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Reinhard Döhl | Farblandschaften und -ereignisse

Bei Ulrich Zehs seit 1982 intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft knte man - von den Ergebnissen her gesehen - von Landschaftsausschnitten sprechen, von Ausschnitten hügeliger oder flacher, winterlicher oder eher sommerlicher, von Schnee-, Wasser- oder Wolkenlandschaften, wobei vor allem in den letzten Jahren auf einen Wechsel der Perspektive zu achten ist. Viele dieser Landschaftsausschnitte wären sogar lokalisierbar, die Schneelandschaften zum Beispiel auf dem schwäbischen Härtsfeld, die eher schwarzen Landschaften auf der kanarischen Insel Lanzarote, die "Ungenauen Landschaften" unter anderem im Kornwestheimer Stadtpark, die sogenannten "Überflugbilder" wiederum auf Lanzarote, aber auch auf Kreta, dem schwäbischen Härtsfeld wie in Irland. Lediglich die "Wolkenlandschaften" scheinen gleichsam geographielos.

Bereits eine solche Grobgliederung macht etwas faßbar, was allgemein die künstlerische Produktion Ulrich Zehs charakterisiert: nämlich, daß er selten das eine tut, ohne nicht auch anderes zu versuchen. Dabei entsprechen die Härtsfeld-, Lanzarote-, Irland-, Kreta- oder Elba-Landschaften auf der einen den "Ungenauen Landschaften" auf der anderen Seite, die warme Lava-Landschaft der kalten Schneelandschaft, die Schneefläche mit ihren Unterbrechungen der Wasserfläche mit ihren Kräuselungen, den Wolkenzügen am Himmel, ergänzen sich Wasserzeichen, Strudel und Untiefe zu einem hintersinnigen Kontext.

Selbstverständlich geht es Ulrich Zeh dabei nicht um naturalistische Landschaftsabschilderung, nicht um Abbildung von real Vorgefundenem. Denn alle seine hier einschlägigen Ölbilder, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen oder Serigrafien sind nicht vor Ort, sondern ausnahmslos im Atelier entstanden, und zwar in der Umsetzung von Fotovorlagen. Wenn man so will, ist der Fotoapparat Ulrich Zehs Notizbuch, ein technisches Hilfsmittel, um Bildideen für eine eventuelle spätere Ausführung festzuhalten (wobei es durchaus geschehen kann, daß Fotovorlagen ihm auch von Freunden zugänglich gemacht werden).

Dieses Notiz-Verfahren ist insofern interessant, als es die von Walter Benjamin im "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1) aufgestellte und vielfach nachgesprochene These vom Aura-Verlust des Bildes unterläuft. Benjamin hatte in dieser These eine historische Abfolge vom Porträt über die Reproduktionsverfahren des Holzschnitts, der Radierung, der Lithografie bis zum Foto und bewegten Bild des Filmes aufgestellt, in deren Verlauf das Kunstwerk seiner Aura unwiederbringlich verlustig gehe. Wenn Ulrich Zeh heute von Fotovorlagen als erster Notation einer Bildidee ausgeht, die er als Serigrafie, als Holzschnitt, Radierung oder als Bild realisiert, scheint es zumindest, als konterkariere er diese These, als versuche er, dem Bild wiederum
Aura zurückzugewinnen. Dem entspricht, daß seine Arbeiten, weit entfernt von jeglichem Fotorealismus, zunehmend künstliche (was nicht negativ gemeint ist) Farblandschaften entwerfen, in denen nicht der Mensch, sondern das Auge spazieren gehen soll, nicht auf gebahnten Wegen oder Abwegen, sondern auf Farbwegen. Was der Betrachter sieht, sind keine Urlaubslandschaften, sondern Farblandschaften und -ereignisse in überraschender, oft unüblicher Perspektive, die derart die Aura des Ästhetischen durchaus zurückgewinnen.

