Reinhard Döhl | Wilhelm Wekhrlin - eine Botnanger Spurensuche

Spaziergänge sind angesagt in diesem Stuttgarter Wörterherbst - literarisches Spurensuchen in den Stadtbezirken. Nur Botnang wurde wieder einmal vergessen. Dabei hat Helmut Heißenbuttel dort gewohnt, bevor er sich nach Norden absetzte. Und der Pastorensohn Wilhelm Ludwig Wekhrlin wurde dort, nicht in Oberesslingen, nicht 1743 oder 1755, wie es zu lesen ist, sondern genau am 7. Juli 1739 geboren.

Bis zu seinem 15. Lebensjahr wird der begabte Sohn vom Vater, der derweilen die Pfarrstelle in Oberesslingen übernommen hat, persönlich unterrichtet, wechselt dann an das Stuttgarter Gymnasium und soll in Tübingen das aussichtsreiche Jurastudium absolvieren. Aber enttäuscht von einer Fakultät, welche durch ihre Rechtsratschläge Prozesse verurteilter Hexen verewigt, bricht er die Studien an dieser Klopffechterschule der Unwissenheit ab.

Ob Wekhrlin danach zunächst Schreiber in Ludwigsburg war, nuß für den Moment offenbleiben. Mit Sicherheit tritt er 1764 eine Hauslehrerstelle in Straßburg an, die er im Herbst 1765 aufgibt, um nach Paris zu gehen, wo er sich als Schreiber, dann auch als Sprachlehrer den Lebensunterhalt verdient, wo er vor allem aber kulturell nachdrücklich geprägt wird. Später nennt Wekhrlin Voltaire, Diderot, Montesquieu ("L'esprit des lois"), aber auch den Italiener Galiani, der Verbindung zu den zeitgenössischen Literaten und Enzyklopädisten hält. Zugleich darf man erste (vielleicht schon satirische Schreibversuche Wekhrlins annehmen.

Unklar ist, warum sich Wekhrklin, der seinen langjährigen Parisaufenthalt nur für eine kurze Reise nach London unterbricht, 1772 als französischer Legationsrat über die Schweiz und Italien nach Wien auf den Weg macht, wo er in die sogenannten besseren Kreise schnell und leicht Eingang, aber auch herausfindet, daß der dickste Bauch und das reichste Kleid das hauptsächlichste Verdienst ausmachen. Man braucht nicht den Mann, nur seinen Namen, sein Ordensband, seine Allongenperücke, seine Equipage. Es [ist] ganz die Zeit der spanischen Etiquette, Unwissenheit, des Hochmuts, der Steifheit, der Barbarei. Niemand [fragt] nach Kenntnissen, Geschmack, nach Witz, nach Büchern.

Um nicht bloß seine Gelder, sondern auch seine Langeweile anständig zu verzehren, beginnt Wekhrlin, seine Beobachtungen kritisch zu fixieren und publiziert 1777 anonym die Anstoß erregenden "Denkwürdigkeiten von Wien". Der Verfasser. der sich zu seinem Buch bekennt, wird zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt und der Stadt verwiesen.

Sein weiterer Weg führt ihn zunächst nach Regensburg, wo er ein letztes Mal - vergeblich - versucht, im diplomatischen Dienst Aufgabe und Platz zu finden, dann nach Augsburg und schließlich nach Nördlingen. 1778 erscheint pseudonym des "Anselmus Rabiosus Reise durch Ober-Deutschland", eine der damals häufigeren aufklärerisch-satirischen Reisebeschreibungen, in der neben Wien auch Augsburg bedacht wird, was zu ebenso heftigen Reaktionen führt wie die eine kurze Zeit später veröffentlichte Darstellung der Nördlinger Kulturlosigkeit. Was sich heute als amüsanter Städtespiegel liest, galt damals den Getroffenen als Schmäh- und Schandschrift. Was sich heute als eine unbeholfene Utopie Württembergs ("Patriotische Phantasie") liest, entbehrte seinerzeit nicht des revolutionären Zündstoffs.

Es kann keine wahre Philosophie ohne den Genuß des Vergnügens geben.

