1. Brief | 2. Brief | 3. Brief | 4. Brief | 5. Brief | 6. Brief | 7. Brief | 8. Brief | 9. Brief
Lieber
Weckherlin,
zwar ists schon eine Weile
her, daß wir von Ihnen lasen, aber die Feste sind auch nicht mehr,
was sie Ihrer Zeit mal waren. In letzter Zeit gestalten sie sich eher unbeschreiblich,
dafür häufiger. Auch brachten die Orts- und Sachverwalter, seit
hier fast alles absolut professionell gemanagt wird, wobei sich Kultus
und Sport aufs Trefflichste ergänzen, das Image endlich unter Dach
und Fach. Ich schicke Ihnen, wegen des Portos mit getrennter Post als Drucksache,
den letzten Stuttgart-Almanach aus dem Consens-Verlag. Dissenz-Verlage
haben wir augenblicklich keine. Und namhaften Künstler glänzen
in der Regel durch Abwesenheit. Gerne erinnern wir uns der Jahre, in denen
sich in Niedlichs Bücherdienst Eggert oder der Edition und Galerie
Hansjörg Mayer und anderen Orts weniger die Einheimischen als Durchreisende
und Reingeschmeckte trafen. Manches ist damals ja hängen geblieben,
und die Sammlung Sohm als fröhliche Wissenschaft inzwischen in der
Staatsgalerie aufgebahrt.
Hat Herr Mayer unsere Grüße
übrigens ausgerichtet? Er lebt jetzt auch schon seit längerer
Zeit in London, wenn er nicht auf Reisen ist. Und die meisten der damaligen
Freunde kennen von Stuttgart nurmehr die Autobahn, die dran vorbeiführt.
Obwohl es dort häufiger Staus gibt, was man von der Kultur nicht behaupten
kann. Dabei werden für sie nicht mehr nur achtundsechzig Mark vierunddreißig
sondern, wie unser heimlicher Kulturkämmerer aufzählte, sogar
schon zweihundertachtundzwanzig Mark sechsundvierzig pro Kopf aufgewendet.
Natürlich wissen wir trotz angestellter Volkszählung nicht, über
wieviele Köpfe Stuttgart momentan verfügt und woran sie zu erkennen
sind. Aber wir bekommen in letzter Zeit selten Besuch. Daß der nach
Borsfleth ausgewanderte Helmut Heißenbüttel wortbrüchig
wurde, wie eine Tageszeitung schrieb, während die andere großräumig
darüber hinwegsah, daß Heissenbüttel also wortbrüchig
wurde und die letzte Ausstellung von K.R.H. Sonderborg eröffnet hat,
können wir uns nur als einen Kurzschluß zwischen äußerer
und innerer Emigration erklären. Unser Hegelintimus sieht es wohl
auch so, nachdem er bekannte, daß mit der Kultur seit 79 nemme viel
los sei. Leider ließ er offen, an welches Jahrhundert er dabei dachte.
Schließlich sind Sie schon eine Weile fort, floh Friedrich Schiller
1782 und ging Wilhelm Raabe 1870, wie wir annehmen des Klimas wegen. Jedenfalls
läßt sich Kultur weder durch Aufwendungen pro Kopf kaufen noch
machen. Manchmal wächst sie und entfaltet sich, wozu aber das hiesige
Kesselklima wenig günstig scheint. Eher zum Kesseltreiben, was jedoch
nach der allgemeinen architektonischen Flurbereinigung allenfalls auf dem
Wasen noch möglich ist. Die Ausverkäufe finden wie eh und je
in den dazu vorgesehenen Jahreszeiten statt. Als nächstes muß
das Künstlerhaus in der Gutenbergstraße daran glauben. Unsere
Kulturamtsleiterin wird es schon richten. Ungern möchten wir Sie übrigens
eines Tages als Erinnerungsplakette an einem unserer Häuser wiederentdecken.
Mit solchen versucht man neuerdings vorzuweisen, was man nicht mehr hat.
Ein landesüblicher Etikettenschwindel wie unsere Kulturgeschichte.
Geschichte kann nur werden, was kulturell Gegenwart war. Hier ist sie allenfalls
geschönte Vergangenheit.
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile
her, daß ich etwas von mir habe hören lassen. Aber vom Südfunk
gabs was auf die Ohren - für Fünfmarkfünf im Monat. Und
das konnte ich mir doch nicht entgehen lassen, vor allem das Dritte, das
sich hier Programm nennt. Keinesfalls dürfen Sie dies mit dem Dritten
aus Köln verwechseln, in dem gelegentlich San Francisco, John Cage,
Barry Bermange und andere zu Gast sind. Kölns Drittes ist sozusagen
Acustica International, auch Wörterfunk, während es uns hier
immer mehr die Sprache verschlägt und Klassisches allenfalls aus Schwetzingen,
wo der Spargel wächst, oder Ludwigsburg kommt, wo sie unlängst
eine Art musikalischer Mehrzweckhalle hingestellt haben für die, die
immer noch nicht auf das Dritte hören wollen. Natürlich ist das
eine Geschmacksfrage, über die man nicht streiten sollte, zumal es
im Dritten, Zweiten, Ersten erstens nicht nur was auf die Ohren, sondern
zweitens auch für jeden Geschmack gibt, wofür sich drittens night
and day neben Freund und Feind noch Hobbyköche und Jockeis in den
Studios zur Verfügung halten. Was so auf den Plattentellern angerichtet
wird, hält echt keinen Vergleich mehr aus und ist so scharf, daß
die täglichen Band- und Scheibenab- und -vorfälle bereits ein
Millionenloch in den Etat gerissen haben. Weshalb es jetzt gilt, die Minderheiten
ins Visier zu nehmen, obwohl denen längst Hören und Sehen vergangen
ist, seit der Frauenarzt von Bischofsbrück zusätzlich eine Abteilung
der Schwarzwaldklinik übernommen hat. Aber was klage ich. Was uns
nicht umbringt, macht uns stärker, hört man. Und hatten wir nicht
einige Sternstunden, als diese noch nicht mit Starstunden verwechselt wurden?
