traditionelle Kunstwerk zur Disposition. Indem sie vorschlagen, unsinnigen Gebrauch davon zu machen, konterkarieren sie den bürgerlichen Mißbrauch der Kunst, heben sie den konventionell dem Kunstwerk zugeschriebenen und zugewiesenen Sinn und Zweck im Unsinn auf.

Noch deutlicher läßt sich dieser Affront gegen den bürger-lichen Mißbrauch von Kunstwerken an einem zweiten, nun nicht mehr nur verbalen Uberfall auf die schönen Künste zeigen: an einem ready made Marcel Duchamps. Zielte Arps Definition des Dada konkret auf zwei der populärsten Plastiken, zielt Duchamps ready made auf eines der populärsten Bilder des Abendlandes.

Auch zur "Mona Lisa" Leonardo da Vincis haben sich bezeichnenderweise eine Fülle dichterischer Reaktionen, speziell in Gedichtform angesammelt, allerdings erstaunlich wenige kritische Stimmen. Für den Zeitraum vor 1919, dem Entstehungsjahr des ready made, ist mir bisher überhaupt keine bekannt geworden.

Umso überraschender mußte es also wirken, wenn Duchamp der (in zahlreichen Drucken und auch sonst kunstgewerblich popularisierten) Mona Lisa einen Schnurr- und einen Ziegenbart attribuierte; wenn er dem derart verfremdeten Bild zusätzlich mit L.H.O.O.Q ein obszönes Wortspiel unterschrieb, das eine dem Arpschen Klistier durchaus vergleichbare Funktion hat. Nämlich: in der Potenzierung des Unsinnigen die kultische Institutionalisierung eines Kunstwerks und seine kunstgewerbliche Multiplizierung in Frage zu stellen. Man muß, will man die Unterschrift verstehen. die Buchstaben französisch aussprechen. Dann ergibt sich Elle (L) a chaud (H + O) au (O) cul (Q) [= Sie hat es warm unter dem Arsch]. (15)

Daß Duchamps ready made, Arps "Dada-Spruch" nicht primär auf die Mona Lisa, die Plastiken der Venus und des Laokoon zielten, vielmehr ihre Rezeption, eine sich an ihr orientierende Kunstauffassung und -produktion im Visier hatten, erhellt auch aus späteren Uberlegungen Arps zu seiner "Konkreten Kunst":

Als ich meine ersten konkreten Reliefs ausstellte, erklärte ich in einem kleinen Manifest die Kunst der Bürgers für sanktionierten Unsinn. Besonders diese nackten Männer, Frauen und Kinder aus Stein oder Bronze, die auf Plätzen, in Gärten und an Waldrändern aufgestellt sind und unermüdlich tanzen, nach Faltern jagen, Pfeile abschießen, Äpfel anbieten, Flöte blasen, sind der vollkommene Ausdruck einer unsinnigen Welt. Diese irrsinnigen Gebilde dürfen nicht mehr die Natur verunreinigen. (16)

Derart irrsinnige Gebilde sind also aus der Natur und damit einem Bereich, den Arp für sich und Dada reklamiert, zu entfernen. Ich erinnere, daß die einleitend vorgelegten vier Zitate den Unsinn nicht nur mit der Kunst, gegen die er sich richte, sondern auch mit der Natur, der er entspreche, verbanden. Und ich rekapituliere:

natur ist unsinn, dada ist unsinnig wie die natur und das leben. dada ist für die natur, Dada ist ohne Sinn wie die Natur und Dada ist unmittelbar wie die Natur und versucht, jedem Ding seinen wesentlichen Platz zu geben. Dada ist moralisch wie die Natur. (17)

Es ist relativ leicht, zu erklären, was Arp unter Natur nicht versteht. Otto Flakes Schlüsselroman des Zürcher Dada, "Nein und Ja. Roman des Jahres 1917", macht es anekdotisch deutlich:

Beziehungslosigkeit ist eine unserer Forderungen. Die Bilder, die mein Freund malt [...] beziehen sich nicht mehr auf das, was abzumalen überflüssig ist, weil es schon existiert. Hängen Sie seine Bilder an die Wand, suchen Sie umsonst Kuh und Nymphe darauf. Halten Sie sich für bedeutender, weil Sie [...] unermüdlich Spargel und Mädchen malen. [...] Spargel und Mädchen haben einen ganz anderen Zweck, als in Ihrem Öl aufzuerstehen - gegessen und beschlafen zu werden. Welch eine Existenz führen Sie inmitten arbeitender Bürgerlichkeit? Wäre der Bürger nicht ein so feiger Dummkopf, dann würde er ehrlich sagen, was er von Ihrer Lebensweise hält: Daß Künstler Tagediebe sind, vorredend, die Ölspargel seien so wichtig wie die echten, und deshalb sei es nötig, Akademien zu unterhalten. Die Gesichte meines Freunds wollen wenigstens nichts sein als Spiel, ihm so ernst wie Ihnen der Pan im Garten. (18)

Arp versteht unter Natur also nicht eine abbildbare äußere Wirklichkeit und ihre Gegenstände. Nicht um Nachahmung, ja nicht einmal um Abstraktion soll es sich bei den Werken der bildenden Kunst, der Literatur handeln, sondern um ein freies Spiel der Elemente, analog zu den Elementen der Natur.

In Ascona zeichnete ich mit Pinsel und Tusche abgebrochene Äste, Wurzeln, Gräser, Steine, die der See an den Strand gespült hatte. Diese Formen vereinfachte ich und vereinigte ihr Wesen in bewegten Ovalen, Sinnbildern der ewigen Verwandlung und des Werdens des Körpers. (19)

Der Formel Verwandlung und Werden entspricht an anderer Stelle die Formel von Vergehen und Werden, deren Wesen Arp durch Zerreißen des Papiers oder der Zeichnung in das Bild einbeziehen wollte. Es geht also um das Wesen der Natur und ihrer Teile, die ohne Ordnung und Hierarchie in ihr anzutreffen sind:

Der Dichter kräht, flucht, seufzt, stottert, jodelt wie es ihm paßt. Seine Gedichte gleichen der Natur. Nichtigkeiten, was die Menschen so nichtig nennen, sind ihm so kostbar wie eine erhabene Rhetorik; denn in der Natur ist ein Teilchen so schön und wichtig wie ein Stern, und die Menschen erst maßen sich an, zu bestimmen, was schön und was häßlich sei. (20)

Jetzt ist deutlich, was Arps Diktum von der unsinnigen Natur sagen will: gemessen an einer vom Menschen aufgestellten Sinn-ordnung, die oben und unten, erhaben und nichtig, schön und häßlich bestimmt, ist die Natur Unordnung. Sich für sie zu entscheiden, unmittelbar wie sie zu produzieren, jedem, auch den Nichtigen, seinen wesentlichen Platz zu geben, seine Materialien ohne Ansehen ihres behaupteten Wertes zu wählen (21), ist eine Entscheidung gegen die etablierte Ordnung, gegen eine in diesem Ordnungs- und Sinnsystem funktionierende Kunst - und so gesehen - für den Unsinn.