Als Max Bense im Dezember 1982 zum erstenmal zu den "Weißen Bildern" Ulrich Zehs Stellung nahm (2), bezog er sich über Benedetto Croces "Theorie des Farbflecks" auf Vittorio lmbrianis "La Quinta Promotrice" und hatte mit diesem Hinweis, seiner eigenen Formel "Schneelandschaft und Farbfleck" nichts anderes sagen wollen, als daß es sich bei Ulrich Zehs "Weißen Bildern" primär um farbige Ereignisse, um Farblandschaften handle. Und er hatte damit eine Einsicht formuliert, die sich in differenzierter Weise für alle folgenden Farblandschaften Ulrich Zehs geltend machen läßt, unabhängig von ihrem jeweiligen Ausgangspunkt. Daß dabei die Farbigkeit dieser Landschaften, das jeweilige Farbereignis, zumindest zunächst, oft Zeichencharakter hat, läßt bereits der von Ulrich Zeh für die Wasserlandschaften gewählte Serientitel "Wasserzeichen" ablesen.

Einen weiteren wichtigen Aspekt hat Max Bense mit Hinweis auf den amerikanischen Schriftsteller Ambrose Gwinnet Bierce eher angedeutet - jenen Bierce übrigens, von dem das nachdenkenswerte Bonmot stammt, Malerei sei die Kunst, Flächen vor dem Wetter zu schützen, um sie danach den Kritikern auszusetzen (3)- einen weiteren Aspekt, sagte ich, hat Max Bense eher angedeutet als ausgeführt: die Surrealität dieser "Farblandschaften", was im Sinne Benses als "Subrealität" zu lesen ist, also das hinter/unter der vordergründigen Realität in Wirklichkeit Verborgene meint. Diesem subrealen Moment der Arbeiten Ulrich Zehs (einschließlich übrigens der "SportBilder") kommt man relativ leicht auf die Spur, wenn man auf ihren Zeichencharakter, auf das achtet, was ich Strudel und Untiefe nennen möchte. Ein Serientitel wie "Ungenaue Landschaften", die Undeutbarkeit der "Wasserzeichen", die grundsätzliche Offenheit der "Farblandschaften" deuten in die gleiche Richtung.

Ich habe dabei durchaus die Mehrdeutigkeit dieser Wörter im Sinn, denn "Wasserzeichen" bezeichnet nicht nur das durchscheinende Fabrikzeichen auf dem Papierbogen. Es steht in der mystischen Literatur zum Beispiel auch für "wässeriges Sternzeichen", belegt etwa bei Paracelsus, der empfiehlt, "dasz man Acht hab auff die astra, dasz sie seyend im Element desz Wassers, und exaltirn sich in den Wasserzeichen".

Mag die Annahme beabsichtigter Mehrdeutigkeit hier noch Spekulation sein, im Falle der Untiefe, die sowohl eine seichte, gelegentlich nicht ungefährliche wie eine besonders tiefe Stelle meint, ist nicht mehr zu streiten.

"Die Eingäng", lese ich zum Beispiel in einer Übersetzung der berühmten "Utopia" des Thomas Morus, "seind erschrecklich, auf der einen Seiten wegen der Seuchte und Untieffe, auf der anderen aber wegen des Felsen". Und in Wilhelm Raabes "Vom alten Proteus" heißt es: "Da lag [...] das, was das Volk ein Untiefe oder Grundlose nennt, nämlich ein stehend Gewässer von geringem Umfange, aber einer nicht ausgemessenen Tiefe."

Konkret beziehe ich mich, wenn ich in diesem doppelten Sinne von Untiefe spreche, natürlich auf die "Wasserzeichen", deren Mehrdeutigkeit den japanischen Wissenschaftler und Dichter Hiroo Kamimura zu vier konkreten Texten (4) anregte, um seinerseits die Untiefe der Wasserzeichen sprachlich auszuloten.
 
ashi wa yoshi
ashi ga yoshi towa
yoshi wa ashi
yoshi ga ashi towa
yokare yoshlashi
ashikare ashiyoshi

 
ashi o miru
ashi o miru towa
yoshi o mizu
yoshi o mizu towa
ashi ni yoshiwara
yoshi ni ashiwara
mizu o mirn
mizu o miru towa
mizu ni miru
mizu ni miru towa
mizu mizumizushi
mizumizushiki mizu

 
mizu ni haeru ashi
mizu wa yoshi
mizu ni miru yoshi
mizu wa ashi
mizu niwa ashide
mizu ni yoshinashi

Konkret beziehe ich mich, wenn ich in diesem doppelten Sinne von Untiefe spreche, aber auch auf die häufigeren Spiegelungen in den "Ungenauen Landschaften" oder auf Bilder des Lanzarote-Zyklus, speziell eine "Studie über eine Landschaft auf Lanzarote", deren zentraler Trichter seine Entsprechung hat in einem trichterähnlichen Loch am Rande der Insel (=El Golfo), das sich im Laufe der Zeit mit Meerwasser auffüllte, das, durch den schwarzen Sand ständig nachdrückend, durch Verdunstung allmählich eine ins Grünliche spielende Salzbrühe ergab, die zwar kein Leben zuläßt, wohl aber auf faszinierende Weise alle umgebenden Farben intensiv spiegelt.

