Als Max Bense am Donnerstag die Bilder dieser Ausstellung sah, sagte er, sie verhielten sich zu den "Weißen Bildern" wie Malerei zu Zeichnung. Ich werde im folgenden also über den Maler Ulrich Zeh zu sprechen haben.
Als Max Bense vor genau 4 Jahren 3 Monaten und 18 Tagen (das läßt sich nachrechnen) die Ausstellung der weißen 'Zeichnungen' Ulrich Zehs eröffnete, machte er auch ein paar despektierliche Bemerkungen über den Mann mit Hut. Das werde ich nicht tun, aber in etwa zehn Minuten eine Bemerkung über Baselitz machen.
Als Max Bense am 27. November 1982 / was Sie übrigens in der Geigerschen Edition "Kunst Handwerk Kunst" nachlesen können / eröffnete, gab er zwei Hinweise, mit denen ich beginnen möchte.
Der erste Hinweis bezog sich über Benedetto Croces "Theorie des Farbflecks", auf Vittone Imbrianis "La Quinta Promotrice". Und Max Bense hatte mit ihm, mit seiner eigenen Formel "Schneelandschaft und Farbfleck" sagen wollen, daß es sich bei Ulrich Zehs einschlägigen Bildern eben nicht um Abschilderungen von Schneelandschaften handele, sondern primär um Farblandschaften, um farbige Ereignisse.
Einen zweiten wichtigen Aspekt hat Max Bense mit Hinweis auf den amerikanischen Schriftsteller Ambrose Gwinnet Bierce eher angedeutet als ausgeführt - jenen Bierce übrigens, von dem das nachdenkenswerte Bonmot stammt, Malerei sei die Kunst, Flächen vor dem Wetter zu schützen um sie den Kritikern auszusetzen -
Einen weiteren Aspekt, sagte ich, hat Max Bense eher angedeutet als ausgeführt: die Surrealität dieser Farblandschaften. Was im Sinne Benses als "Subrealität" zu verstehen ist, also das unter bzw. hinter der vordergründigen Realität in Wirklichkeit Verborgene meint. Was Bense damit sagen wollte, war, daß Häßliches unter bestimmten Bedingungen plötzlich schön sein kann. Es ist dies eine Überzeugung der modernen Ästhetik, die sich von Edgar Allan Poe herschreibt, auf den sich unbewußt euch der Kritiker der Stuttgarter Nachrichten bezog, als er seine Kritik "Wirbel im Malstrom" überschrieb.
Allein mit diesem Hinweis auf Edgar Allan Poes Erzählung "Der Sturz in den Malstrom" hatte Karl Diemer mehr von der Bedeutung der "Weißen Bilder" Ulrich Zehs erfaßt, als jenes Theater-Feuilleton, das sich Stuttgarter Zeitung nennt, je zusammenbringen wird. Dem war angesichts der "Weißen Bilder" nämlich nur eingefallen: "Naturereignis Schneeschmelze", was durch die rhetorische Meisterleistung - ich zitiere wörtlich - "es taut und taut" auch nicht richtiger wurde. Immerhin ließe sich das angesichts der heutigen Ausstellung in "es blaut und blaut" variieren (da wäre dann Mörikes "Frühling" nicht weit) oder in "es grünt und grünt" (wobei dann "My Fair Lady" grüßen würde).
Ich habe Karl Diemers "Wirbel im Malstrom" im Katalogvorwort ausschließlich auf Edger Allen Poes Erzählung bezogen und aus ihr zitiert. Das möchte ich hier nicht wiederholen. Stattdessen eine zweite Lesart vorschlagen, indem ich Malstrom wörtlich nehme und dem Bewußtseinsstrom der Literatur analogisiere, also als dem stream of consciousness analogen stream of painting verstehe. Der stream of consciousness wird unter anderem definiert als subjektive Reaktion auf Umwelteindrücke vor ihrer gedanklichen, sehr wohl aber in einer zufälligen ästhetischen Ordnung. Der stream of painting, der "Malstrom" wäre dann und zugleich konkret auf Ulrich Zeh bezogen die subjektive Reaktion auf Landschaftseindrücke nicht in ihrer gedanklichen Ordnung (des wäre Abbildung), sondern in einem freien ästhetischen Spiel. Das wäre denn das, was hier an den Wänden hängt. Nehme ich jetzt noch einmal Karl Diemer beim Wort, ist der so verstandene "Malstrom" Ulrich Zehs durch "Wirbel" charakterisiert. Ein Synonym wäre der Strudel. Und der bezeichnet bedeutungsgeschichtlich sowohl die flächenhafte wie die in die Tiefe gehende Kreisbewegung, den oberflächlichen Wirbel ebenso wie die sagenhafte Charybdis. Daß auch dies bei Ulrich Zeh nicht abbildend zu verstehen ist, erhellt schon daraus, daß in der Serie seiner "Wasser Zeichen" Wirbel oder Strudel nicht vorkommen. Sehr wohl aber in seinen Landschaften und Überflugbildern, wenn sie den Betrachter gleichsam in ihren Sog ziehen.