Für Arp und die anderen Dadaisten hatte das bürgerliche Ordnungs- und Sinnsystem mit Kriegsbeginn eine nahezu pathologische Dimension angenommen. Als sanktionierter Unsinn erschien ihnen die Kunst, als Wahnsinn der Krieg. Mord und Wahnsinn wetteiferten miteinander, als Dada 1916 aus dem Urgrund empor stieg, beginnt Arps Essay "Dada war kein Rüpelspiel". Und ein anderer Essay, "Tibiis canere" [= Flöten spielen; später u.d.T. "Dadaland"], setzt ein:

Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollten. Wir spürten, daß Banditen aufstehen würden, denen in ihrer Machtbesessenheit selbst die Kunst dazu diene, Menschen zu verdummen. (22)

Schließlich ist Arp davon überzeugt, daß neben der angebeteten Maschine vor allem ein grauenhafter und geschäftiger Wahnsinn [...] schuld daran sei, daß der Mensch die Schönheit nicht mehr erkenne. (23)

Die Ursache dieses Wahnsinns sieht Ball im Sinnverlust der Welt, einem daraus resultierenden Chaos. Der Dadaist wisse, hält er am 12.6.1916 in seinem Tagebuch fest, daß die Welt der Systeme in Trümmer ging, und daß die auf Barzahlung drängende Zeit einen Ramschausverkauf der entgötterten Philosophie eröffnet habe, (24)

Da der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor. Da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheint, bleibt nur die Blague und die blutige Pose. (25)

Dieses von Ball konstatierte Versagen von Kunst, Politik und Bekenntnis in ihren traditionellen Formen und Möglichkeiten hat die Anti-Kunst, die Provokationen und Manifestationen der dadaistischen Auftritte wesentlich mit bestimmt, die dem Wahnsinn der Zeit den Ohnesinn der Kunst kontrapunktierten. Es hat aber auch, wie bereits die Arp-Zitate ablesen ließen, zur Suche nach einer neuen und anderen, inkorrupten (26), unangreifbaren (27) Kunst geführt.

Angesichts eines Menschenbildes, das sich als Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken darstellt, sieht Ball ähnlich wie Arp den Künstler im Kampf mit dem Irrsinn, im aufs Äußerste gefährdeten Versuch, für einen Moment [...] das Gleichgewicht, die Balance, die Notwendigkeit und Harmonie zu finden (28). Weil seine Situation und Funktion so ganz anders sei als die des Künstlers der Gotik, der Früh- und Hochrenaissance, des Rokoko, wende er sich gegen sich selbst und gegen die Kunst (29). Und Ball schließt seinen berühmten Vortrag über Kandinsky am 7.4.1917 in der Galerie Dada, wiederum späteren Äußerungen Arps vergleichbar, in der Zuversicht, daß der Künstler, auf der Suche nach dem Wesentlichen, Geistigen, noch nicht Profanierten, im Bemühen um klare, unmißverständliche Formen, Flächen und Gewichte und ihre Ordnung, neue Naturwesen schaffen werde, die kein Gleichnis haben in der bekannten Welt. Daß er Bilder schaffen werde, die keine Naturnachahmungen mehr sind, sondern eine Vermehrung der Natur um neue, bisher unbekannte Erscheinungsformen und Geheimnisse. (30)

Diese neuen Kunstwerke haben mit der traditionellen, mißbräuchlichen Kunst allenfalls noch die Materialien gemeinsam, die, wie Kurt Schwitters zwei Jahre später pro domo fordern wird, aber um alle vom Auge wahrnehmbaren Materialien und alle erforderlichen Werkzeuge zu vermehren seien.

Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgendwelchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung der Materialien. (31)

Das zweckbestimmte Material gewinnt in der Entformung oder Entformelung, wie Schwitters den künstlerischen Prozeß auch bezeichnet, einen ästhetischen Sinn, der - bezogen auf die ursprüngliche Funktion - natürlich ebenso unsinnig ist wie im Vergleich mit einer Kunst logisch gegenständlicher Beziehungen. In Schwitters Worten:

Je intensiver das Kunstwerk die verstandesmäßig gegenständliche Logik zerstört, umso größer ist die Möglichkeit künstlerischen Aufbauens. (32)

Entsprechend ist Sinn - zentrale Voraussetzung der traditionellen Kunst - für Schwitters und sein Kunstverständnis allen-falls noch ein Faktor:

Ich werte Sinn gegen Unsinn! Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, weil er bislang so selten geformt wurde. Deshalb liebe ich Unsinn. (33)

Gewiß, Schwitters' Unsinn hat auf der Skala dadaistischen Unsinns einen anderen Stellenwert als der politische Unsinn des Berliner Dada, als der kabarettistische Unsinn des Zürcher Dada, als der mystische Unsinn Arps und Balls:

Alle lebendige Kunst aber wird irrational, primitiv und komplexhaft sein, eine Geheimsprache führen und Dokumente nicht der Erbauung, sondern der Paradoxie hinterlassen. (34)

Aber in der Wurzel berührt sich dies alles, ist Unsinn Reaktion auf den Wahnsinn der Zeit und zugleich das Wasserzeichen einer neu gewollten Kunst. Was Arp als Versuche bezeichnet, die anerzogenen, konventionellen Kunstformen zu überwinden (35), etwas Neues, Nichtdagewesenes zu schaffen (36), bringt Schwitters 1922 auf die lakonische Formel:

Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff der "Kunst" erst loswerden müssen, um zur "Kunst" zu gelangen. (37)

Angesichts des Wahnsinns der Zeit, den man auch als gesellschaftliche Neurose empfand, zeigte Dada durchaus auch Interesse an der durch Freud installierten Psychoanalyse. Raoul Hausmann und die Berliner Dadaisten sind fraglos durch den Freudschüler und -kritiker Otto Groß beeinflußt worden. (38)

Schon 1914 hatte Wieland Herzfelde (Bruder des bekannteren John Heartfield) in Franz Pfemferts Zeitschrift "Aktion" einen Aufsatz über "Die Ethik der Geisteskranken< veröffentlicht (39). Im gleichen Jahr notierte der damals in Berlin lebende Ball in seinem Tagebuch: Nietzsches Abgang ist gut. Man kann doch nicht sagen, auch er habe schließlich Vernunft angenommen (40). Ein Jahr später zitiert er die Forderung Baudelaires: Immer auf Sade zurückgehen (41), und kommentiert, daß dies heiße, auf den 'homme naturel' zurückzugehen, um das Böse zu erklären.