Gab es nicht um 1950 die sogenannte Genietruppe um Martin Walser, wenn
diese ihre hörspielgeschichtlich gewichtigen Auftritte auch nicht
an dem dafür vorgesehenen Platz hatte? Gab es nicht neben dem Radio-Essay
(unter Leitung von Alfred Andersch und Helmut Heißenbüttel)
ein Studio für Neue Literatur, aus dem wiederholt Hörspiele gesendet
wurden, die den eigentlich dafür Verantwortlichen nicht ins Kramlädchen
paßten? Und konnte man nicht unlängst John Cages Irischen Circus
über Finnegans Wake, leicht verschnitten, im Musikprogramm empfangen?
Allgemeiner gefragt: Muß ein Südfunkhörer nicht suchen,
was er im ausgedruckten Programm nicht findet, um vielleicht zu finden,
was er nicht gesucht hat? Den Frauenarzt von Bischofsbrück zum Beispiel
als Taschenbuchfolge oder das wirklich Neueste aus Literatur und Kunst
in den überregionalen (mehr als in den hiesigen, die sich dafür
halten) Tageszeitungen und Zeitschriften. Man sollte sich wirklich nicht
beklagen, wenn man am falschen Knopf gedreht hat. Und von einer Acustica
International sind wir hier weit entfernt. Der Tag geht, Johnny Walkman
kommt. Es ist Zeit, sich den Schlafrock anzuziehen und die Kopfhörer
über die Ohren zu stülpen. Snip snap. Vom Südfunk gibt's
- na, was wohl?
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile
her, daß Sie Ihre Metrik korrigierten. Aber die kam inzwischen ebenso
aus der Mode wie der Reim flöten ging. Statt an vers libre (Frankreich)
und parole in liberta (Italien) hielten wir uns an Parolen. Schon für
Wilhelm Raabe war ein Stuttgarter Dichter nurmehr eine Fiktion und an Christoph
Pechlin erinnert sich hier niemand mehr. Fragen Sie spaßeshalber
einmal den Computer der Landesbibliothek. Da werden sie Ihr blaues Wunder
erleben, auch wenn es, nach Ernst Bloch, nur rote Geheimnisse in der Welt
gibt. Friedrich Hegel jedenfalls schrieb seine Aesthetik in Preußen
oder so und hat, wenn auch rechtsöffentlich zitiert, lediglich unter
Linksreingeschmeckten noch ernsthafte Anhänger. Max Benses Augenblick
war zum Beispiel kein Papiertiger, sein aesthetisches Kolloquium nicht
von Pappe und die Stuttgarter Schule keinesfalls zu verachten, wie ich
einem Lexikon entnehme, obwohl ungesichert bleibt, ob letztere überhaupt
existiert hat und in welcher Form. Sicher ist lediglich, daß ihre
Schüler, von denen einige nicht einmal in Stuttgart ansässig
waren, weder Romane schrieben noch Versfüße zählten, statt
von Gedichten lieber von Texten sprachen, statt einer deutschen Poeterei
lieber einer Texttheorie oblagen und das Schöne programmierten. Das
machte einiges Geräusch auf (mehr als in) der Straße, war aber
auch weltläufig. So finden sich beispielsweise in der Bibliothek der
Musashino Bijutsu in Tokyo, neben Arbeiten aus dem Umfeld der legendären
Hochschule für Gestaltung in Ulm um Ulm und um Ulm herum, als Kulturelles
aus Stadt und Region ausschließlich Werke der Stuttgarter Schule.
Was leicht nachzuprüfen ist, aber auch Zufall sein kann, wie er nun
einmal, der Gräfin Orsina zum Possen, bei stochastischen Texten eine
Rolle spielt. Waren doch mit Rechenmaschinen hergestellte Texte, Partituren
und Grafiken ein nicht zu übersehendes Unterrichtsfach dieser Schule
ebenso wie eine zwischen Typografie und Bild angesiedelte Poesie. Between
Poetry and Painting, falls Sie sich freundlicherweise der hier einschlägigen
Ausstellung im Londoner Institute of Contemporary Arts erinnern wollen,
auf der wir uns seinerzeit um eine Verslänge verfehlten. In der Tat,
dort und im Bereich einer exakten Aesthetik war Stuttgart wirklich einmal
ganz nahe dran, ein ernstgenommener Partner der Welt zu werden. Vom Ballett
spreche ich nicht. Das brächte mich nur wieder auf die Versfüße,
von denen selbst in der Verbundstufe Kultus und Sport auf den Stuttgarter
und Landesschulen kaum mehr die Rede ist. Das ist Landespolitik, vor der
Sie zurecht nach London flüchteten. Nein: nicht Abseitsfalle und Schulgebet,
stattdessen Typografik und grafische Partitur, Bild und Text verbanden
sich experimentell und tendenziell im Lehrangebot der Stuttgarter Schule,
deren Existenz allerdings, Ableger hin, Lexikon her, nach wie vor ungesichert
ist. Halten wir uns also lieber an das Hausgemachte, dem Dannecker seinen
Schiller, obwohl Dannecker so schlecht auch nicht war, wie erst kürzlich
seine umfassende Ausstellung in der Staatsgalerie zeigte. Doch hat sich
dies in Deutschlands größtem Weindorf bisher genauso wenig herumgesprochen
wie die kulturgeschichtliche Tatsache einer Stuttgarter Schule und ihrer
internationalen Erfolge.