Im Falle des Strudels findet sich bedeutungsgeschichtlich Vergleichbares, da das Wort sowohl die flächenhafte wie die in die Tiefe gehende Kreisbewegung bezeichnet, den oberflächlichen Wirbel ebenso wie die sagenhafte Charybdis. Wobei mir zusätzlich nicht unwichtig ist, daß der Begriff umgangssprachlich auch auf Menschen übertragen wird, und vor allem, daß er ein Stück Zehscher Malpraxis benennt, so daß sich mit ihm künstlerisches Temperament, Maltechnik und ikonographischer Hintersinn in eins fassen lassen.

Konkret beziehe ich mich, wenn ich in diesem mehrfachen Sinne von Strudel spreche, auf die kreisende Gestik mancher Arbeiten, stellvertretend auf die schon genannten "Farblandschaften" und die "Studie über eine Landschaft auf Lanzarote", auf die wirbelähnliche Anlage einiger Holzschnitte von 1985 (die auch Spiegelungen und Untiefen aufweisen). Vor allem aber beziehe ich mich auf die zahlreichen freigewirbelten oder freigetauten Stellen der "Weißen Bilder" sowie die kreisende Gestik vieler "Überflug-" und "Wolkenbilder", deren Radius oft der Malarm ist (mit zum Teil interessanten Entsprechungen bei den fixierten Bewegungsabläufen der "SportBilder"), eine Gestik, die auch darauf zielt, den Betrachter in den Sog der "Farblandschaften" regelrecht hineinzuziehen.

Das wirft unter anderem auch die Frage nach der Perspektive auf. Versteht man unter ihr a) und wie in der Kunst üblicherweise die Darstellung von räumlichen Gegenständen auf der Ebene mit räumlicher Wirkung und übersetzt b) den Begriff mit Ausblick, Durchblick, Aussicht für/auf die Zukunft, dann ist bei Ulrich Zeh beides zu bedenken. Zu a) wäre dann zum Beispiel die verkürzte Perspektive der "Überflugbilder" zu rechnen in ihrer Spannung von Statik, Raum, Landschaft und Bewegung, Dimension der Zeit, Überfliegen. Wobei das Bild dann in der Verbindung den beiden Elementen, einer flüchtigen Bewegung mit einem perspektivisch unüblichen Landschaftseindruck, Dauer verleiht.

Übersetzt man Perspektive mit Ausblick, Durchblick, Aussicht auf [...] käme als eine weitere zu bedenkende Größe der Mensch hinzu, der ja in diesen Farblandschaften auffällig ausgespart und auf die Rolle des Betrachters verwiesen bleibt. Anders als Caspar David Friedrich, mit dem Ulrich Zeh sich intensiv auseinandergesetzt hat (5), benötigen die "Farblandschaften" Zehs keinen stellvertretenden Betrachter (keinen Wanderer über dem Nebel-, keinen Mönch am Meer), wird vielmehr der reale Betrachter in den Sog des Bildes, in seine Untiefen und Strudel hineingezogen.

Vom "Wirbel im Malstrom" hat 1982 der Kritiker Karl Diemer in den "Stuttgarter Nachrichten" angesichts der "Weißen Bilder" Ulrich Zehs gesprochen und damit - bewußt oder unbewußt - auf eine für die moderne Ästhetik zentrale Erzählprosa Edgar Allan Poes gewiesen. Wobei ich dem Vorwurf, hier werde der Exegese zuviel getrieben, vorab entgegne, daß die für einen Maler erstaunlich umfangreiche Bibliothek Ulrich Zehs natürlich eine Werkausgabe Poes enthält, daß Ulrich Zeh 1975 bereits Poes Erzählung "Die Tatsachen im Falle Waldemar" illustrierte - Indizien, die sich vermehren ließen.