Aus der Hauptzeit des Zürcher Dada sind zwei Eintragungen vor allem von Interesse. Am 22. 6. 1916 avanciert de Sade - den Ball an anderer Stelle einen Pamphletisten nennt, der seine Pamphlete auch faktisch begehe (42) - fast zu einem Vorläufer des Dada. Er habe, schreibt Ball, zwar das Laster als die 'eigentliche' Natur des Menschen bezeichnet, aber nur die Sünden des ancien regime gebeichtet.

Der Marquis hat einen Feldzug mitgemacht! Die Tugendphrasen seiner 2eit erregen ihn bis zur Wut. Er will den Urtext wieder herstellen. Er ist völlig hemmungslos und infantil. (43)

Wobei vor allem die Formulierung er will den Urtext wieder herstellen erkennen läßt, wo Ball hier die Parallele zieht. Aber auch die närrischen Auftritte der Dadaisten in einer Welt, die zum Tollhaus geworden war, finden, ohne daß Ball dies extra betont, in der Biographie de Sades ihre Entsprechung:

Man steckt ihn in ein Irrenhaus. Aber dort macht er sich zum Narrenkönig und stellt die ganze Anstalt durch seine ad hoc geschriebenen obszönen Komödien auf den Kopf. (44)

Anfang August 1916 scheint sich Ball Cesare Lombrosos außerordentlich erfolgreiche anthropologische Studie "Genie und Irrsinn" geliehen zu haben. Bereits am 8. August läßt er sich nach offensichtlich einlässiger und beeindruckter Lektüre, diesmal mit deutlichem Bezug auf Dada, über das Buch aus:

Über die Insassen der Irrenhäuser denke ich heute anders als vor zehn Jahren. Die neuen Theorien, die wir aufstellen, streifen in ihrer Konsequenz bedenklich diese Sphäre. Die Kindlichkeit, die ich meine, grenzt an das Infantile, an die Demenz, an die Paranoia. Sie kommt aus dem Glauben an eine Ur- Erinnerung, an eine bis zur Unkenntnis verdrängte und verschüttete Welt, die in der Kunst durch den hemmungslosen Enthusiasmus, im Irrenhaus aber durch die Erkrankung befreit wird. Die Revolutionäre, die ich meine, sind eher dort, als in der heutigen mechanisierten Literatur und Politik zu suchen. Im unbedacht Infantilen, im Irrsinn, wo die Hemmungen zerstört sind, treten die von der Logik und vom Apparatus unberührten, unerreichten Ur-Schichten hervor, eine Welt mit eigenen Gesetzen und eigener Figur, die neue Rätsel und neue Aufgaben stellt, ebenso wie ein neuentdeckter Weltteil. (45)

Balls Auffassung, daß nur der hemmungslos enthusiastische Künstler und der Geisteskranke in der Lage seien, die Ur-Erinnerung, die Ur-Schichten freizulegen, sich dem Urtext zu nähern, wiederholt sich unter anderen Voraussetzungen Jahre später bei den Pariser Surrealisten, jetzt in praktischen Versuchen, einen Geisteszustand neu und künstlich herbeizuführen, welcher der echten geistigen Erkrankung in nichts nachstehe. (46)

Das ist von Ball in dieser Konsequenz noch nicht gemeint. Für ihn sind vielmehr der hemmungslos enthusiastische Künstler und der Geisteskranke in ihrer Wurzel Gegenspieler einer Welt, die - in den Worten Balls - durch Logik und Apparatus determiniert, nur eine mechanisierte Literatur und Politik hervorzubringen vermag. Was die poetischen Regeln und Gattungen ebenso einschließt wie politisches Kalkül, die angeblich politischen Notwendigkeiten und Zwänqe.

Gegen den Apparatus [das lateinische apparatus bedeutet - neben Zurüstung, Anstalten zu, Apparat - auch glänzende Zurüstung, Pracht, Glanz, Staat. Prunk, Pomp], gegen die Maschine setzte Dada die Kunst. Großer Triumph, der Kunst über die Maschine, lautet ein Tagebucheintrag Balls am 13.4.1916 (47). Und in der bildenden Kunst spiegeln zahlreiche Mechanomorphosen, Mechanomannequins, Metamaschinen (48) die kritische Haltung Dadas in eindrucksvoller Weise. Das unterscheidet ihn zum Beispiel in einem gewichtigen Punkt von der Technikeuphorie der italienischen Futuristen, deren Kriegsbegeisterung die Dadaisten schon deshalb nicht teilen konnten, weil ihr Wissen um den Einsatz von Maschinen in und für den Krieg dies keinesfalls mehr zugelassen hätte. (49)

Der Krieg beruht auf einem krassen Irrtum. Man hat die Menschen mit den Maschinen verwechselt. Man sollte die Maschinen dezimieren statt die Menschen. Wenn später einmal die Maschinen selbst und allein marschieren, wird das mehr in der Ordnung sein. Mit Recht wird dann alle Welt jubeln, wenn sie einander zertrümmern. (50)

Gegen die vorgebliche Logik setzte der Dada die A-Logik des Unsinns. Und er rückte dabei, nachdem der Krieg den Wahnsinn offenbar gemacht hatte, der sich bis dahin hinter der Logik der Sache verbarg, mit seinen Theorien und Unternehmungen in die Nähe jener Kranken, deren Geist sich anstandslos inmitten von Widersprüchen und Zusammenhanglosigkeiten, welche nur dem 'normalen' Menschen als solche vorkommen, bewegt. (51)

Damit bekommt eine Definition des Dada in Balls Tagebuch eine besondere Valenz. Ball notiert sie am 12.6.1916, zehn Tage bevor er zum dritten Mal auf den Marquis de Sade zu sprechen kommt und ihn einen Narrenkönig nennt.

Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; [...] ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle. (52)

Auf ihre Narrenrolle haben auch andere Dadaisten hinwiesen. So läßt sich ein späteres Gedicht Hans Arps ohne Einschränkung auf die Zürcher Dada-Jahre beziehen:

Als sei der ewige Schalk
in eigener Person
aus der himmelblauen Verzweiflung der
Unendlichkeit
in uns gefahren
gaben wir uns mit der übertriebensten
Possenhaftigkeit
einem schabernakalischen Scheinmanöver
von Singen, Harfenschlagen, Fiedeln, Trompeten, Trommeln hin.
Das in uns gesetzte Vertrauen
rechtfertigten wir voll und ganz.
Für den nicht endenwollenden Applaus
verbeugten wir uns bis zum Boden
und gaben alsdann noch ein makabres Stücklein, ein Totentänzlein,
ebenfalls herzhaft harfeschlagend, fiedelnd,
trompetend, trommelnd
und um keine Mißverständnisse über Einzelheiten des ernsten Themas
aufkommen zu lassen,
mit einer reichen Gebärdensprache begleitet,
drein. (53)
In einem absurden Welttheater agieren demnach die Dadaisten so, als sei der ewige Schalk in [sie] gefahren. Das verlangt Aufmerksamkeit, denn damit erhält das Narrenspiel neben seiner pathologischen auch eine religiöse Dimension. Daß Arp hier ohne Blasphemie an eine verzweifelte Regie Gottes denkt, ließe sich durch die Beiwörter der ewige Schalk, himmelblaue Verzweiflung, durch den Ort der Herkunft, die Unendlichkeit und schließlich durch das im schabernakalischen Scheinmanöver versteckte Tabernakel stützen. Auch die Instrumente verweisen auf den Bereich volkstümlich christlicher Musik.