Für die nächsten zehn Jahre zieht Wekhrlin deshalb die Schatten Tarent's dem Glanze Rom's vor und sich in das Nördlingen banachharte Dorf Baldingen zurück, wo er - lesend und und korrespondierend - mit der Herausgabe seiner Periodika beginnt den "Chronologen" (1779-83), dem "Grauen Ungeheuer" (1784-87), den "Hyperboreischen Briefen" (1788-90) und den "Paragrafen" (1791). Es sind dies politisch-kulturelle Zeitschriften, die sich - um im Ländle zu bleiben - vor Schubarts "Deutscher Chronik" oder Wielands "Teutschem Merkur" nicht verstecken müssen, denkwürdig bereits wegen der Vielzahl ihrer Korrespondenten und Beiträger, von denen als bekanntere genannt seien Gottfried August Bürger, Johann Georg Adam Forster, Georg Christoph Lichtenberg, Johann Heinrioh Merk, August Ludwig Schlözer.

Aber nicht nur die bis heute nur zu Teilen erschlossene Liste der Korrespondenten spricht für die Bedeutung dieser Wekhrlinschen Unternehmen, nicht nur die zum Teil heftigen Reaktionen der Getroffenen - Wekhrlins Zeitschriften haben auch in der damaligen Publizistik mancherlei noch zu sichernde Spuren hinterlassen, von Wielands "Teutschem Merkur" bis zu Andreas Georg Friedrich Rebmann, der mit seinem "Neuesten Grauen Ungeheuer (1796) sich ebenso wie mit seinem Pseudonym "Rabiosus der Jüngere" ausdrücklich auf Wekhrlin beziehen wird.

Eine erneute Auseinandersetzung mit Nördlingen, in deren Folge Wekhrlins Traktat verbrannt wird, wie schon Jahre zuvor in Glarus sein Kommentar zu einem Hexenprozeß, führt dazu, daß Fürst von Wallerstein, der Wekhrlin bisher vergeblich auf das Oberamtsschloß Hochhaus eingeladen hatte, jetzt einen Grund findet, ihm als Gefangenem die Freiheiten der Gastfreundschaft zu gewähren, und zwar von 1788 bis 1792. Von dort aus verfolgt Wekhrlin die Entwicklung der Französischen Revolution, weilt 1789 sogar einige Zeit in Paris. Als 1792 Preußen die fränkischen Fürstentümer in Besitz nimmt, zieht Wekhrlin ein letztes Mal um: nach Ansbach, um dort, unter Förderung des Fürsten von Hardenberg, sein letztes publizistisches Projekt, die "Anspachischen Blätter", zu starten, die es allerdings nur auf 34 Nummern bringen. Bei einer Abwesenheit von Hardenbergs wird Wekhrlin als heimlicher Jakobiner denunziert, der Ansbach an die Franzosen verraten habe. Er wird unter Hausarrest gestellt, seine sämtlichen Papiere und Unterlagen werden konfisziert. Auch wenn sich die gegen ihn ausgestreuten Gerüchte in keinerlei Form bestätigen, für Wekhrlins angeschlagene Gesundheit sind diese Aufregungen Gift. Er stirbt am 24. November 1792 in Ansbach.

Bestattet auf Kosten von Hardenbergs, findet sein Begräbnis nicht, wie damals kolportiert, in aller Stille, sondern unter reger Anteilnahme der Bevölkerung statt. Der von Hardenberg gestiftete Grabstein ist längst verwittert, die vom Fürsten von Wallerstein im Park von Hochhaus errichtete Gedenksäule existiert nicht mehr. In Spurlosigkeit - will es scheinen - endet der literarische Spaziergang, der in Botnang begann.

Dennoch - so ganz spurlos ist Wekhrlin doch nicht verschwunden. Verschämt wird er gelegentlich von Nachschlagewerk zu Nachschlagewerk gereicht, Zellers "Literatur im deutschen Südwesten" zählt ihn mehr der Vollständigkeit halber auf, und Brandstätter/Holwein ("Stuttgart. Dichter sehen eine Stadt") erwähnen ihn mit biografischen Verzeichnungen. Gelesen scheint ihn kaum einer zu haben. Dabei wurde seine "Reise durch Oberdeutschland", mit wichtigen Korrekturen zur Biographie, Anfang der 80er Jahre neu aufgelegt, lagen Mitte der 70er Jahre seine Periodika als Reprint vor. Es wäre also leicht möglich, den Schriftsteller und Publizisten Wekhrlin, den Eremiten in der [Baldinger] Dorftenne genauer oder zum ersten Mal kennenzulernen, nachzulesen, wie er, von dort aus, umgeben von wirklicher Natur, die Idyllendichter kritisiert, wie er Millers "Siegwart" eine Dummheit und "Die Leiden des jungen Werther eine schädliche Platitüde schilt; wie er dafür steht, daß es eine wahre Philosophie ohne den Genuß des Vergnügens nicht geben könne.