Edgar Allan Poes zur Diskussion stehende Erzählung "Der Sturz in den Malstrom" (auch als "Der Maelstrom" zitiert) wird den "Tales of Terror" zugerechnet, denen es nicht um "Wahrheit in Gestalt von logischen Schlüssen und logischer Analyse" gehe, in denen vielmehr alles berechnet sei auf die Erzeugung eines einzigen Gesamteffektes, der, schwer zu umschreiben, mit dem Wort "Grauen" nur unzulänglich getroffen werde, eines Effektes, der im Schrecklichen plötzlich Schönheit erkennen lasse. (6) Ein wörtliches Zitat macht dies deutlicher als jede Erklärung. Das Boot zweier Lofotenfischer ist gekentert. Der Erzähler kreist im alles verschlingenden Malstrom:

"Ich nahm meinen Mut zusammen und blickte wieder auf meine Umgebung. Niemals werde ich die Gefühle von Ehrfurcht, Schrecken und Bewunderung vergessen, mit denen mich der Anblick erfüllte. Das Boot schien wie durch ein Wunder an der inneren Oberfläche des Trichters zu hängen, der von weitem Umfang und unerkennbarer Tiefe war, und dessen glatte Flächen man für Ebenholz gehalten hätte, ohne die erschreckende Schnelligkeit ihres Herumwirbelns und den grausigen Schimmer, der von ihnen ausging in den Strahlen des Vollmonds, der aus der kreisrunden Wolkenöffnung [...]eine Flut goldenen Scheines auf die schwarzen Wände und weit hinunter in die innersten Winkel des Abgrundes ergoß.

Zuerst war ich zu verwirrt, um irgend etwas genau beobachten zu können. Die plötzliche Erscheinung schrecklicher Größe war alles, was ich begriff. Als ich wieder zu mir kam, wandte sich mein Blick unwillkürlich nach unten [...].

Die Mondstrahlen schienen den untersten Grund des tiefen Schlundes zu durchsuchen. Aber noch immer konnte ich nichts genau sehen, durch den dicken Nebel, der alles einhüllte und über dem ein herrlicher Regenbogen hing wie die schmale, schwankende Brücke, die nach dem Glauben der Mohammedaner den einzigen Pfad zwischen Zeit und Ewigkeit bildet." (7)

Was Edgar Allan Poe hier beschreibt, ist der Prozeß eines Umschlagens von Grauen in Erstaunen und schließlich in das Bestaunen von etwas schrecklich Schönem. Ähnlich pointiert auch Max Bense, wenn er Ambrose Gwinnet Bierce zitiert, der einen Toten mit den Worten beschrieb: "Noch nie hatte ich so etwas Schönes gesehen, wie dieses abscheuliche Geschöpf" ("Bei Resecca gefallen"). Ob Max Bense hier ausschließlich zitiert oder dieses Zitat (auch) mit dem rätselhaften Lebensende seines Verfassers verbunden wissen will, geht aus dem Kontext nicht eindeutig hervor. Wie auch immer: Schönheit des Häßlichen, Grauen und Schönheit sind jedenfalls die Formeln, die eine moderne Ästhetik hier zur Hand hat.

Nur - für Ulrich Zehs Arbeiten seit den "Gestörten Idyllen" gelten sie so fraglos nicht, sehr wohl aber in ihrer Umkehrung: Häßlichkeit der Schönheit, Schönheit und Grauen. Denn genau umgekehrt wie der Lofotenfischer begreift der Betrachter der Zehschen Landschaften die Schmutzstellen der "Weißen Bilder", die Farbflecken wie allgemein die Farbigkeit der Lanzarote-Arbeiten, die diffuse Farbigkeit der "Ungenauen Landschaften", die "Überflugbilder" der letzten Jahre mit ihrer Sogwirkung, die dem Betrachter gleichsam den sicher geglaubten Boden unter den Füßen wegzieht, begreift er Strudel und Untiefe als ein in die vermeintliche Idylle eingeschlossenes Erschrecken. (Ein weiteres Indiz übrigens dafür, daß die Ulrich Zehs Produktion auslösenden Landschaften im Grunde austauschbar sind, daß es nicht auf sie, sondern auf das Farbereignis, die "Farblandschaften", ankommt, die - ausgehend von einer Bildidee - im Atelier aus zahlreichen, sich oft sogar selbst steuernden Farbschritten entstehen.)