Bei dem großen Interesse der Züricher Dadaisten am Mittelalter könnte Arp hier durchaus an die mittelalterlichen Narrenfeste gedacht haben, die in Paris an Neujahr, in anderen Orten an Epiphanias (gar am Fest der unschuldigen Kindlein) gefeiert wurden. Die Teilnehmer an diesen festa stultorum waren durchaus gläubige Christen, nahmen sich aber - vor dem Hintergrund des Mittelalters durchaus verständlich - einmal im Jahr die Narrenfreiheit, Liturgie und kirchliche Prozession zu persiflieren. (54)

Die Kirche hatte beschränktes Verständnis für diese als see-lische Hygiene, als Kompensationserscheinung, als dionysisch-antispiritualistischen Ausbruch erklärten festa stultorum (55) Daß Arp an eine Entsprechung gedacht haben könnte, legen Formulierungen wie übertriebenste Possenhaftigkeit, schabernakalisches Scheinmanöver durchaus nahe.

Die reiche Gebärdensprache ließe sich auf die Tanzgebärden in der Kirche ebenso beziehen wie auf die häßlichen und unsittlichen Gebärden (= turpes gesticulationes) des der Messe folgenden Umzugs. Das Publikum der Dada-Veranstaltungen entspräche dem Publikum der festa stultorum, wobei es in beiden Fällen zu Beteiligungen kam. Aber es gibt noch ein weiteres Indiz für meine Vermutung: das Bischofskostüm (56), das Ball beim erstmaligen Lesen seiner "Verse ohne Worte" trug. Ein erhaltenes Foto bestätigt, daß Ball durchaus berechtigt von Bischofskostüm spricht. Die Beschreibung in Balls Tagebuch unterstreicht den Charakter des religiös Grotesken:

Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, daß ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut. (57)

Diese Kostümierung, die Tatsache, daß Ball beim Vortrag seiner "Verse ohne Worte" in die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation fiel, jenen Stil des Meßgesangs annahm, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt - auch das könnte Arp an die Narrenfeste erinnert haben, speziell den auf ihnen die Messe lesenden gewählten Priester.

In Parenthese: Auch Arp selbst fällt bei einer Plattenaufzeichnung von Texten aus "die wolkenpumpe" in den Tonfall der Lamentation, wobei - anders als bei Ball - die Texte der "wolkenpumpe" diesen liturgischen Bereich im unsinnigen Kontext ständig anspielen: anno domini, passion, wein, engel, hochaltar, hölzerne apostel u.v.a.m. Darüber hinaus sind ganze Verse aus der Apokalypse verstellt in die "wolkenpumpe" eingegangen. (58)

Und noch ein Letztes läßt sich auch auf die mittelalterlichen Narrenfeste beziehen: die Vermummung und die Masken der Dadaisten. Ball selbst nennt sein Bischofskostüm eine Maske (59), kommt immer wieder auf Masken zu sprechen, die für Auftritte gebraucht und vor allem von Janco gefertigt werden. Ja Ball weist der Maske für den Dada eine grundsätzliche Bedeutung zu: Da die Zeit wie keine vorher auf die Vernichtung des Generösen abziele, sei dem Dadaisten jede Art Maske [...] willkommen (60). Oder Ball fragt: Der Dadaismus - ein Maskenspiel, ein Gelächter? Und dahinter eine Synthese der romantischen, dandystischen und - dämonistischen Theorien des 19. Jahrhunderts? (61)

Am 24.5.1916 bringt Janco für eine neue Soiree eine Anzahl Masken, die Ball an das japanische oder altgriechische Theater erinnern:

Jeder band sich sogleich eine um. Da geschah nun etwas Seltsames. Die Maske verlangte nicht nur sofort nach einem Kostüm, sie diktierte auch einen ganz bestimmten pathetischen, ja an Irrsinn streifenden Gestus. Ohne es fünf Minuten vorher auch nur geahnt zu haben, bewegten wir uns in den absonder-lichsten Figuren, drapiert und behängt mit unmöglichen Gegenständen, einer den andern in Einfällen überbietend. (62)

Ich muß hier noch einmal zu dem zuvor analysierten Gedicht Arps zurückkehren und darauf hinweisen, daß Arp in ihm das Narrenfest durch eine Zugabe, ein makabres Stücklein, ein Totentänzlein kontrapunktiert, was noch einmal aufs Mittelalter zurückweist (= Totentänzlein). Darüber hinaus entsprechen übertriebenste Possenhaftigkeit und Totentänzlein auf verblüffende Weise einer anderen Formel, mit der Ball die Programme des Cabaret Voltaire, des ersten Tummelplatzes des Zürcher Dada, umreißt: Was wir zelebrieren ist eine Buffonade und Totenmesse zugleich. (63)

Man kann diese Formeln, die Aufführung zum Beispiel eines Krippenspiels mit einem "Concert bruitiste" am 3.6.1916 als Ausdruck dadaistischer Indifferenz sehen und sich damit bescheiden. Ich möchte aber eine andere Bewertung vornehmen, indem ich Totentanz und Totenmesse auf das beziehe, was die Dadaisten Wahnsinn der Zeit nannten und der dunklen Seite des Mittelalters vielleicht verglichen.

Buffonade und übertriebenste Possenhaftigkeit wären dann die Formen dadaistischer Zelebration und Choreographie. Umgekehrt war den Dadaisten ein Krippenspiel nur in Form eines bruitistischen Konzerts, des akustischen Pendants einer aufs Außerste disharmonischen Zeit möglich. Daß dieses Krippenspiel inmitten des Jahres kein Gelächter provozierte, vermerkt Ball mit einer gewissen Verblüffung:

Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte es zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man es kaum erwartet. Wir begrüßten das Kind in der Kunst und im Leben. (64)

Ob Ball das ausbleibende Lachen richtig erklärt oder ob es dem Publikum angesichts dieser Mischung schlicht das Lachen verschlug, muß mangels weiterer Zeugnisse vorerst offen bleiben. Mit Sicherheit ist, wie Ball richtig vermerkt, diese Reaktion des Publikums des "Cabaret Voltaire" und anderer Zürcher Dada-Veranstaltungen untypisch. Letztlich unfähig, das eigentliche Anliegen des Unternehmens Dada zu begreifen, erwartete das Publikum vielmehr die Provokation, bereit, beim geringsten Anlaß auf sie zu reagieren. Undzwar nicht mit dem für ein Kabarett-Publikum üblichen Gelächter der Schadenfreude, der Zustimmung, allenfalls der Betroffenheit, sondern mit ganz anderen Reaktionen. Hohngelächter, registriert Hans Richter rückblickend, Zwischenrufe, deren Skala von Quatsch bis Laus, Schwein, unverschämt fächerte, Wutausbrüche, die bis zur Zerstörung des Bühnenaufbaus gingen. (65)

Das Gelächter, das man normalerweise auf seiten des Publikums erwartet, war in Zürich (und bei den späteren nationalen und lokalen Ausformungen des Dada) auf Seiten der Akteure. Und die lachten vor allem angesichts des Wahnsinns der Zeit. Was man sicherlich auch als Auslachen, als Versuch, den Wahnsinn zu verlachen, verstehen darf und zugleich als Versuch, sich aus der Ohnmacht durch Lachen zu befreien.

