Die heutige ist bereits die dritte Ausstellung von Frau Wetzel in dieser Stadt, so daß ich annehme, daß die Künstlerin in Ulm, um Ulm und um Ulm herum keine unbekannte mehr ist. Ihre Biographie und künstlerische Entwicklung erneut vorzustellen, wäre demnach gleichbedeutend mit dem sprichwörtlichen Tragen der Eulen nach Athen oder der Spatzen nach Ulm. Wer es dennoch genau wissen will, sei auf die sorgfältig erarbeite Monographie mit Werkverzeichnis aus dem Jahre 1986 verwiesen, auf die auch ich im folgenden gelegentlich Bezug nehmen werde.
Drei Momente aus der Biographie Angelika Wetzels sind zum Verständnis der heutigen Ausstellung herauszugreifen. Das ist erstens der für eine Schülerin unübliche Besuch eines humanistischen Gymnasiums, gepaart zweitens mit einer früh ausgeprägten praktischen Hinwendung zur bildenden Kunst. Und das ist drittens nach Schulabschluß ein längeres Schwanken zwischen bildender Kunst und Archäologie, das Frau Wetzel zunächst zugunsten der Kunst entschied, die sie, in einem immer intensiveren Dialog mit der Antike, auf einer Meta-Ebene in den 80er Jahren doch noch zur Archäologie führte. Wie sehr man bei einer Beschäftigung mit der Kunst Angelika Wetzels auf diese Komponenten achten sollte, möchte ich mit einem kleinen Beispiel andeuten.
Andreas Pfeiffer hat in seinem monographischen Aufriß für die Arbeitsweise der Künstlerin vier Arbeitsschritte herausgestellt: das Sammeln des Stoffes durch Skizzen und Zeichnungen, das Sichten des Stoffs durch erste plastische Formulierungen, das Klären der Idee und des Formproblems durch Weiterarbeiten und das Umsetzen der Idee in die künstlerische Form. Das aber benennt - auf die Kunst übertragen - nichts anderes als die Aufgaben und Grundtugenden klassischer Philologie, nämlich
Das gilt insbesondere für die Exponate der heutigen Ausstellung mit ihren "Flügelfiguren", "Höhlen", "Idolen" und "Deklinationen des Straußeneis". Das letztere ist zugleich die jüngste Werkgruppe der Künstlerin und ich darf, schon wegen des rätselhaften Titels, mit ihm beginnen.
Wie oft in der Kunst scheint auch hier das auslösende Moment eher Zufall. Im Studienjahr 1983/1984 unterrichtete Frau Wetzel als Vertreterin Seemanns an der Stuttgarter Akademie in der Grundklasse für Bildhauer und bot unter anderem Übungen mit geometrischen Körpern an. Allerdings wählte Frau Wetzel statt der Kugel das Ei. Daß es sich dabei nicht ausschließlich um eine formale Angelegenheit handelte, sondern um das Durchspielen eines tieferliegenden, unbewußten Problems, dafür gibt es mehrere Indizien. Zunächst, daß das Modell eines kleinen Doppeleis die Künstlerin nicht mehr los ließ. Als zweites Indiz gilt mir ein kürzerer Text der Künstlerin über die "Entstehung der Eiformen":
Die Kugel rotiert, entwickelt Kräfte, dehnt sich aus:Vordergründig wiederum Beschreibung eines formalen Vorgangs - "Entstehung der Eiformen" lautet ja der Titel, "Entwicklung einer Form" hat Frau Wetzel "Die Deklination des Straußeneis" in einem Begleitheft genannt -
Es entsteht das Ei;
für mich - das Straußenei.
Seine 'Spitzen' sind identisch; dies Ei ist symmetrisch.
Es bewegt sich weiterhin, wird länger und schlanker.
Zuletzt ist es fast kein Ei mehr
eher Doppelhorn oder Donnerkeil.
Sieben Stadien dieses Bewegungsablaufes werden festgehalten,
ich nenne sie Eiform 1, 2 bis 7.
Diese Eiformen werden nun durchdekliniert.
Vordergründig wiederum Beschreibung eines formalen Vorgangs, verweisen einige Worte des zitierten Textes doch bereits auf Hintergründigeres. So stellen sich bei Donnerkeil assoziativ zum Beispiel ein Blitze schleudernder Zeus oder das so genannte prähistorische Werkzeug ein oder das versteinerte, keilförmige Gehäuseende eines fossilen Tintenfisches. Und dann sind die Kräfte, die aus der Kugel das Ei entstehen lassen, sicherlich auch nicht ausschließlich physikalischer Natur.