Es gibt eine kunstgeschichtlich bekanntere Bildtradition, in der arkadische Hirten einem Totenkopf, später einem Sarkophag, konfrontiert werden, dem die Worte "Et in Arcadia ego" eingeschrieben sind. Was den Hirten in der Idylle und über sie dem Betrachter des Bildes besagen will: Selbst in Arkadien herrsche ich, der Tod. Allerdings verkehrt sich in dieser Bildtradition die Aussage, antwortet, wie Erwin Panofskys zuständige Studie nachweist (8), auf Giovanni Francesco Guercinos und Nicolas Poussins "Et in Arcadio ego" Honoré Fragonards Zeichnung "Das Grab": "Selbst im Tod kann es Arkadien geben", antwortet dem Idyllenbruch schließlich der Bruch in die Idylle.

Was in dieser Bildtradition inhaltlich als Idyllenbruch durchvariiert wird, spielt Ulrich Zeh seit seinen "Gestörten Idyllen" ästhetisch durch. Zum Beispiel in den unnatürlichen Grüntönen mancher "Ungenauen Landschaft" oder der unüblichen Perspektive der "Überflugbilder", ihrer Malbewegung von vorn nach hinten, von dunkel zu hell.

Seine dagegen ruhigeren "Weißen Bilder" umfassen die Kälte des Schneefeldes und zugleich - physikalisch gesprochen - die Anwesenheit aller Farben im Weiß. Um dies sichtbar zu machen, bedarf es des Tauflecks oder der Schmutzstelle (je nach Einstellung des Betrachters). Seine "schwarzen" Bilder umfassen die Wärme des Lavafeldes und zugleich - physikalisch gesprochen - die Abwesenheit aller Farben im Schwarz. Um dies sichtbar zu machen, bedarf es des Trichters oder des Farbflecks (je wiederum nach Einstellung des Betrachters). Auf einer weiteren Stufe aber sind - da sich die Schmutzstelle auf das Schwarz und der Farbfleck auf das Weiß reziprok beziehen lassen - die "weißen" und die "schwarzen" Bilder Ulrich Zehs in dem gleichen Maße Variationen eines Themas, wie ihre genaue Lokalisierungsmöglichkeit auf der einen und die austauschbaren Lokalitäten der "Ungenauen Landschaften" auf der anderen Seite, wie eine eher ruhige Farbigkeit der "Weißen Bilder" hier gegenüber der dynamischen Farbigkeit der "Überflugbilder" dort, die mit ihrem Entziehen des sicher geglaubten Bodens oder Standpunkts wiederum den Strudeln und Untiefen der Landschaften entsprechen, befindet sich der Betrachter doch gleichsam zwischen Himmel und Erde. Der Verlauf des Horizonts entspricht gleichsam dem Neigungswinkel des Fliegers, verläuft so nur jetzt und in diesem Moment und gleich wieder ganz anders. Auf diese Weise enthalten die neuen Arbeiten Ulrich Zehs ein dynamisches Moment und sind zugleich erstarrte Bewegung, festgehaltener Augenblick.

Ein "Überflugbild", auf das ich mich hier beziehe, enthält mit Spiegelung und Strudel gleich zwei der nun schon mehrfach genannten Bildkonstanten. Die Spiegelung, wenn man die waagrechte Mittelachse zieht. Und den Wirbel, den Strudel sogar in zweifacher Form. Einmal in der ausladenden Bucht. Zum anderen und hauptsächlich aber in der kreisenden Gestik des Wolkenzuges, dessen unterer Scheitelpunkt zugleich der Mittelpunkt des Bildes ist. Der Mittelpunkt des Wolkenstrudels aber liegt deutlich außerhalb des Bildes. Ein weiteres Indiz dafür, daß es sich auch bei Ulrich Zehs "Überflugbildern" um Landschaftsausschnitte und im Schnappschuß erstarrte Bewegung handelt.