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile
her, daß Sie danach fragten - nein, die Ulmer Hochschule für
Gestaltung ist nicht mit der Donauschule zu verwechseln, obwohl auch Ulm
an der Donau liegt. Am besten merkt man sich den Unterschied mit Hilfe
des Alphabets, in dem Bill auf Altdorfer folgt. Auch die Staatsgalerie
und die Galerie der Stadt Stuttgart unterscheiden sich lediglich durch
einen Buchstaben wie Staat und Stadt. Doch sollte man a/d keinesfalls mit
Albrecht Dürer übersetzen, von dem es ausschließlich in
der Grafischen Sammlung einige vorzügliche Arbeiten gibt. Auch ist,
obwohl er gleichfalls in Sohms fröhlicher Wissenschaft vorkommt, keinesfalls
Albrecht/d gemeint. Den hätten Sie übrigens 1967 getrost zum
Destruction in Art-Symposion nach London einladen dürfen, wohin er
besser als nach Stuttgart gepaßt hätte.
Von Aufbau und Zerstörung
haben wir nämlich mehr als genug, nachdem unsere Architekten die Stadt
nach dem Kriege irreparabler schädigten als die schlimmsten Bombenangriffe.
Aber hatte das nicht unlängst auch Prinz Charles über London
sagen müssen? Leider hat man diese Nachkriegstrümmer nicht zu
einem zweiten Mahnmal ohne nachhaltigen Wert aufgehäuft und den ganzen
Asemwald zum Beispiel damit zugeschüttet, womit ich über Asemwald
und Birkenkopf wieder zu Altdorfer und Bill bzw. zu dem kleinen Unterschied
von a und b zurückkehre, der sich auch nicht mit Albrecht Döhl
erklärt, obwohl Pfahlers Karl mich seinerzeit so zu nennen pflegte
und ich unter diesem Vornamen im Heidelberger Forum Academicum sogar eine
Privatgalerie betrieben habe mit Arbeiten von Klaus Burkhardt, Günther
C. Kirchberger, Thomas Lenk und Friedrich Sieber. Die waren natürlich
nicht so berühmt wie Stuttgarts Jubelgreise Otto Dix und Oskar Schlemmer,
was denen zu Lebzeiten jedoch auch nichts einbrachte.
Immerhin: heute haben wir
neben dem Weindorf, dem Volksfest, einem "Teil der Kulturoffensive" übrigens,
wie unlängst unser Amtsblatt schrieb, heute haben wir neben dem Opernball,
dem Galeriefest, den Heimspielen des VfB und der Kickers, der Schleyerhalle,
dem Weißenhofturnier und "hallo stuttgart" unseren Dix in der Galerie
der Stadt und unsern Schlemmer in der Staatsgalerie zur öffentlichen
Begaffung aufgehängt. Damit hätten wir nicht nur das Rößle
unters Dächle gebracht, wir stellen sogar Ansprüche, die zur
Zeit etwa bei Apollo und Dionysos liegen. Wahrscheinlich handelt es sich
dabei um griechische Gastarbeiter, die sich neben den Italienern seit einiger
Zeit in Stuttgart recht breit machen und ihre Lokale zum Beispiel Poseidon
oder Delphi nennen statt Ochsen, Rößle, Schwanen usw. Überhaupt
wird hier alles langsam aber sicher unterwandert und überfremdet.
Auf dem Weindorf solls sogar Austern gegeben haben und, statt Schupfnudeln,
Spätzle und Kraut Tagliatella alle bolognese und Spagetti alle napoletana.
Und wenn Sie erst das Deutsch dieser Pizzabäcker hören würden!
Da war das Latein unseres alten Eberle doch eine andere Sache, wenn auch
seine Hauspostille dem Brecht seiner das Wasser nicht reichen konnte. Aber
Rottenburg liegt halt am Neckar und Augsburg am Lech.
Um aber endlich auf den
Apollo und Dionysos zurückzukommen:
Stellen Sie sich Schlemmer
einmal mit einer Kithara und Dix mit einer Syrinx oder Aulos vor. Bald
blas ich am Neckar, bald zupf ich am Nesenbach. Zwar kann man diese Gewässer
keineswegs mehr trüben, aber sie fangen beide mit N an, was wir im
Sinne Sebastian Blaus mit nemo nostrum oder nomen nescio übersetzen.
Dagegen kennt den Dix und den Schlemmer hier jedes Kind. Weshalb wir uns,
um im Bilde zu bleiben, den Schlemmer statt am Nesenbach mit seiner Kithara
jetzt als Säulenheiligen vorstellen müssen auf einem jener Postamente,
die Beuys dem Triadischen Ballett verschrieben hat. Und zu seinen Füßen
bläst der Dix auf einer mißtönenden Aulos, bis die Schwarte
kracht. Wir wissen beide, wies ausging. Es ist wirklich zum AusderHautfahren
und AufderSauausreiten, obwohl ich wegen der Betablocker, den Hormoncoctails
und Östrogenkoteletts vom Schlachten nur mehr wenig und von Frischeinudeln
nicht mehr viel halte.
Aber vielleicht verhält
sich dies alles ja auch ganz anders und Apollo und Marsyas, pardon: Apollo
und Dionysos - notabene: war Dix eigentlich Wein- oder Biertrinker? - also
Apollo und Dionysos unterscheiden sich lediglich in ihrem Anfangsbuchstaben
wie Staatsgalerie und Galerie der Stadt in ihrem vierten Buchstaben, weshalb
dann Apollo in der Galerie des Staates und Dionysos in der Stadtgalerie
zum Begaffen freigegeben sind. Dann wäre alles viel weniger anspruchsvoll
als angenommen und vielleicht lediglich eine Sache des Alphabets. Immerhin
war Stuttgart seinerzeit eine Hochburg der Sprachköche und -alchemisten.