Den offensichtlichen Zusammenhang mit der "Artemis von Ephesus" und den anderen Arbeiten dieser Ausstellung stelle ich zunächst noch nicht her sondern begnüge mich mit der Feststellung, daß "Die Deklination des Straußeneis" nur vordergründig Formvariation und Formspiel ist.
Frau Wetzel, die im Gegensatz zu anderen Künstlern sehr präzis über ihre Arbeit Auskunft geben kann, hat auch ihre "Deklinieren des Straußeneis" genau beschrieben. Ich darf dies zitieren. Gleichzeitig wollen wir Ihnen aber - damit das Ganze nicht zum Trockenkurs gerät - auch praktisch andeuten, was Sie als vielfältiges Ergebnis anschließend in der Ausstellung studieren können.
Die Deklination des StraußeneisGing es im ersten Fall um die "Entstehung der Eiformen" aus der rotierenden Kugel, also um sich prozessual verändernde Form, greift die "Deklination" in diesen Prozeß ein, indem sie eine einzelne Eiform selektiert, im beschriebenen Sinne trennt und zu einer neuen Form zusammensetzt, wobei sich im Durchschnitt die ovale Form einer Blatt-, z.T. Herzform nähert (siehe die von Frau Wetzel der Ausstellung beigegebenen Skizzen), in der Skulptur aus dem Ei aber jene 'Formvarianten' mit Grat und Kerbe entstehen, die Frau Wetzel als Urformen bezeichnet und, von 1 bis 3 durchnumeriert, mit bezeichnenden Titeln ausgedeutet hat: "Azul Babia (I)"; "Kosmos" / "Azzurro Cielo (II)"; "Ilios".Das Straußenei ist für mich ein symmetrisches Oval, besitzt
einen elliptischen Querschnitt.
Meine Ellipse hat einen Mittelpunkt, das ist der Schnittpunkt beider Durchmesser, nämlich des längsten und des kürzesten.
Durch diesen Mittelpunkt werden weitere Geraden gezogen.
Diese bilden einen Winkel zum bestehenden kürzesten Durchmesser - und zerlegen zugleich das symmetrische Oval in zwei gleiche punktsymmetrische Teile.
Durch Spiegelung eines Teiles an der Geraden (= Schnittlinie) erhalten wir eine neue Form; ich nenne sie 'Formvariante' mit Grat und Kerbe.
Sinngemäß werden bei Herstellen eines plastischen Modells die zwei Eihälften mit ihren ovalen Schnitthälften gegeneinander gedreht.
Das Maß der Abweichung (Deklination) von der Durchmesserlinie bestimmt die Gestalt dieser neuen Formvarianten.
Den Wert, den Angelika Wetzel ihrer 'Schöpfung', ihrer Formfindung beimißt, erhellt ein Gedicht vom 8. November 1988. Es ist, und das gibt ihm in diesem Zusammenhang ein zusätzliches Gewicht, das erste und bisher einzige Gedicht der Künstlerin überhaupt, obwohl sie ihr Werk immer schon mit Worten, allerdings prosaisch begleitete.
KOSMOSZu dieser kosmischen Geburt bzw. Verschmelzung von Idee und und Materie erlaube ich mir im Vorbeigehen den Hinweis auf ein weiteres Exponat dieser Ausstellung: die "Doppelfigur", die Sie einzeln wie auch auf dem als Bett gedeuteten Dach eines Tempels finden werden, unter dessen Gesims lauter Eier hervorwachsen: eine Kleinplastik, die die Künstlerin nicht ohne Hintersinn "Homerisches Gelächter" getitelt hat, mit diesem Titel zugleich etwas von der ihren Arbeiten gelegentlich durchaus innewohnenden Komik andeutend.
Schaffen der Form
Meine Form ist gut, sie kann bestehen.
Sie ist die beste Fassung vieler Möglichkeiten.
In unscheinbarem Stoff liegt sie im Atelier;
dem Ei entsprungen, dem gleichförmigen des Straußes.
Meine Form ist voller Leben und Kraft -
ist eben im Entstehen
und gebiert zugleich:
URFORM
Suche nach dem Material
Ich hab's geahnt.
Ich hab's geglaubt.