Regelmäßig trafen sich Anno Dada die Dadaisten nach dem Mittagessen im Cafe Odeon in Zürich. Obwohl das Mittagessen damals für die meisten unter uns in einer symbolischen Handlung bestand, wurden in einem Nu Berge von sagenhafter Bosheit und Dummheit durch unser gewaltiges Lachen zu Staub zermalmt,

erinnert sich zum Beispiel Arp (66), und Richter sekundiert ihn in seinen Dada-Erinnerungen:

An dem Gelächter, das wir ausstießen, erkannten uns die Laien und die Kunstgelehrten weit eher als an dem, was wir wirklich taten. [...] So zerstörten, brüskierten, verhöhnten wir - und lachten. Wir lachten alles aus. Wir lachten über uns selbst, wie über Kaiser, König und Vaterland, Bierbauch und Schnuller. Das Lachen nahmen wir ernst; erst das Lachen garan-tierte den Ernst, mit dem wir unsere Anti-Kunst betrieben auf dem Weg zur Entdeckung unserer selbst. (67)

Wiederum registriert bereits Balls Tagebuch das Zentrale dieser dadaistischen Reaktion: Der Dadaismus - ein Maskenspiel, ein Gelächter (68), stellt gegenüber: Wo für die Budenbesitzer der Schreck und das schlechte Gewissen beginnt, da beginnt für den Dadaisten ein helles Gelächter und eine milde Begütigung. (69)

Ein Eintrag vom 14.4.1916 macht schließlich deutlich, in welchem Maße die Programme des Cabaret Voltaire nicht nur Umschlagplatz neuer Kunstvorstellungen, sondern vor allem ein Reaktionspodium waren, auf dem das Gelächter der Akteure eine wesentliche Artikulationsmöglichkeit der Fronde (70) gegen das Prestige der europäischen Herrlichkeit war (71):

Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier ge-sprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, daß es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie. Ihr Idealismus? Er ist längst zum Gelächter geworden in seiner populären und seiner akademischer Ausgabe (72). Die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten? Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die Illusion wird sie zu schanden machen. (73)

Ich komme damit zum letzten Punkt meines Vortrags: den Auftritten Dadas im "Cabaret Voltaire" und an anderen Orten Zürichs, vor allem in der "Galerie Dada". Und ich gehe dabei aus von einem wahrscheinllch verschollenen Bild Jancos aus dem Jahre 1917, von dem sich nur eine sehr schlechte Abbildung und eine Beschreibung Arps erhalten haben.

In einem kunterbunten, überfüllten Lokal sind einige wunderliche Phantasten auf der Bühne zu sehen, welche Tzara, Janco, Ball, Huelsenbeck, Emmy Hennings und meine Wenigkeit darstellen. Wir vollführen einen Höllenlärm. Das Publikum um uns schreit, lacht, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Wir antworten darauf mit Liebesseufzern, mit Rülpsen, mit Gedichten, mit "Muh, Muh" und "Miau, Miau" mittelalterlicher Bruitisten. Tzara läßt sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsicht-baren Geige und verneigt sich bis zur Erde. Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt unaufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreideweiß wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet. (74)

So schlecht die erhaltene Abbildung ist, sie läßt dennoch erkennen, daß Arp hier nicht korrekt beschreibt. Die von der Zürcher Philharmonie ausgeliehene Kesselpauke ist auf dem Bild nicht auszumachen. Daß sie Arp in Erinnerung an Jancos Bild spontan einfiel, zeigt, wie auch ihre stete Erwähnung bei Ball und anderen, eine wie große und und nicht nur akustische Rolle sie in den Programmen des Cabaret Voltaire spielte. Ihre Dominanz ist noch spürbar, wenn Arp rückblickend einschränkt: Dada war nicht nur eine Kesselpauke, ein großer Lärm und Spaß (75)

Um jetzt mit der Bildbeschreibung fortzufahren: Im Hintergrund sieht man Ball am Klavier. Auf dem Podium mit vorgestreckten Armen, im Ausfallschritt, wahrscheinlicher aber beim Absolvieren von Kniebeugen, ist, am Monokel erkennbar, zunächst Tzara zu sehen. Die drei hintereinander in aufsteigender Linie angeordneten Herren sind von unten nach oben Richard Huelsenbeck, Arp und Janco. Neben Arp/Janco am rechten Bildrand tanzt Emmy Hennings. Wen die am unteren Podienrand turnende weibliche Figur darstellt, ist nicht auszumachen. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine Tänzerin aus der Tanzschule Rudolf von Labans, der damals versuchte, den Tanz aus seinen traditionellen Bindungen an das Theater und die Musik zu lösen und seine Bewegungen auf Gedichte, auf ihre Verse, Sätze, Worte abzustimmen. Offensichtlich führen die unbekannte weibliche Figur und Emmy Hennings einen in den Programmen sogenannten "Dadatanz" auf, während Tzara mit dem Vortrag eines sogenannten "§Poème gymnastique" befaßt sein dürfte, der zwei traditionelle Programmbestandteile des Kabarett, die Artistik und den Vortrag von Gedichten, unsinnig verbindet.

Tzara und ich, erinnert sich Huelsenbeck, machten Kniebeugen, ich las aus den "Phantastischen Gebeten", Tzara aus dem "Aventure celeste de Monsieur Antipyrine". (76)

Die Anordnung Huelsenbecks, Arps und des Malers selbst auf Jancos Bild macht wahrscheinlich, daß gerade ein Simultangedicht vorgetragen wird. Diese von Henri Barzon und Fernand Divoire schon 1911/1912 erprobte Methode, verschiedene Texte nebeneinander herzuführen und sich einander durchdringen zu lassen, wurde von den Dadaisten in Zürich, später in Berlin aus unterschiedlichsten Gründen praktiziert. Für Zürich sind hier vor allem drei Aspekte wichtig:

ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen, so zwar, daß ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen. Der Eigensinn eines Organons kommt in solchem Simultangedichte drastisch zum Ausdruck, und ebenso seine Bedingtheit durch die Begleitung. Die Geräusche (ein minutenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und dergleichen), haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene Existenz.