Aber das ist auch schon eine Weile her. In diesem Sinne
adele
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile
her, daß wir uns zufällig in jenem alten Londoner Bureau trafen,
in dem schon Lemuel Gulliver und Robinson Crusoe ihre Reisen buchten. Aber
das Reisen ist länst nicht mehr, was es früher mal war, als Heinrich
Heine auf dem Wege nach Paris sein Wintermärchen schrieb, Ludwig Börne
auf dem Wege von Frankfurt nach Stuttgart die Postschnecke ritt, Erasmus
von Rotterdam auf dem Rücken eines Esels die Torheit pries und Justinus
Kerner sich mit seinen Reiseschatten auf den Weg nach Hamburg machte. Letztere
haben wir heute allenfalls noch unter den Augen oder werfen sie während
einer Kur. Statt die Postschnecke zu reiten, verspäten wir uns lieber
mit dem ICE oder drehen über dem Filderkraut Warteschleifen. Dem Erasmus
seinen Esel haben wir längst zu Salami, seine Torheit zu Taktik verarbeitet.
Und die Wintermärchen lassen auf sich warten, seit die Ferienindustrie
im Happy Stubai den Sommerschilauf erfunden hat. Zwischen den langen Samstägen
im Dezember und dem Winterschlußverkauf reichts gerade noch für
zwei Wochen Lanzarote, wo die Häberles sogar ein Ferienhäusle
haben sollen, oder ein paar Takte Südsee, wo schon der Gauguin - was
bereits etwas für Feinschmecker ist, wie die Kässpatzen von den
Dächern pfeifen. Ob Siebeck anschlägt und Reisen bildet, bliebe
bei der jährlichen Sintflut an Ferienfotos wirklich zu fragen. Immerhin
können wir uns anhand dieser wenigstens ein Bild davon machen, was
wir gesehen haben und brauchen vor Ort nicht mehr so genau hinzuschauen.
Was zugleich hilft, unser Gedächtnis zu entlasten, nachdem es uns
in diversen Untersuchungsausschüssen der letzten Zeit und in unserer
nur mühsam gestauten Mobilität ziemlich abhanden gekommen zu
sein scheint. Verdanken wir doch unseren Kreuzzügen gerade noch die
nach ihnen so genannte Dichtung und Uhlands Schwäbische Kunde, Columbus
die Entdeckung Amerikas und der Völkerwanderung, Sie wissen schon,
von welcher die Rede ist, daß wir eines Tages hier fußkrank
und halbverhungert zurückgelassen und vergessen wurden. Heute hält
uns natürlich nichts mehr dank unseres ferienfreundlichen Kalenders
mit seinen kirchlicher- und staatlicherseits verordneten Brückentagen.
Da ist allenfalls nur noch ein Kurzurlaub drin, wenn die großen Ferien
mit ihrer Kreuzfahrt längst abgehakt sind und der Zweiturlaub mit
seinen Staus bereits hinter uns liegt, während sich der Asylantenstrom
ungehemmt - aber davon wissen Sie in England ja auch ein Lied zu singen.
Das ist fast eine neue Völkerwanderung. Lassen diese Wirtschaftsflüchtlinge
doch, während wir aus ihren Ländern einführen, was der Markt
hergibt, und in unseren Ferien auch noch unser sauer verdientes Geld dort
lassen, lassen diese Asylanten doch einfach ihre Wirtschaft mitten in der
Saison im Stich und besetzen unsere Kirchen, wenn wir sie höflich
auffordern, sich dorthin zurückzuverflüchtigen, wo der Pfeffer
oder sonstwas wächst. Ölberg ja, aber Kreuzberg, nein, das darf
man wirklich nicht verwechseln. Da kann doch nicht einfach jeder Hergelaufene
kommen. Natürlich freuen wir uns über zahlende Gäste und
bieten für jeden Geldbeutel die passende Gastronomie und Hotelerie.
Und sollte es mit den Sternen hapern, unser guter Stern dreht sich nächtens
nicht nur überm Hauptbahnhof und nicht nur zur Weihnachtszeit. Heute
können wir, nachdem der Beelzebub, der jetzt in Jena Brillengläser
putzt, mit dem Teufel ausgetrieben wurde, heute können wir wieder
auf unsere Hauptstadt stolz sein, ohne befürchten zu müssen,
daß irgendeine Firma den Trip bezahlt hat von dem Geld, das wir im
Weihnachtsgeschäft als Weihnachtsgeld in die klingenden Firmenkassen
getragen haben. Heute wissen wir wieder, daß es unsere ehrlichen
Steuergroschen sind, mit denen unsere Stadtväter in der Weltgeschichte
herumreisen, in Japan zum Beispiel, obwohl wir dort nicht einmal eine Partnerstadt
haben, oder jetzt in jenem Nordamerika, welches Columbus seinerzeit um
Seemeilen verfehlte, weshalb wir uns dort noch etwas zu holen hoffen. Stuttgart
wirbt in Nordamerika, machten die Nachrichten es publik. Nun fragte ich
mich natürlich sofort, was wir einem Nordamerikaner, der ja bekanntlich
ungern auf sein Weltbild und seinen Geschmack verzichtet, an Entsprechendem
bieten können. Aber da las ich in derselben Tageszeitung beruhigenden
Nachrichten: Erneut Randale in der City / Handgranaten vom Flohmarkt /
In der S-Bahn gewütet. Täterduo festgenommen / Gangstertrio bedroht
Kellner mit Pistole / Drei Taschen voller Diebesgut / Einbruchserie am
Wochenende / Achtzigjähriger Handtasche entrissen / Fußgängerin
wehrt Entführer ab / Fausthiebe gegen einen blinden Fußgänger
/ Schmuck für 200 000 Mark gestohlen -Das kann sich, durch die Zahl
der Drogentoten und die neuesten Nachrichten aus der Szene ergänzt,
man kann ja schießlich nicht alles auf einmal haben, das kann sich,