Es gibt eine Faustregel, und Ulrich Zeh hat sie in seiner Akademiezeit gelernt, die besagt, daß die Komposition eines Bildes auch dann noch stimmen muß, wenn man das Bild auf den Kopf stellt. Ein schlechtes Bild wird, füge ich hinzu, nicht dadurch besser, daß es auf dem Kopf gemalt ist. Wenn man nämlich ein solches, auf dem Kopf gemaltes Bild, nach benannter Akademieregel auf die Füße stellen würde, würde es sich dem Auge vollends als ungekonnte Masche enttarnen, wie in meinen Augen zum Beispiel manche Arbeiten von Georg Baselitz.

Anders die Bilder Ulrich Zehs, die nicht nur, wie bereits erwähnt, wenigstens zu Teilen, auf dem Kopf stehend gemalt oder korrigiert werden, die man zum Teil auch verkehrt herum aufhängen könnte. Das wäre zum Beispiel bei praktisch allen "Überflugbildern", denkbar, es ist bei mindestens zwei als "Farblandschaften" ausgewiesenen Galway-Gouachen möglich, und ließe sich sogar begründen. Denn nehme ich einmal den von Ulrich Zeh ja nicht grundlos gewählten Begriff des "Überflugbildes" beim Wort, habe ich nicht nur die Perspektive des Landens, des Steigens, des Kreisens, des Einschwenkens, sondern auch die Möglichkeit des Loopings. Aus jedem dieser Bewegungsabläufe heraus stellt sich Landschaft mir anders dar. Jeder dieser Bewegungsabläufe muß - wenn meine These stimmt - sich in erstarrter Form der Landschaft ablesen lassen.

Geht es aber darum, Landschaft und Bewegung, Statik und Dynamik im Bild zu bündeln, verliert die Landschaft ihren je individuellen Charakter, kann der Maler auf Elemente, die Landschaft individualisierbar und lokalisierbar machen würden, zunehmend verzichten, bedarf er ausschließlich der Idee von Landschaft. Das erklärt die zunehmende Abstraktion der Bilder Ulrich Zehs. Oder anders ausgedrückt: erst in dem Augenblick, wo er den Kunstgriff des "Überflugbildes" entdeckte, gelang ihm der entscheidende Schritt von der Landschaftsmalerei zur "Farblandschaft", zum Farbereignis der "Wolkenbilder".

Da Ulrich Zehs Landschaften zunehmend "Farblandschaften", farbige Ereignisse sind, kann man sie nicht nur verkehrt herum aufhängen, man kann sie sogar spiegelverkehrt addieren oder kontrastieren. Und so fort. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Das, was ich hier vorschlage, sind Mittel der Analyse oder beim Malen Hilfestellungen für die Korrektur. Aber es ist auch geeignet, deutlich zu machen, wie weit der Abstraktionsprozeß in der Malerei Ulrich Zehs inzwischen fortgeschritten ist. Vor allem zeigt sich, in welchem Maße Strudel und Untiefe ikonographische Konstanten sind, die zusammen mit der

überraschenden Perspektive der neuen Arbeiten auch dazu dienen, dem Betrachter jeden sicher geglaubten Boden zu entziehen. Sie erweisen - mit ästhetischen Mitteln - unsere Welt in ihrer schönsten Erscheinungsform, der Landschaft, als durchaus trügerischen Boden. Und sie zeigen diese durch Strudel und Untiefe gefährdete Welt als durchaus schön. So gesehen sind sie letztlich sogar ästhetische Provokation, fordern sie den Betrachter heraus, in einer immer unwirtlicheren Welt die Schönheit nicht zu übersehen, aber die radikale Gefährdung des Schönen nicht zu vergessen. Da es in dieser paradoxen Situation eine sichere oder gesicherte Position nicht mehr gibt, erweist sich die überraschende Perspektive der Überflug-" und der ihnen folgenden "Wolkenbilder" als durchaus hintersinnig und ästhetisch legitimiert.