Ich hab danach gesucht - und
plötzlich fand ich ihn:
Der Traum vom blauen Stein war Wirklichkeit.
Kein Zögern, kein falsches Sentiment:
Die Form verlangte diesen Körper,
das Blau des Geistigen,
der Elemente Luft und Wasser.
AZZURRO CIELO
Endgültige Fassung
Nun sind sie Schlag auf Schlag
in eins verschmolzen -
und keine fragt, wer war Idee,
wer die Materie.
KOSMOS.
Mit den drei gefundenen Urformen - um hier noch einmal zur "Deklination des Straußeneis" zurückzukehren, - sind aber bisher nur die Stadien 1 bis 3 der durch Rotation zum Ei mutierenden Kugel dekliniert. Die Deklination der weiteren Stadien führt - und die Ausstellung belegt dies - gleichsam zu einem Formsprung. Näherte sich bei den Stadien 1 bis 3 die ovale Form im Durchschnitt einer Blatt-, z.T. einer Herzform, also organisch-pflanzlicher Form, mutieren die verschlankten Eiformen 4 bis 7 zunehmend in eine organisch-tierische Form, assoziieren die von Frau Wetzel gezeichneten Schaubilder der Eiformen 4, 5, 6, 7 zunehmend insektoide Formen. In der bildhauerischen Praxis mutieren die zerlegten Eiformen 4 bis 7 dagegen immer deutlicher in Richtung Stierhorn. Und spätestens über diese Stierhörner stellt diese Ausstellung auch konkret die Verbindung von den jüngsten, als "Deklination des Straußeneis" ausgewiesenen Arbeiten zu den "Höhlen" der frühen 80er Jahre her, in denen sich neben weiblichen Figuren als einziges männliches Ingredienz eben das Stierhorn in zumeist architektonischer Funktion befindet.
Ohne etwas daraus folgern zu wollen, merke ich hier an, daß Frau Wetzel im Zeichen des Stieres geboren ist. Folgern möchte ich allerdings einiges aus dem Auftauchen des Stierhorns in den "Höhlen" Anfang der 80er, aus der "Deklination des Straußeneis" zum Stierhorn Ende der 80er Jahre. Denn dieses Attribut bzw. sein Träger können und müssen - Frau Wetzels Interesse an Antike und Archäologie eingedenk - mythologisch vielfältig besetzt werden. Der sich in einen Stier verwandelnde Zeus raubt die Europa, im Labyrinth wartet der Minotauros. Sein indischer Verwandter heißt Nandi und ist das Reittier des Gottes Shiva. Er gilt als Sinnbild der männlichen Zeugungskraft, durch die das Dasein der Erde [indisch: Go = Kuh) immer wieder neu erschaffen werde (vgl. z.B. das "Lexikon der Symbole", S. 70). Andere Mythen sehen im Himmel eine segenspendende Macht, die sie Kuh nennen. Der wohltätige Befruchter dieser Macht ist der Stier (vgl. z.B. das "Handbuch des Deutschen Aberglaubens", Bd 8, S. 482). Nordafrikanische Felsengraffiti nach 4000 v.Chr. werden als Belege für Stierkulte mit Sonnen-Symbolik gedeutet wie der Stier insgesamt in den Religionen früher agrarischer Kulturen das archetypische Symbol der Fruchtbarkeit, der Virilität, des Wetters und Wassers, mit deutlichen sonne/mondmythologischen Aspekten war und oft in Verbindung mit der großen Muttergottheit gebracht wurde, aber auch im Toten- und Opferkult (z.B. auf Kreta) eine Rolle spielte (vgl. "Der Kleine Pauli", Bd 5, S. 546 f.).
Das kann als Exkurs ausreichen zu belegen, daß die Arbeiten Angelika Wetzels aus den 80er Jahren, alles in allem genommen, komplexer sind, als dies auf den ersten Blick scheinen will, daß sich hinter ihren formalen Ansprüchen ein künstlerisches Anliegen verbirgt, das ich abschließend versuchen möchte, zu skizzieren.