denke ich, selbst in Nordamerika sehen lassen. Außerdem: nach Italien
reisen wir schon längst nicht mehr, seit unsere Spagettischlawiner
und Pizzabäcker den Paten ihre Schutzgebühren bereits hierzulande
abführen. Und das ist nicht etwa alles, was wir zu bieten haben. Zwar
geht es mit unserem Verein für Bewegungsspiele in letzter Zeit eher
neckarabwärts, aber es gibt ja noch die Leichtathletik- und Radweltmeisterschaft,
wenns auch mit der richtigen Vermarktung noch hapert, weil Späth-
und Zeitgeist immer noch verwechselt werden. Hatten wir für die Tour
de France seinerzeit nur Straßen, für die Radweltmeisterschaft
bereits Straßen und die Schleyerhalle anzubieten, können wir
den Leichtathleten sogar das Neckarstadion offerieren, in dem schon Kirchentage
abgewickelt wurden. Seitdem wir nämlich endlich von unserem hohen
Rößle herabgestiegen sind und unser Image unters Dächle
gebracht haben, müssen wir unseren größten Kinderspielplatz
lediglich noch überdachen. Und für eine sachgemäße
Vermarktung stünden der naheliegende Wangener Großmarkt, ferner
die zentral gelegene, unlängst restaurierte Markthalle mit Blick auf
Schloß und Schillerdenkmal zu Verfügung. Auf den Schlachthof
wäre allerdings weniger zu zählen. Leider steht, wie immer in
Fragen der Weltläufigkeit, auch hier nur unser Stadtober dem endgültigen
Fortschritt zur (un)heimlichen Sporthauptstadt noch im Wege, nachdem er
erst unlängst bekannte: I han koi Geld. Was doppelt unanständig
ist. Weil erstens, wenn man es hat, das Geld nämlich, es Gottes Segen
ist und denen gegenüber, die keines haben, unchristlich, sich damit
zu brüsten. Zweitens, weil, wenn man es aber nicht hat, es unklug
ist, dies zuzugeben. Denn dann stünde, wie unsere Kultur auch unser
Image im Regen, was bedeuten würde, daß das Dächle, unter
das wir unser Image gerade erst mit Hilfe einer Werbefirma gebracht haben
- demnächst schreibe ich Ihnen einmal, für welche Produkte diese
Firma so alles wirbt - also: dann stände, wie unsere Kultur auch unser
Image im Regen, was ja bedeuten würde, daß das Dächle,
unter das wir unser Image gerade mit Mühe gebracht haben, daß
dieses Dächle undicht ist. Und das dürften wir doch als Allerletztes
zugeben, nachdem wir dieses Image mit unseren Steuergeldern teuer genug
bezahlt haben. Image heißt, wie Sie besser wissen als ich, auch Schein.
Haben und Schein also, Scheine haben, das zählt hier, weiß
mit freundlichen Grüßen
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
sehr gefreut haben wir uns,
nach so langer Zeit wieder einmal von Ihnen zu hören. Ob Sie allerdings
gut daran tun, in naher Zukunft Stuttgart zu besuchen, wissen wir nicht.
Zwar haben wir inzwischen hier alles, was nicht niet- und nagelfest war
- d.h. die Nieten haben wir noch, nur der Nagel ist gegangen - jedenfalls
haben wir alles ins Fächle geräumt und unters Dächle gebracht,
oder doch fast alles, denn dem Gottfried sein Stadion solls Dächle
erst noch kriegen. Dann stehen wir auch dort nicht mehr im Regen, in dem
wir lieber die Kultur stehen lassen, neuerdings in der Staatsgalerie. Nicht
im Neubau, durch den wir, wie die Times schrieb, sogar mit der Tate gleichgezogen
haben. Aber im Altbau, wo die Bilder schon viel zu lange das Sonnenlicht
ausbaden müssen, von Kesselklima und Schwitzwasser ganz zu schweigen.
Da müßte, haben wir uns gesagt, dringend was geschehen. Und
so haben wirs auch angepackt, damit sich die Italiener und französischen
Impressionisten bei uns so richtig wohl fühlen, weil, Fremdenhaß
und sowas kennen wir als Expartner der Welt natürlich nicht. Da machen
wir doch glatt jede Menge Defizit für eine LeichtathletikWeEm und
sperren, in Erwartung der IGA, die Rentnerinnen, schon der Handtaschen
wegen, und die Kinderwägen aus dem Killesberggelände aus. Da
sind wir wirklich Weltmeister, im Sparen an der falschen Stelle. Deshalb
lassen wir die Staatsgalerie und ihre längst überfällige
Renovierung jetzt doch lieber rechts liegen oder links, was allenfalls
eine Frage der politischen Topographie und in letzter Zeit sowieso Glücksache
ist. Denn wozu brauchen wir in der Staatsgalerie angemessene Lichtverhältnisse,
notwendige Sicherheitsvorkehrungen, eine funktionierende Klimaanlage und
ein intaktes Dach, wenn wir unser Dächle haben und internationale
Garten- und Sportstadt Nummer eins sind? Da schließen wir lieber
den Impressionisten und Italienern die Räume. Wer so was sehen will,
soll doch gleich nach Paris in den umgebauten Bahnhof fahren oder nach
Italien oder wenigstens bis München, wohin wir ihrerzeit bereits die
Boisserees geschickt haben. Dann müssen wir auch nicht mehr mit anderen
großen Museen konkurrieren und vermeiden vor allem aufwendige Ausstellungen,
die uns bloß unnötig in die Presse brächten. Somit hätten
wir bei den täglichen Staus auf allen Straßen wenigstens einen
Kulturstau vermieden und könnten weiterhin auf unserer bewährten
Orthographie beharren, Sport groß und kultur klein zu schreiben.