Das Thema aber, der gemeinsame Nenner, auf den man Ulrich Zehs scheinbar so unterschiedliche Arbeiten bringen könnte, die ästhetisch gestörte Idylle, wäre mißverstanden, sähe man in ihr ausschließlich ein malerisches Problem. Denn hinter ihm verbirgt sich sekundär etwas, das sich vielleicht nicht direkt, wohl aber indirekt über die genannte Bildtradition des "Et in Arcadia ego" erschließen läßt. Kontrastierten doch die in ihr einschlägigen Bilder zu einer Zeit, die sich, statt längst überfällige Lösungen zu suchen, in Schäferspiele flüchtete, denen erst die Französische Revolution ein abruptes Ende bereitete. Dieser damaligen Flucht in die Schäferspiele sind heutige Zurück-zur-Natur-Bewegungen und unreflektierte Aussteiger-Ambitionen (vgl. Qdo Marquards Diktum von den "Schäferspielen der spätbürgerlichen Welt") auf der einen, die fahrlässigen Beschwichtigungen nach Tschernobyl und Tschernobâle auf der anderen Seite durchaus vergleichbar. Denen wiederum setzt Ulrich Zeh die Strudel und Untiefen seiner "Gestörten Idyllen" entgegen, entzieht er in den "Farblandschaften" der "Überflug-" und "Wolkenbilder" den sicher geglaubten Boden. Mit Mitteln der Kunst, nicht der Agitation. Damit gewinnt er seinen "Farblandschaften" gegenüber der eindeutigen Agitation seiner früheren "Stadtlandschaften" (9) eine ästhetische Komplexität, die ein "Et in Arcadia mors" ebenso einschließt wie ein "Et in morte Arcadia". Wenn ich - in meiner Skizze der Werkentwicklung Ulrich Zehs - Anfang der 80er Jahre den Ansatz (Schönheit des Häßlichen; Grauen und Schönheit) umgekehrt fand (Häßlichkeit der Schönheit; Schönheit und Grauen) (10), schließen die sogenannten "Überflug-" und "Wolkenbilder", die "Farblandschaften" zunehmend und zusehends beides mit ein.

[Aus: Ulrich Zeh. Farblandschaften und -ereignisse. Hrsg. von R.D., zus. mit Ute Bopp und Sibylle Mockler. O.O. [Stuttgart]: Eine Edition des Schwarzen Lochs o.J. [1991]. Für den Druck durchgesehener und erweiterter Essay aus Ulrich Zehs Farb-Landschaften & Ereignisse. Kornwestheim: Galerie Geiger 1987]

Anmerkungen
1 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/Main 1963.
2 Benses Eröffnungsrede ist im Druck zugänglich in: Ulrich Zeh. Stadt & Landschaft weiß. Hrsg. von R. Döhl. Bietigheim-Bissingen 1985, S.176 ff.; Kunst Handwerk Kunst. Hrsg. von R. Döhl. Kornwestheim 1986, S. 272ff.
3 Aus dem Wörterbuch des Teufels. Frankfurt/Main 1980,S.67.
4 Eine Übersetzung würde die Texte ihres Reizes berauben. Ich gebe deshalb lediglich einen kommentierten Wortschlüssel:
ashi: Schilf oder (adj.) schlecht, böse
yoshi: Schilf oder (adj.) gut
wa oder ga: (Kopula) ist
towa; Endung des Ausrufesatzes
yokare: sei es gut
ashikare: sei es schlecht
yokare ashikare; ob es recht oder unrecht ist: ob es gut oder schlecht ist
mizu: Wasser oder nicht sehen
miru: sehen
o: Bezeichnungswort des Akkusativs
ni: (hier) in
mizumizushi: sehr frisch
mizumizushiki: Deklination von mizumizushi
yoshiwara: das Land, wo Schilf üppig wächst; (als Ortsname) ein früher wohlbekanntes Bordellviertel in Tokyo
ashiwara: das Land, wo Schilf üppig wächst
haeru: wachsen oder schön aussehen
ashide: ein scherzhaftes, kalligraphisches Bild aus der Heian-Zeit (794 bis 1192), das Schilf vortäuscht
yoshinashi: unbegründet, uninteressant
5 Vgl. Stadt & Landschaft weiß, S.75 ff.
6 Vgl. das Nachwort von Johannes Kleinstck in Edgar Allan Poe. Der Mord in der Rue Morgue. Geschichte zwischen Tag, Traum und Tod. Hamburg 1959, S.151.
7 Ebd.,S.94f.
8 Et in Arcadia ego. Poussin and the Elegiac Tradition. In: Meaning in the Visual Arts. Papers in and on Art History by Erwin Panofsky. New York 1955, S.295 ff.
9 Stadt & Landschaft weiß, S.5 ff.
10 Eröffnungsrede zur Ausstellung Ulrich Zehs im Hornmoldhaus in Bietigheim-Bissingen am 20. Januar 1985. Stuttgart 1985, S.7 f.