Das "Poème simultan" handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern. Die Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Be-stimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit zwischen der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind. (78)

Jancos Bild, seine erinnernde Beschreibung durch Arp umfassen aber noch nicht das ganze Spektrum der Zürcher Dadaauftritte. Ihr Nebeneinander von traditionellen und provozierenden Elementen ist zwar auffällig geworden, aber noch nicht erklärt. Statt von einem Nebeneinander sollte man eher - und ich lasse dabei die in der Tat traditionellen allerersten Veranstaltungen der "Künstlerkneipe Voltaire" aus - von einem Miteinander, wenn nicht gar von einer Mischung der Elemente sprechen.

Da wäre zum ersten das oft als eigentliche Leistung des Zürcher Dada kurzgeschlossene Element der gymnastischen, simultanen, bruitistischen Verlautbarungen. Zu ihnen rechne ich noch Balls "Verse ohne Worte", deren Traditionslinien sich zu den "parole in libertà" Marinettis aber auch zu Morgensterns unsinnigen Lautgedichten zurückverfolgen lassen. Mit dem wesentlichen Unterschied ihrer Präsentation, über die breits gesprochen wurde.

Ein weiteres Element der Dada-Auftritte wäre die Präsentation zeitgenössischer Dichtung, Kunst und Musik vor allem von Künstlern, denen sich die Dadaisten wesensverwandt fühlten oder denen sie zentrale Anregungen verdankten. Ich nenne vor allem die Namen Alfred Jarry, Wassilij Kandinsky, Guilleaume Apollinaire und Marinetti.

Ein drittes Element wären die nicht zu übersehenden Spuren mittelalterlicher bis barocker Mystik in den Programmen des Züricher Dada, für die ich vor allem Mechthild von Magdeburg, Jakob Böhme und Nostradamus nenne, von dem Ball am 23.5.1917 in seinem Tagebuch zitiert:

Einen Mißklang wird die Trombe geben,
der dem Himmel selbst den Kopf zerbricht.
Blut wird am blutdürstigen Munde kleben,
Milch und Honig an des Narrn Gesicht.
Für dieses mystisch-religiöse Element zeichnen vor allem Ball und Arp verantwortlich, für den der Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser belegt, er habe im gleichen Atemzuge von den deutschen Mystikern des Mittelalters und witzigen Störungen der Verdauungsorgane gesprochen.

Rückblickend haben sich die Dadaisten fast ausnahmslos bemüht, diese Mischung auf Grund ihrer eigenen Entwicklung zu gewichten, sogar zu verdünnen. Ball zum Beispiel wollte, bei seiner Flucht aus der Zeit ins Byzantinische Christentum (1923) und zu Dionysos Areopagita, in der Dada-Zeit nur noch so etwas wie eine mystische Geburt sehen:

Als mir das Wort "Dada" begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysos. D.A. - D.A. (über diese mystische Geburt schrieb H...k [= Huelsenbeck, R.D.]; auch ich in früheren Notizen. Damals trieb ich Buchstaben- und Wortalchemie). (79)

Ganz anders ließ später Huelsenbeck vom Züricher Dada als Leistung nur noch die drei Prinzipien des Bruitismus, der Simultaneität und des neuen Materials in der Malerei gelten. Das liest sich jedoch ganz anders, wenn man in Balls Tagebuch zurückblättert, wenn man ermittelt, was Huelsenbeck zu den Pro-grammen des Cabaret Voltaire beigetragen hat.

Schweinsblase Kesselpauke Zinnober cru cru cru
Theosophia pheumatica
die große Geistkunst = poeme bruitiste aufgeführt
zum erstenmal durch Richard Huelsenbeck DaDa
oder oder birribum birribum saust der Ochs im Kreis her um oder Bohraufträge für leichte Wurfminen-Rohlinge 7,6 cm Chauceur Beteiligung Soda calc. 98/100 %
Vorstehund damo birridamo holla di funga qualla di mango
damai da dai umbala damo. (80)
Was Balls Tagebuch in den Jahren 1916/1917 ausfaltet, bietet stellvertretend dieser Gedichtanfang im Stenogramm. Er nennt mit der Kriegsindustrie und der Aktienbörse (Bohraufträge für leichte Wurfminen-Rohlinge 7.6 cm  Chauceur Beteiligung Soda calc. 98/100 %) den eigentlichen Auslöser und Adressaten Dadas, mit der Kesselpauke das Instrumentarium, mit dem poème bruitiste eine wesentliche Spielform der Auftritte, auf deren mystisches Element, wenn auch ironisch, die Theosophia pneumatica verweist. Schließlich deuten bereits in der ersten Zeile Zinnober umgangssprachlich auf den Unsinn, die Schweinsblase - wichtiges Requisit nicht nur der alemannischen Fasnet - auf das Narrenspiel.

Ich komme zum Schluß und gehe dabei außer von der Ambivalenz des Wortes und Begriffs Unsinn davon aus,

Die spätbürgerlichen Wert- und Sinnvorstellungen hatten - kaum noch den nackten Materialismus verschleiernd - mit Ausbruch des Krieges durch Indienstnahme für nationale Propaganda und Kriegsmoral ihre moralische und ästhetische Integrität verloren.

Für seinen ausgestopften Schiller, beklagt dies Arp, sei der Bürger bereit, jederzeit ein Blutbad zu veranstalten (81). Während Huelsenbeck gar die Deutschen einekulturelle Vereinigung von Psychopathen schimpfte, die wie im deutschen 'Vaterlande', mit dem Goetheband im Tornister auszogen, um Franzosen und Russen auf ihre Bajonette zu spießen.

Vor diesem Mißbrauch (auch der Religion) war die Kultur nicht mehr zu schützen. Deshalb spricht Ball vom Bankrott der Ideen, dem Ramschausverkauf der entgötterten Philosophien. 1914 noch überzeugt, im Interesse einer höheren Vernunft nur mit dem Vernunftprinzip brechen zu müssen, muß Ball 1916 konstatieren, daß keinerlei Kunst, Politik und Bekenntnis dem kulturellen und moralischen Dammbruch gewachsen scheine. So blieben für eine Kunst und Literatur, die inkorrupt und unangreifbar, und das heißt auch: nicht manipulierbar sein wollte, zunächst und erstens nur der Unsinn und das Narrenspiel als Antwort auf einen Wahnsinn, der im Namen der Vernunft auftrat.