Vielleicht besuche ich Sie nächsten Sommer in London, und wir werfen
gemeinsam einen Blick auf die National, die Tate, auf Albert & Victoria
oder machen einen kleinen Abstecher nach Sistinghurst oder Tintinhull.
Was meinen Sie?
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
Zwar ists schon eine Weile
her, daß wir von Ihnen lasen. Seit auch Sie im Amsterdamer Exilverlag
publizieren, kommen die Nachrichten spärlicher. Und unsere Vergeßlichkeit
in Sachen Kultur ist inzwischen sprichwörtlich. Zwar schlägt
eine unserer Stadtgazetten einmal wöchentlich die Brücke zur
Welt, aber das darf man so wörtlich auch wieder nicht nehmen oder
eher im Sinne von die Brücke rückwärts. Immerhin haben wir
uns wenigstens in Amsterdam treffen können und ein paar schöne
Stunden im Stedelijk Museum verbracht. Daß Bob Cobbing ihre Saufode
nicht kannte, hat mich ehrlich verwundert; aber Toman, Lamy, Sering und
Rumler waren ja auch da, und so hats doch noch geklappt mit dem Hem hoscha
hu und dem Bumb bidi bump. Und daß wir vor Vergnügen und voll
von altem Genever beinahe von der Brücke gesprungen wären, hätte
uns hier nicht passieren können. Dazu ist der Nekar zu dreckig. Hölderlin,
der sich neuerdings Scardanelli nennt, hält seine Turmfenster schon
seit längerem geschlossen oder flüchtet sich mit Mörike
und Waiblinger ins Presselsche Gartenhaus. Und Frischlin behauptet schon
seit jeher steif und fest, der Setzer habe ihm einen Streich gespielt.
Er habe nie gedichtet: urbs iacet ad Nigri colles; er habe eindeutig urbs
iacet ad colles nigros geschrieben, wie er überhaupt ziemlich schwarz
sähe. Augenblicklich sitzt er auf Hohenurach nur deshalb noch, weil
man sich nicht entscheiden kann, ob er auf den Hohenasperg oder gleich
nach Stammheim verlegt werden soll. Auf jeden Fall will man vermeiden,
daß er mit Schubart auf Conspiratives sinnt. Er ist fest entschlossen,
so bald er fliehen kann, daß Land zu verlassen. Und das ist vieleicht
wirklich seine einzige Chance, weil, wer hier das Land verläßt,
schnell in Vergessenheit gerät, wovon ja auch Sie ein Lied singen
können. Jedenfalls hat man in der Brücke zur Welt ihren Geburtstag
glatt vergessen, der heuer mit vierhundert ein schöner runder gewesen
wäre. Vergeßlichkeit hat hier Methode. Da wird im nächsten
Jahr zum Beispiel die Gruppe 11, Sie erinnern sich, das waren die Herren,
die Sie in der Drian Galery trafen, 30 Jahre alt und ich habe mir die Absätze
schief gelaufen, der Gruppe nach 30 Jahren endlich auch in Stuttgart eine
gemeinsame Ausstellung zu verschaffen. Dabei kam nur mein Schuster auf
seine Kosten, wegen der Absätze. Aber was entfällt einem hier
nicht alles. Jetzt habe ich den konkreten Anlaß meines Briefes glatt
vergessen. So gehts, wenn man ins Nachdenken kommt, immer kommt was dazwischen
und man aus dem Ärger nicht mehr heraus. Wobei mir einfällt,
daß ich Ihnen eigentlich nur schreiben wollte, daß wir Ihrer
gestern gedacht haben, mit Bumb bidi bump und Hem hoscha hu, bis ich 50
war, nach dem wir uns ausgerechnet hatten, daß Sie nur einmal und
heute acht mal älter und auch gescheuter sind als ich, was schon daraus
erhellt, daß sie bereits in den 20er Jahren nach London gingen und
ich in den 80ern immer noch hier hocke, obwohl Sie mir in Amsterdam geraten
hatten, zu gehen. Damals wäre ich genau so alt gewesen, wie sie waren,
als sie gingen. Nur, wohin hätte ich gehen sollen? Und hatten wir
damals nicht vielleicht auch einigen Grund zu hoffen, nachdem Sohms happening-Ausstellung
sogar in Stuttgart Station machte, die Amsterdamer Ausstellung visueller
und akustischer Poesie hier durchreiste wie in den Jahren zuvor die Happening-Künstler,
Diter Rot in der Alexanderstraße sogar seine Zelte aufschlug und
der Kunstverein mit der Ausstellung Form durch Farbe nur unwesentlich hinter
Denis Renes Hard egde hinterherhinkte. Hier gab es wirklich für ein
paar Augenblicke eine Brücke zur Welt. Aber ich hätte auf Sie
hören sollen: Denis Rene war zuerst, Sohms Archiv kam aus Köln
und unsere Ausstellung hatten wir in Amsterdam konzipiert und aufgebaut.
Auch ist es mit Brücken eine eigene Sache. Vergleichen sie mal die
vom Rosensteinpark über den Neckar mit der in Säckingen über
den Rhein oder der in Fulpmes über den Ruetzbach.
Herzlich
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile
her, daß mir Lichtenberg Ihre Grüße ausrichtete und von
London erzählte. Er sprach allerdings auch von Geschichtchen, die
er deswegen für sich behalte, weil einige Worte nicht ausgeschrieben
werden könnten. Auch habe er es bald im Hals, bald in den Augen, bald
in den Zähnen gehabt. Seit gestern glaube ich zu wissen, was er meinte.