Einen literarischen Publizisten und agnostischen Denker der Philosophie der Aufklärung nennt Roland Mortier den Botnanger Pastorensohn; dem aber war es eher um die flüchtigen Ereignisse auf der Basis der sozialen, literarischen und politischen Tagesgeschichte zu tun. Stünde es in meiner Wahl, so möchte ich statt mit Windmühlen zu turnieren und Schutt abzutragen, um dem Flusse das Bett zu bereiten, lieber etwas im Geiste des Montaigne, Horaz oder Chaulieu schaffen. Doch umsonst streitet man wider seinen Beruf. Jupiter verkürzte dem Stiere die Hörner, weil er nicht fechten, sondern pflügen sollte.

Ich bin zu einer Zeit geboren, wo es in Deutschland noch sehr finster war.

Ich bin, skizziert Wekhrlin seine schriftstellerische Position und seine Möglichkeiten, zu einer Zeit geboren, wo es in Deutschland noch sehr finster war. Und in einem Lande, das auf der Bahn zum Lichte eines der spätesten ist. Eine frühzeitige und geraume Entfernnng von meinem Vaterlande machte mich mit dem Gange seiner Literatur und selbst seiner Sprache unbekannt. Als ich die Schriftstellerbahn betrat, war's bereits zu spät, beim Alphabet anzufangen. Die Zeit schien mir zu kostbar zu sein, ich hatte genug zu tun nachzulesen, um mich auf dem vaterländischen Parnaß zu orientieren. So mußte ich vorerst schlecht debütieren. Allein ich suchte mich zu bessern; ich fing an meinen Stil zu putzen. Man pfiff mich aus. Ich schrieb Andern nach; man klopfte mich auf die Finger. Man tadelte meine eigenen Federn und wollte mir doch keine fremden erlauben. So überließ ich anderen das Schönschreiben und hielt mich an's Schöndenken.

Die spärliche Literatur über Wekhrlin nennt an erster Stelle Schlichtegrolls Nekrolog auf das Jahr 1793. Ein spontaner Nachruf ist die Fußnote, die Georg Friedrich Rebmann seiner 1793 erschienenen "Empfindsamen Reise nach Schilda" einrückte: Armer Mann, du hast ausgeduldet. Auch dein letzter Ruheplatz, von wo aus du der Welt durch deine Talente nutzen konntest, wurde dir nicht gegönnt, weil deine Feder nicht feil war. Friede sei mit deiner Asche. Süddeutschland verträgt keinen Schriftsteller, der nicht schmeicheln will. Und keiner von Deutschlands Gelehrten rügt das Schicksal eines Mannes laut, der Kopf und Kenntnisse hatte wie W[ekhrlin] und den der Druck- und Preßzwang ums Leben brachte.

In den Obscuranten-Almanachen auf die Jahre 1798-1801 hat Rebmann Wekhrlin sogar unter seine Kalenderheiligen aufgenommen und mit dem Attribut der "Cypresse" ausgezeichnet. Das aber korrespondiert auf seltsame Weise mit einem kleinen empfindsamen Text Wekhrlins über das Andenken der Nachwelt.

Und nun hebe ich die Äugen auf zu Dir, Du kleiner Hügel, den dort der Schatten der Cypresse und grauliches Moos decken, auf den jetzt noch der letzte Stern von seiner Höhe herniederschaut, nachdem alle Fackeln des Himmelsdomes schon erloschen sind, der Stern des Hügels meiner Ruhe. Nach Jahrhunderten wird ein anderer Erdenpilger sich hier niederlassen. Wenn dann des Mondes freundlicher Strahl die ernste Szene umsilbert, die Lüftchen des Abends im schwirrenden Rohre lispeln und Nachtschauer den einsamen Waller ergreifen, dann wird er vielleicht sprechen: Hier ruht, wie eine alte Sage will, ein Einsiedler jenes Berges da droben, dessen längst verhallten Namen keine Grabschrift nennt Wie oft, wie oft mag der Schatten dieser Bäume ihn gekühlt, wie oft diese krystallene Quelle ihn gelabt haben! Dann vergaß er wohl das Leiden Anderer, die Unvollkommenheiten dieses Daseins, und dankte dem unergründlichen Wesen der Natur für sein Los.

[Literaturblatt 5, September/Oktober 1994, S. 18-20]