(Das ist übrigens auch werkgeschichtlich interessant. Denn in der Zeit, in der sich Ulrich Zeh mit Caspar David Friedrich auseinendersetzte, schaltete er - wenn auch auf sehr eigene Weise - ähnlich wie Caspar David Friedrich beim "Wanderer über dem Nebelmeer" oder dem "Mönch am Meer" - seinen Landschaften häufiger einen stellvertretenden Betrachter vor. Das läßt sich auch als Unsicherheit dem Sujet gegenüber erklären. Heute, wo Ulrich Zeh seiner Sache sicher ist, kann er auf diesen Kunstgriff des vorgeschalteten Betrachters verzichten und den Betrachter seiner Bilder selbst in das ästhetische Spiel einbeziehen.)
Wirbel bzw. Strudel, sagte ich, kommen in Ulrich Zehs "Wasser Zeichen" nicht, sehr wohl aber in seinen Landschaften und Überflugbildern vor und ziehen den Betrachter in einen Sog, der technisch gesprochen durch die kreisende Gestik der Bilder erreicht wird, eine kreisende Gestik, deren Radius der Malarm ist. Strudel oder Wirbel im Malstrom bezeichnet also zweitens ein Stück Malpraxis. Und wenn man schon einmal über sie spricht, sollte man hinzufügen, was der Augenschein schon vermuten läßt, das manches Bild dieser Ausstellung, wenigstens zu Teilen, auf dem Kopf stehend gemalt oder korrigiert ist. (Da noch keine zehn Minuten um sind, kann ich meine Bemerkung über Baselitz hier noch nicht machen).
Stattdessen gibt es noch eine dritte Bedeutung des Strudels, die mir nicht unwichtig scheint: die umgangssprachliche Übertragung dieses Begriffs auf Menschen. Mehrdeutigkeit (Fläche sowohl als Tiefe), Malpraxis (eine kreisende Gestik) und künstlerisches Temperament sind also im "Wirbel' zusammengefaßt der den "Malstrom" charakterisiert, den wir als subjektive Reaktion auf Landschaftseindrücke in einem freien ästhetischen Spiel definierten.
Zu dem gehört aber als zweite ikonographische Konstante noch die der Spiegelung oder Untiefe. Um nun nicht länger beim Trockenkurs zu bleiben, sondern konkret zu reden, beziehe ich mich für das folgende erstens auf das Bld, vor dem ich hier stehe, und zweitens auf die Grafik des Tages, die, bei ihrem Spottpreis nicht zu kaufen, den Tor des Monats ergeben würde.
Diese Serigrafie ist deutlich durch einen diagonalen Schnitt zäsuriert, der einmal Himmel und Erde scheidet, der aber zugleich akkurat durch den Mittelpunkt des Bildes verläuft, undzwar dort, wo Himmel und Erde sich berühren. Landschaftlich gesehen handelt es sich um den Horizont, der aber von Ulrich Zeh ausgespart (nach links und rechts) bzw. in der Bildmitte verwischt wurde. Malerisch gesprochen spiegeln sich Erde und Himmel (ich verweise auf das Grün im Wolkenzug), wird die Erde zur Untiefe des Himmels, der Himmel zur Untiefe der Erde. Und so wie Untiefe sowohl das Seichte wie ein besonders Tiefes bezeichnet, ist auch der Verlauf des Horizonts nicht eindeutig. Denn diese Serigrafie gehört zur Serie der Überflugbilder. Und das ist wörtlich zu nehmen.
Landschaft erscheint hier nämlich nicht in der traditionellen statischen Perspektive der einschlägigen Malerei, sondern in der Perspektive desjenigen, der sich zwischen Himmel und Erde bewegt. Der Verlauf des Horizonts korrespondiert also mit dem Neigungswinkel des Fliegers, verläuft so nur jetzt und in diesem Moment und gleich wieder ganz anders. Auf diese Weise enthalten die neuen Arbeiten Ulrich Zehs ein dynamisches Moment, sind sie auch erstarrte Bewegung, festgehaltener Augenblick. (Wobei nicht nur beiläufig zu erinnern wäre, daß Ulrich Zeh in den letzten Jahren ja euch vielbeachtete Sportbilder gemalt hat).