Jedenfalls weiß ich jetzt, daß Stuttgart kurz davor ist, eine
wirkliche Weltstadt sein werden, bedeutender noch als London und mindestens
so aufregend wie New York. Ich mußte nämlich gestern in die
Staatsgalerie, wo sie den Stella ausstellen. In der Zeitung stand sogar
zu lesen, daß der erste Deutsche, der einen Stella gekauft habe,
jener Stuttgarter Galerist sei, der sich auf Kunst spezialisiert habe,
die nicht von Können komme, was er groß schrieb, während
der Duden nur Kleinschreibung vorsieht. Jetzt hat er für alle, die
ihm geglaubt haben, die Strafinsel Atlantis geplant mit einer Architektur,
an der gemessen unser Stirling silbernes Zeitalter und griechische Klassik
scheint, obwohl auch er nur postmodern bauen soll, wie diejenigen behaupten,
die der Moderne immer schon hinterherhinkten. Also, wie ich zur Straßenbahn
gehe, die neuerdings die Pferdebahn ersetzt, seit die ihre sprichwörtliche
Stärke an die Karosserieschneider abtreten mußte, die ihren
Verschnitt wiederum Halbstarken verleasen - also, wie ich über den
Zebrastreifen zur Haltestelle gehe, hätte mich so ein potenzierter
PSler fast geschafft. Kaum hatte ich mich in der Straßenbahn in Sicherheit
gebracht, stiegen zwei Anhänger der vielbeschworenen Streitkultur
zu, deren einer überdies Künstler gewesen sein muß, weil
er plötzlich auf Spraykunst machte und seinen Gegner und uns mit Tränengas
fixierte. Soweit ich überhaupt noch sehen und vermuten konnte, wollte
er wohl eine art invisible mit Langzeitwirkung auf den Betrachter kreieren,
was ihm auch ganz gut gelungen ist, denn vom sogenannten Kulturamt ließ
sich niemand sehen und ich habe es heute noch bald im Hals, bald in den
Augen, bald in den Zähnen, obwohl ich mit allen anderen in den vorderen
Wagen umgestiegen war, damit der geschlossene Anhänger als Kunstwerk
durch die Stadt gefahren werden konnte. Was die Stuttgarter ebenso wenig
wahrgenommen haben wie seinerzeit des Kaisers neue Kleider oder bis heute
ihre einheimischen Künstler. Dabei tut die Stuttgarter Straßenbahn
viel für die Kunst, nach der These Beuys', daß in jedem von
uns ein Künstler steke. Vor jeder Haltestelle sendet sie zum Beispiel
verstümmelte Botschaften über die Lautsprecher. Über den
Plätzen für die Behinderten publiziert sie goldene Worte. Und
während ihr Wagenpark äußerlich nur von den besten Schildermalern
gestaltet wird, bleibt innen noch genügend Platz für Selbstverwirklichung
und freie Entfaltung der Fontana- und Graffitojünger und -schulen.
Als mir die Augen nicht mehr so übergingen, kam ich in einem derart
gesponserten Gesamtkunstwerk gerade im Hauptbahnhof, unserer zweitwichtigsten
Wendeplatte an. Dort lag, mitten in der Klettpassage - also, über
die Passagen Stuttgarts müßte ich Ihnen vielleicht einmal schreiben,
was Benjamins Passagenwerk sicherlich das Wasser reichen könnte -
kurz: da lag - mitten in der Klettpassage - ein Nichtseßhafter, die
Jacke über den Kopf gezogen, bewacht von zwei Polizisten, die damit
so beschäftigt waren, daß sie sich um den Tränengaskünstler
wirklich nicht kümmern konnten. Die Umstehenden waren geteilter Meinung,
ob dieser Nichtseßhafte, den feinere Geister Berber nennen, weil
wir am liebsten alles unter den Teppich kehren, ob dieser Nichtseßhafte
nun dort liege, weil er nur tot sei oder weil er einen jesesmäßigen
Rausch habe. Ich konnte mich an der Diskussion leider nicht beteiligen,
weil ich im Weitergehen über der Staatsoper - denn bis hierher hatte
ich nur städtisches Theater erlebt - eine Karotte schweben sah. Zuerst
wollte ich ja fragen: Hattu Möhrchen? Aber rechtzeitig erinnerte ich
mich, daß Christo auf der Documenta schon einmal etwas eher Unaussprechliches
schweben ließ, und ich überlegte, ob sich dies inzwischen bis
in unsere kunstläufige Residenz herumgesprochen haben könnte,
so daß wir das geflügelte Wort ändern und sagen müßten:
Ab nach Stuttgart! Der künstlerische Wert dieser Karotte wurde mir
jedenfalls schnell ersichtlich, als ich sie mit jenem Zeppelin verglich,
der bisher ausschließlich die Stuttgarter Brau- und Luftkunst repräsentierte,
von dem einen Tag abgesehen, an dem ein gewisser Herr Wörner die gute
alte Tante Ju über Stuttgart kutschierte. Ich begriff also: Da wir
nun einmal keinen Garrick haben, regiert jetzt wenigstens ein Karottenkönig.
So können wir weiter die Hände zusammenlegen, ohne die Augen
aufzutun, und hoffen, daß uns der Karottenkönig einen neuen
Theatergeist schenkt, nachdem die Bretter, die auch in Stuttgart Welt bedeuten,
zuletzt von allen guten Geistern verlassen waren. Morgen werde ich im Theaterfeuilleton,
das sich Stuttgarter Zeitung nennt, nachlesen, daß uns der neue Geist
noch nicht geschenkt ist. Immer noch steigt der Rauch schwarz aus dem Kessel
und die Kulturkatalysatoren lassen auf sich warten. Nur in Richtung Weltstadt
haben wir einen beachtlichen Schritt getan, wie mir die Reise von Botnang
durch den sterbenden Kräherwald nach Stuttgart bewies. Und sicherlich
werden wir bald auch direkten Anschluß an New York haben, obwohl
man dort in der U-Bahn anstelle von Tränengas Pistolen bevorzugt.