Folge ich der Werkmonographie, setzt das Werk der Künstlerin mit traditionellen Aufgaben ein, die sie allerdings in bereits eigener Weise zu lösen weiß. Es sind dies eine Vielzahl hockender, kniender, liegender Frauenfiguren und Köpfe. Spannend wird das Werk für mich mit einer Alabasterarbeit von 1963, dem auch in diese Ausstellung aufgenommenen Torso "Bauch, Busen", der zunächst im Werk allein steht. Die folgenden Torsi greifen jedenfalls das diesem Torso implizite Thema (je nach Interpretation des vorgewölbten Bauches und des Busens) nicht auf, so als scheue die Künstlerin noch vor den Konsequenzen dieser Arbeit zurück. Statt dessen wählt sie einen - ich meine das Wort nicht negativ - Umweg über die antike Mythologie: das Urteil des Paris, der ihm folgende Trojanische Krieg werden thematisiert, es entstehen eine Reihe von Venusskulpturen, den 'antiken Torsi' weiblichen Geschlechts gesellen sich Fauninnen und Najaden, es folgt ein Selbstportrait als "Medusa" und - an eine Najade formal anschließend - männlicher und weiblicher Phönix sowie die Flügelfiguren, die sich als Hermes (Hermen) ansprechen lassen. Mit diesen Flügelfiguren und Selbstportraits, deren zweites bezeichnenderweise "Mein Äußeres, meine Haut" heißt, hat die Künstlerin einen Skulpturen-Typus sich entwickelt, den ich - vereinfacht - Schalenskulptur nennen möchte und den Kernskulpturen alternativ zuordne.
Mit diesen Alternativen Hülle und Kern hat die Künstlerin ihre Formensprache aber nicht nur erweitert, sondern sich nach auch materialen Experimenten mit Eternit und neuerdings mit Terrakotta, die Möglichkeit einer künstlerischen Dialektik geschaffen. Die Eiform, hat sie dies für die heutige Ausstellung notiert, dominiere bei Figur oder Höhle, als Schale oder Kern.
Eine Terrakotta-Skulptur von 1985, "Ach Erde du alte", zeigt mit ihren Landschaftsblöcken so etwas wie ein historisches Portrait der Erde von der vulkanischen Ur- zu der von Menschen geschaffenen Kulturlandschaft. In der Kultur dieser Menschen bewegt sich das plastische Werk Angelika Wetzels praktisch gegenläufig über die Antike bis in die Prähistorie zurück, in die Nekropolen (Montessu) und Höhlen der Urmutter Erde, der Urgebärerin. Nimmt man die die Artemis von Ephesus ("Hommage à Artemis de Ephesus") hinzu, der die Künstlerin statt der ikonographisch traditionellen zahlreichen Brüste Eier appliziert, könnte man auch sagen, daß die Künstlerin das Leben bis zum Ei zurückverfolgt, bis zum Weltei, dem die Elemente entschlüpften, aus dessen zwei Hälften Himmel und Erde wurden, Gäa und Tauros, aber auch Leben und Tod. Denn das Ei ist nicht nur Lebenssymbol, es dient auch als Totengabe; der Stier ist nicht nur archetypisches Symbol für Fertilität und Virilität, er spielt seine Rolle auch im Toten- und Opferkult. Für mich jedenfalls sind die mit Urfrauen besetzten, mit Stierhörnern abgestützten Urhöhlen keinesfalls eindeutig zu lesen, sondern in ihrer Aussage, wie viele Arbeiten der 80er Jahre, ambivalent, wozu ich auch die komischen Elemente rechne, leicht auszumachen etwa im "Homerischen Gelächter", dem "Ausbrechenden Tempel", den "Sich Vorneigenden" oder der zugehörigen Terrakottaarbeit "Von hinten gebeugt". Wobei ich Komik nicht im umgangssprachlichen heutigen sondern im ausgelassenen Sinne des griechischen Komos meine.
Es bleibt in meiner kleinen Einführungsskizze für mich abschließend noch eine Frage zu beantworten, eine Antwort auf die Frage zu versuchen, warum im Werk Angelika Wetzels das weibliche Element so ausgesprochen dominiert. Die Antwort, es handle sich entschieden um Frauenkunst, wäre zu simpel und vor allem gäbe sie zu mancherlei Mißverständnissen Anlaß. Anders ist dies, wenn man sich an die der Kulturgeschichte gegenläufige Werkentwicklung Angelika Wetzels hält. Ihre Rückläufigkeit in die Prähistorie und den Mythos kann mit ästhetischen Mitteln unsere Gesellschaft kontrastieren. Sie kann verifizieren, was die neuere ethnographische Forschung bestreitet, die These eines Matriarchats.
[Museum Ulm, 11.3.1990]