Das Überflugbild nun, vor dem Ich stehe, enthält beide ikonographische Konstanten. Die Spiegelung, wenn man die waagrechte Mittelachse zieht. Und den Wirbel, den Strudel sogar in zweifacher Form. Einmal in der ausladenden Bucht. Zum anderen und hauptsächlich aber in der kreisenden Gestik des Wolkenzuges, dessen unterer Scheitelpunkt zugleich der Mittelpunkt des Bildes ist. Der Mittelpunkt des Wolkenwirbels, des Wolkenstrudels aber liegt deutlich oberhalb des Bildes. Auch das ein Indiz dafür, daß es sich bei Ulrich Zehs Überflugbildern um Landschaftsausschnitte und im Schnappschuß erstarrte Bewegung handelt.
Es gibt eine bekannte Faustregel, und Ulrich Zeh hat sie in seiner Akademiezeit gelernt, die besagt, daß die Komposition eines Bildes auch dann noch stimmen müsse, wenn man das Bild auf den Kopf stellt, hängt undsoweiter. Ein schlechtes Bild wird, füge ich hinzu, nicht besser, wenn man es auf dem Kopf malt. Und wenn man ein solches, auf dem Kopf gemaltes Bild, nach genannter Akademieregel, auf die Füße stellen würde, enttarnt es sich dem Auge vollends als ungekonnte Masche. Soweit die angekündigte Bemerkung.
Anders die Bilder Ulrich Zehs, die nicht nur, wie ich bereits erwähnt habe, wenigstens zu Teilen, auf dem Kopf stehend gemalt oder korrigiert werden, die man zum Teil auch verkehrt herum aufhängen könnte. Das wäre zum Beispiel bei diesem, praktisch bei allen Überflugbildern denkbar, es ist bei mindestens zwei als Farblandschaften ausgewiesenen Galway-Gouachen möglich. Und ließe sich sogar begründen. Denn nehme ich einmal den von Ulrich Zeh ja nicht grundlos gewählten Überbegriff des Überflugbildes beim Wort, habe ich nicht nur die Perspektive des Landens, des Steigens, des Kreisens, des Einschwenkens, sondern euch die Möglichkeit des Loopings. Aus jedem dieser Bewegungsabläufe heraus stellt sich Landschaft mir anders der. Jeder dieser Bewegungsabläufe muß - wenn meine These stimmt - sich in erstarrter Form der Landschaft ablesen lassen.
Geht es aber darum, Landschaft und Bewegung, Statik und Dynamik im Bild zu bündeln, verliert die Landschaft ihren je individuellen Charakter, kann der Maler auf Elemente, die Landschaft individualisierbar und lokalisierbar machen würden, zunehmend verzichten, bedarf er ausschließlich der Idee von Landschaft. Das erklärt die zunehmende Abstraktion der Bilder Ulrich Zehs. Oder anders ausgedrückt: erst in dem Augenblick, wo er den Kunstgriff des Überflugbildes entdeckte, gelang ihm der entscheidende Schritt von der Landschaftsmalerei zur Farblandschaft, zum Farbereignis.
Da Ulrich Zehs Landschaften zunehmend Farblandschaften, farbige Ereignisse sind, kann man sie nicht nur verkehrt herum aufhängen, man kann sie sogar spiegelverkehrt addieren oder kontrastieren. Undsofort. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Das, was ich hier vorschlage, sind Mittel der Analyse, oder beim Malen Hilfestellungen für die Korrektur. Aber es ist auch geeignet, deutlich zu machen, wie weit der Abstraktionsprozeß in der Malerei Ulrich Zehs inzwischen fortgeschritten ist. Vor allem zeigt sich, in welchem Maße Strudel und Untiefe ikonographische Konstanten sind, die zusammen mit der überraschenden Perspektive der neuen Arbeiten auch dazu dienen, dem Betrachter jeden sicher geglaubten Boden zu entziehen. Sie erweisen - mit ästhetischen Mitteln - unsere Welt in ihrer schönsten Erscheinungsform, der Landschaft, als durchaus trügerischen Boden. Und sie zeigen diese durch Strudel und Untiefe gefährdete Welt als durchaus schön. So gesehen sind sie letztlich sogar ästhetische Provokation, fordern sie den Betrachter heraus, in einer immer unwirtlicheren Welt die Schönheit nicht zu übersehen, aber auch die radikale Gefährdung des Schönen nicht zu vergessen. Da es in dieser paradoxen Situation eine sichere oder gesicherte Position nicht mehr gibt, erweist sich die überraschende Perspektive der Überflugbilder als durchaus hintersinnig und ästhetisch legitimiert.
[Galerie Geiger Kornwestheim, 14.3.1987]