Lichtenberg hat London ührigens sehr genossen und ist nur ungern zurückgekehrt.
Aber das werden Sie selbst gespürt haben.
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
Lieber
Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile
her, daß ich bei Lichtenberg in Göttingen war. Aber heute muß
ich doch noch einmal auf ihn zu sprechen kommen, d.h. eigentlich muß
ich nur vom Blitzableiter sprechen, den Lichtenberg 1780 in Göttingen,
wo ich ja, wie Sie wissen, zur Schule ging, installierte. Natürlich
hat Lichtenberg weder den Blitzableiter noch das Schießpulver erfunden.
Dazu müßte man schon weiter ausholen, bis China zum Beispiel
oder bis in die Vereinigten Staaten, wo ein gewisser Franklin wohnen soll.
Aber immerhin haben wir Europäer dies nach Coca Cola und MacDonald
schließlich auch begriffen und zunächst auf dem Eddystone-Leuchtturm,
dann auf der Hamburger Jakobikirche solche Dinger installiert, wie ich
selbst gesehen habe, als ich dort einmal Bibliothekar werden wollte. Kennen
Sie übrigens die Bibliotheksträume von Washington Irving und
Heinrich Heine. Sowas würde uns heute allenfalls noch in der Landesbibliothek
oder in Marbach passieren, wenn sich albtraumartig der Gedanke einstellt,
wie dort in den Magazinen Prioritäten gesetzt werden. Ich meine, was
das Vernachlässigen von Nachlässen betrifft. Da habe ich erst
kürzlich mit Hermann Finsterlin einschlägige Erfahrungen sammeln
dürfen. Dabei ernten die Bibliotheken doch meist nur, was sie nicht
gesät haben. Und was sie säen, bringt selten Ernte. So leben
auch sie, wie unsere Wirtschaft bis ins 20. Jahrhundert, mehr vom geistigen
Import, d.h. die Wirtschaft natürlich vom Technologieimport, weshalb
man heute noch den Technologietransfer so gerne im Munde führt. Wahrscheinlich
deshalb haben wir erst unlängst auch das Landesgewerbemuseum wieder
restauriert. Den Willikens in der König-Karl-Halle sollten Sie sich
wirklich einmal ansehen, weil er ansonsten wenig bemerkenswert ist. Ich
weiß nicht, was das alles gekostet hat. Seinerzeit kostete der Bau
sage und schreibe drei und eine halbe Million und war dennoch, wie Lichtwark
mir unter der Hand zu verstehen gab, das unbrauchbarste Museum, was je
gebaut wurde, um, wenn immer in der Welt eine marktgängige Ware erzeugt
werde, diese aufzukaufen, um Vorbilder für die hiesige Industrie zu
haben. Von den Hinterhofwerkstätten Benz und Bosch rede ich dabei
nicht. Jedenfalls, die Kenntnis des Blitzableiters verdanke ich Lichtenberg,
weshalb ich mich bisher auch um die Blitzableiter auf den hiesigen Leucht-
und Kirchtürmen nicht weiter gekümmert habe. Aber das hat sich
geändert, seit die hiesige Industrie das marktgängige Vorbild
transzendiert hat, dank des Engagements unseres Kulturobsitzenden und seines
Zuliefereramtes, dem wir dank eines offenen Briefes an den grünen
Abgeordneten Kienzle die Bestätigung verdanken, daß unser Kulturoberst
ein wahrer Kulturableiter ist, weil, wenn Stuttgarter Firmen die Kultur
sponsern, dies ausschließlich dem Engagement des Oberbürgermeisters
zu verdanken ist. Sponsern muß ich Ihnen sicherlich nicht übersetzen,
und das mit dem Transzendieren meine ich so: wenn man einen Blitzableiter
bauen will, muß man ja vorher ein Dach haben, von dem man die Blitze
ableiten will. Und da haben wir doch seit kurzem unser Dächle und
auch die Kultur unter Dach und Fach gebracht, wobei unser Oberbürgermeister
ganz selbstlos den Bltzableiter verinnerlicht und die Funktion des Kulturableiters
übernommen hat. Denn, lese ich in dem besagten offenen Brief, wie
er motiviere und Aufgeschlossenheit gegenüber der ganzen Breite der
Kultur ermögliche, sei vorbildlich. In welcher Hinsicht, stand leider
nicht dort. Deshalb habe ich in dem Brief unserer Kulturverweserin und
des für die Wirtschaften zuständigen Bürgermeisters noch
ein wenig weiter gelesen und erfahren, daß, was sich in der Kulturszene
in Stuttgart unter dem Kulturbürgermeister getan habe, unter deutschen
Großstädten ohne Beispiel sei. Nun weiß ich natürlich
wiederum nicht, an welche Großstädte die Verfasser dabei gedacht
haben. Aber das rheinländische Köln, das hessische Frankfurt
oder das fränkische Nürnberg können sie eigentlich nicht
gemeint haben. Obwohl vielleicht doch. Denn gemessen an denen hält
unsere Kulturszenenarbeit dem Vergleich wirklich nicht stand. Gemessen
daran wäre sie wirklich beispiellos, befürchtet
mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl,
Botnang
[1984-1989. Der erste der Weckherlinbrief wurde am 16.9.1984 geschrieben, einen Tag nachdem Weckherlin seinen 400. Geburtstag gefeiert hatte, der dem kulturellen Stuttgarter Kurzzeitgedächtnis jedoch völlig entgangen war. Die Weckherlinbriefe sind Teil des Stuttgartprospekts, der 1992 abgeschlossen bzw. abgebrochen wurde, und innerhalb dieses Prospekts zugleich der 5. und letzte Band der Stuttgarter Trilogie]
ã by the author