Da Kunst und Literatur sich immer a) im zeitgeschichtlichen Reflex und b) in der Auseinandersetzung mit vorhandener Kunst entwickeln, richtete sich das unsinnige Unternehmen Dada konsequent und zweitens gegen eine traditionelle Kunst, die sich als korrumpierbar erwiesen hatte, und eine Realität, die diese Korruption trieb. Das erklärt auch den anfänglichen Ikonoklasmus. Die für den Dada heute handelsübliche Formel Kunst und Antikunst ist also umzukehren in Anti-Kunst und Kunst, denn erst drittens entwickelte Dada in seinem Narrenspiel, durch Aufnahme und Verschärfung künstlerischer Tendenzen des Kubismus, Futurismus und Expressionismus, eigene und wesentliche Voraussetzungen einer abstrakten Kunst und konkreten Literatur (82), eröffnete er die Perspektiven sowohl auf die mystische Paradoxie wie auf das absurde Spiel des Verneinens und Bejahens.

So gelang Dada viertens wenigstens für kurze Zeit, im Unsinn Kunst und Literatur gesellschaftspolitischer Nutzbarmachung zu entziehen. Allerdings um den Preis, von seinem Publikum als Klamauk mißverstanden, letztlich also gar nicht verstanden zu werden.

Das garantierte ihm eine Narrenfreiheit, die er in dem Augenblick verlor, in dem seine Provokationen verständlicher wurden, weil sie sich, nurmehr karikierend, wieder eines konventionellen Zeichensystems bedienten. Als George Grosz zum Beispiel im Umfeld des Berliner Dada einem Christus am Kreuz eine Gasmaske aufsetzte und derart die unselige Rolle der Religion für die Kriegsmoral anprangerte, wurde dies ein Fall für die Gerichte. Grosz' Verurteilung wegen Gotteslästerung und Schädigung der Moral verurteilte eine kritische Position, die sich von der Opposition der Züricher Dadaisten in nichts unterschied außer in leichterer Verständlichkeit.

Es ist hier - um den historischen Exkurs aktuell zu machen - der Ort, zum Ausgangspunkt, zu Günter Eich zurückzukehren, diesmal zu seiner Büchnerpreisrede, die rund vierzig Jahre nach Dada so anstößig war, daß die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die bis dato alle Büchner-Preis-Reden in vollem Wortlaut abgedruckt hatte, in diesem Fall auf ein entschärfendes Referat auswich. Ich zitiere drei zentrale Passagen:

Am heftigsten ist bei uns die Reaktion, wenn es einer wagt, der abscheulichsten Sprachlenkung zu widersprechen, der religiösen. Gott zu sagen, wo der Teufel gemeint ist, ist eine fast selbstverständliche Übung geworden. Das so von aller Welt entleerte Wort bleibt als Dekoration brauchbar und macht die Fassade gefällig. Schiebt aber jemand die Papierblumen ein wenig beseite und entdeckt dahinter das zum Abfall Geworfene, das Gute, das Wahre, das Schöne, Glaube, Hoffnung und Liebe, geschunden und im Schmutz, entdeckt es das und fragt, was da vor sich geht, so ist er destruktiv, ein Nihilist und wühlt im Unrat. Wenn man das Wort Nihilismus durchaus verwenden will, so trifft es das Verfahren der Macht, die leere Worthülse für die Wahrheit auszugehen. [...]
Wir wissen, daß die Macht daran interessiert ist, daß alle Kunst die Grenze der Harmlosigkeit nicht überschreitet. Macht widerstrebt der Qualität. Sprache, die über die gelenkte, die von ihr genehmigte, hinausgeht, ist nicht erwünscht. Ihr blosses Vorhandensein stellt eine Kritik dar, etwas, das der Lenkung und damit der Macht selber widerspricht.
Sprache, damit ist auch die esoterische, die experimentierende, die radikale Sprache gemeint. Je heftiger sie der Sprachregelung widerspricht, um so mehr ist sie bewahrend. Nicht zufällig wird sie von der Macht mit besonderem Zorn verfolgt. Nicht weil der genehme Inhalt fehlt, sondern weil es nicht möglich ist, ihn hineinzupraktizieren. Weil da etwas entsteht, was nicht für die Macht einzusetzen ist. Es sind nicht die Inhalte, es ist die Sprache, die gegen die Macht wirkt. Die Partnerschaft der Sprache kann stärker sein als die Gegnerschaft der Meinung.

Wie schon vor ihm die Dadaisten, setzt aber Günter Eich nicht nur auf die experimentierende Sprache, er entscheidet sich Ende der 60er Jahre in der von ihm erfundenen Gattung der "Maulwürfe" zugleich für den Unsinn, den er Blödsinn nennt.

Ich habe, sagte es das einleitende Zitat, mich vom Ernst immer mehr zum Blödsinn hin entwickelt, ich finde also das Nichtvernünftige in der Welt so bestimmend, daß es auch in irgendweiner Weise zum Ausdruck kommen muß. Ich kann also den tiefen Ernst, den ich früher gepflegt habe, nicht mehr verstehen und kann ihn auch nicht aushalten, vielleicht kann man das, was ich heute mache, auch Humor nennen, aber ich würde es wirklich im dadaistischen Sinne anschauen, nämlich, daß der Blödsinn eine ganz bestimmte wichtige Funktion in der Literatur hat, vielleicht auch eine Funktion des Nichteinverständnisses mit der Welt.
Ich sehe meine politische Funktion in der Möglichkeit, eine Zementierung zu verhindern. Das scheint mir im politischen Sinne eine wichtige Sache zu sein, daß die Sprache im Fluß bleibt, daß sie nicht für reaktionäre Parolen verwendet werden kann. [...] Gerade weil ich finde, daß Sprache unbenutzbar sein sollte, halte ich die[...] ganz extremen Dichtungsformen, die mit Buchstaben und sonstwas arbeiten, heute für ungeheuer wichtig und komischerweise auch für politisch wichtig.

[Vortrag 9.1.1985, Mittwochgesellschaft, Universität Stuttgart. Druck gekürzt  zuerst in Text + Kritik, H. 92, Oktober 1986, S. 66-80. Durchgesehene frz. Fssg. Le non-sens de l'art contre la folie du temps. In: Mélusine. Cahiers de Centre de Recherches sur le Surréalisme. No IX. Arp Poète Plasticien. Actes du colloque de Strasbourg. Hrsg. von Aimée Bleikasten. Paris: Edition l'Age d'homme 1987, S. 205-224.]

