reinhard döhl | gedichte | wandtexte
nächstes jahr in jerusalem

ein winterpsalm für shosha

bis an den nagelmond
denk ich an dich
wenn die nacht mich nimmt

ich sehne mich
aber die vögel wollen nicht ziehen

noch schlägt mein herz
und der gebrochene flügel
wächst langsam zusammen

der krebs hat seinen panzer
die schnecke ihr haus

ich trage die scheidemünze
unter der zunge der kurs
ist nicht günstig

immer will ich dir sagen
wie lieb du mir bist

ins nächtliche geschrei der katzen
fallen die hunde ein kein hahn
kräht danach

deine briefe fledermäuse
in der dämmerung

deine augen eulenaugen
im negev dein gefieder
ein wind der abends einschläft

ungeduldig warte ich
auf besuch

wenn du bei mir wärest
wenn du bei mir bist
wenn du bei mir sein wirst

im kalender tage
an den fingern zähle ich nach

jerusalem ist eine jahreszeit
nichts weiter 800 meter hoch
eine stunde entfernt

lashana haba’a bijrushalajim
lashana haba’a bijrushalajim

alles andere weiss man
aus der zeitung leserzuschriften
flaschenpost in der regenzeit

tausend jahre ein tag
zwölf jahre eine ewigkeit

rauch des dezemberhimmels
von en kerem steigt nebel auf
es gibt kein firmament mehr

und unsere namen
aufgerufen im himmel

sonnenuntergänge zwischen
chromgelb und geraniumrot
ich denke weissblau

die lichtverhältnisse sind
das problem die farbe der steine

die rote katze
auf dem campus und moshe
der auf ein abendessen vorbeimault

im gedächtnis die stimme anitas
wie sie löwenzahn sagt

schon werden die tage länger
mit dem vollen mond
mit dem leeren mond

ein jahr ists jetzt her
etwas mehr als ein jahr

nicht gezählt die nächte
die ich bei dir war
erinnerst du dich

wie wir über die leine sprangen
und über die donau fuhren

gesteinigte landschaft
mauern aus mauern
die mauer

lashana haba’a bijrushalajim
bashana haba’a bijrushalajim

die wasserscheide ist überschritten
schon liegt tsofim hinter
und die wüste vor uns

in den gärten en gedis
verstecke ich mich

wenn wir über den jordan gehen
werde ich dir yam kinneret
übersetzen und yam-ha-melah

sodom wie war das
gedanken auf durchzug

geschichte aus zitaten
rahel am brunnen
shoshanna im bade

die shofaroth von yeriho
mazada ist gefallen

ich habe die sanduhren gestellt
rot grün und braun grau
verrinnt die zeit

in en sheva wird das brot knapp
und in kefar nahu das wasser

das gebrochene auge des schakals
neben der straße
weiß davon nichts

wunder hat es nie gegeben
sie sind lange her

wenn der schneegipel
des hermon aufrötet
über dem blütenmeer

wecke ich dich
unter dem apfelbaum

lashana haba’a bijrushalajim
bashana haba’a bijrushalajim
leshana haba’a bijrushalajim

sprich wörtlich
buchstäblich

taf shin resch kuf zadik
pe ain samech nun mem
lamed kaf jod tet chet

sain wav he chalet
gimel bet alef

wer spricht
sprichst du
spreche ich

sababa
ezeh ba’asah

stehe auf nordwind
und komm südwind
und wehe durch meinen garten

ich schlafe
aber mein herz wacht

shumi shumi
ha shulamit
kehr um kehr um

wir werden gewürzwein
trinken und granatapfelsaft

am ende denke ich
liegt eden vor uns
irgendwo da vorne

nächstes jahr in jerusalem
lashana haba’a bijrushalajim

[1998/99]


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