Anmerkungen
1a) Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd I. Frankfurt/Main : Suhrkamp 1973, S. 305.
1b) Ebd., Bd IV, S. 408 f.
2a) Die Flucht aus der Zeit. München, Leipzig 1927. (Dafür künftig FdaZ).
2b) FdaZ.
3) Vgl. Döhl: Dadaismus.
4) WmuoA, 11.
5) WmuoA, 12.
6) UtT, 49f.
7) UtT, 50.
8) UtT, 20.
9) Vgl. Döhl in: Schweikle, Lang, Paulsen/Hermann u.a.
10) Anders bewertet dies Pierre: Futurismus und Dadaismus, 74.
11) GW V, 255 f.
12) Kranz, 57 f.
13) Kranz, 58 f.
15) Die gelegentlich anzutreffende Auffassung, es handle sich bei diesem ready made um eine Persiflage, greift zu kurz. Eine Zuweisung zum Surrealismus stellt bei der deutlichen Nachbarschaft zu Arps "Dada-Spruch" einen falschen Bezugsrahmen her. - Wesentlich aufregender ist Duchamps späterer Hinweis auf die zeitliche Nachbarschaft seiner ready mades zu Sigmund Freuds "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci", 1910, ²1919. 1965 entsteht "L.H.O.O.Q. rasée".
16) OmW, 97; UtT, 81.
17) Vgl. Ball, FadZ, 71: Bevor die Moral restituiert werden kann, muß vielleicht die Natur in einem phantastischen Sinne restituiert werden].
18) Nein und Ja, 78f.
19) UtT, 12.
20) UtT, 549 [?].
21) vgl. UtT, 10f.
22) UtT, 51.
23) UtT, 19.
24) FadZ, 99.
25) FadZ, 98.
26) Es geht vielleicht gar nicht um die Kunst, sondern um das inkorrupte Bild. FadZ, 170.
27) Es gilt, unangreifbare Sätze zu schreiben. Sätze, die jeglicher Ironie standhalten. Je besser der Satz, desto höher der Rang. Im Ausschalten der angreifbaren Syntax oder Assoziation bewährt sich die Summe dessen, was als Geschmack, Takt, Rhythmus und Weise den Stil und Stolz eines Schriftstellers ausmacht. FadZ, 39, bezogen auf Marinettis "parole in libertá"]
28) Pörtner, 139.
29) ebd.
30) Pörtner, 139. - Vgl. auch Arp: Meine Reliefs und Skulpturen fügte ich natürlich in die Natur ein. Bei näherer Betrachtung jedoch lassen sie erkennen, daß sie von Menschenhand geformt sind, darum nannte ich eine unter ihnen "Stein von Menschenhand geformt, UtT, 28.
31) Der Zweemann, I, 1, 18.
32) Der Zweemann, I, 2, 18.
33) Döhl, 773). - Vgl. dazu auch Raoul Hausmann: Der Dadaist liebt den Unsinn und haßt die Dummheit, AAwD, 167.
34) FadZ, 74.
35) UtT, 7.
36) Döhl, 50.
37) DBA, 16.
38) Vgl. Hausmanns "Morphopsychologie Dada's", AAwD, 11ff.
39) IV, 298 ff.
40) FadZ, 17. Ferner FadZ, 61: Die isolierten Geistesträger der letzten Epoche neigen zur Verfolgung, Epilepsie und Paralyse. Sie sind Besessene, Vertriebene, Maniakalische, ihrem Werk zuliebe. Sie wenden sich an das Publikum, als solle es sich ihrer Krankheit annehmen; sie legen ihm das Material zur Beurteilung ihrer Zustände vor.
41) FadZ, 69.
42) FadZ, 33.
43) FadZ, 104.
44) ebd..
45) FadZ, 111.
46) Duplessis, 27.
47) FadZ, 90.
48) Roters, 3/42 ff.
49) Der Krieg, den italienischen Futuristen in letzter Konsequenz eine Art Gesamtkunstwerk, war für die adaisten eine Mischung von Wahnsinn und Mord (s.o.), ein Tummelplatz für kannibalische Heldentaten, ein Schlachtfest (so Arp)].
50) FadZ, 34.
51) Duplessis, 23. - Weitere ebenfalls hierher gehörende Notate Balls seien wenigstens zitiert: Das Mittelalter lobte nicht nur die Torheit, sondern sogar die Idiotie. Die Barone schickten ihre Kinder zu idiotischen Familien in Pension, damit sie die Demut lernten, FadZ, 144. Am 19.5.1917 kommt es im Anschluß einer Wiederholung der Soirée "Alte und Neue Kunst" (Programm ® FadZ, 167) zu psychoanalytischen Debatten, deren Gegenstände zum Teil rückschließbar sind (FadZ, 169f.). Von größerem Gewicht ist auch Balls spätere Beschäftigung mit dem Komplex Mystik und Psychoanalyse (FadZ, 264f. und passim).
52) FadZ, 98.
53) WusS, 79 f.
54) Beschreibungen solcher Narrenfeste geben Flögel, 223ff., der auch ein Regensburger Narrenfest beschreibt (227); ferner Zacharias, 45f., der auch eine Miniatur mit Flagellanten, Tanzenden und Speisenden in einer Kirche abbildet.
55) Zacharias, 46. - Ad dionysisch-antispiritualistisch vgl. die Nennung des Marsyas in Arps "wolkenpumpe<, GG I, 65: gigantismus genannt marsyas, die wahre schönheit, es besteht aus rohem fleisch.
56) FadZ, 112.
57) Fadz, 105; vgl. ebd., 112.
58) Zum damaligen Interesse an der Apokalypse vgl. Döhl, 167; Ball, FadZ, 64 und passim. Ferner Mehring: "Der ganze Troß der apokalyptischen Reiter" (zit. Zwanziger Jahre, 3/19).
59) FadZ, 106.
60) FadZ, 98.
61) FadZ, 171.
62) FadZ, 96. - Vgl. auch den Vortrag über Kandinsky: Die stärkste Verwandtschaft haben ihre [der Künstler, R.D.] Werke noch mit den Angstmasken der primitiven Urvölker und den Pest- und Schreckensmasken der Peruaner, Australier und Neger (Pörtner, 139).
63) FadZ, 84.
64) FadZ, 97.
65) Dada, 81 f.
66), UtT, 40.
67) Dada, 66.
68) FadZ, 171.
69) FadZ, 99.
70) FadZ, 99.
71)FadZ, 101.
72) Vgl. auch FadZ, 101: Die Bildungs- und Kunstideale als Varietéprogramm -: Das ist unsere Art von "Candide" gegen die Zeit.
73) FadZ, 91.
74) UtT, 52 f.
75) UtT, 26.
(76)
77) In einer redaktionellen Notiz weist Ball ausdrücklich auf die Internationalität der von ihm hrsg. Sammlung "Cabaret Voltaire" hin und nennt die einzelnen Nationalitäten mit den jeweiligen Autoren in Klammern. Vgl. ferner seine Reaktion auf einen Ausstellungsplan Schickeles, der ihm nur international zusagen würde. Eine spezifisch deutsche [Ausstellung] hat wenig Sinn. Wie die Dinge liegen, würde sie der Rubrik Kulturpropaganda verfallen (FadZ, 81).
78) FadZ, 86.
79) FadZ, 313.
80) PG, 16.
81) UtT, 42.
82) Döhl/Durzak.