Max Bense/Reinhard Döhl
Zur Lage
Die Poesie hat heute den Unterhaltungsstil und die Gattungskriterien einer konventionellen (sogenannten) Literatur hinter sich gelassen. Selbst die Grenzen zu anderen Kunstgattungen (zur Malerei, zur Musik) verwischen sich immer mehr. Das Feld der Poesie ist weiter geworden in dem Maße, wie unsere Augen und Ohren empfindlicher wurden für mikroästhetische Strukturen und Differenzierungen.
Traditionell an die Literaturrevolution der Jahrhundertwende, der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts gebunden (und darüber hinaus rückbezogen auf Errungenschaften der literarischen Romantik), ist Poesie heute kein Transportmittel mehr für zumeist fragliche ethische Inhalte, kein Rechtfertigungsvehikel mehr für weltanschaulichen Unfug. Statt der Vorstellung einer Nationalpoesie hat sich die Vorstellung einer progressiven Poesie entwickelt, an die Stelle des Mystikers und metaphysischen Schwadroneurs ist der atheitische, also der rationale und methodische Autor getreten, dessen Augenmerk der Sprache, der Materialien gilt, derer er bei der Verfertigung seiner Reihen und Strukturen bedarf, die er methodisch handhabt. Zwar bleibt auch dieser Autor, als intellektuelles Individuum einer Zivilisation und ihrer Gesellschaft, eben dieser Gesellschaft verpflichtet: aber an Stelle der ethischen Verpflichtung tritt die ästhetische Moral, an Stelle des Kategorischen Imperativs zählt die ästhetische Auseinandersetzung (mit der Sprache des Unmenschen etwa), an Stelle der mitgeteilten Fabel gilt das ästhetische Spiel: In einem solchen Sinne sprechen wir auch von Poesie heute als einer ästhetischen Negation gesellschaftlicher Zustände, zivilisatorischer Mängel.
In dem Maße wie Zivilisation heute auf Perfektion aus sein muß, um zu überleben, tendiert Poesie heute in Richtung einer perfektionierten künstlichen Poesie, im Sinne der Berücksichtigung ihrer Programmierung und Reproduktion, ihres theoretischen und ihres experimentellen Vergnügens, ihrer Freiheit und ihres Verbrauchs, ihrer maschinellen und ihrer menschlichen Realisation. Poesie heute siedelt also in einem Zwischenbereich zwischen natürlicher und künstlicher Poesie, als bewußte Poesie in einer progressiven Absicht. Ihre Sprache, die bis dato einer traditionell und historisch bedingten syntaktischen Folge Subjekt-Prädikat-Objekt folgte, hat sich material verselbständigt zugunsten neuer sprachlicher Strukturen, zugunsten neuer akustischer und/oder visueller Arrangements. Durch überraschende Verteilungen in der syntaktischen und/oder semantischen Dimension entsteht im wörtlichen Sinne eine Poesie der Wörter, des Setzkastens, der Farben, der Töne. Sechs Tendenzen sind dabei ablesbar, innerhalb derer Poesie heute realisiert wird:
1. Buchstaben = Typenarrangements = Buchstaben-Bilder
In den meisten Fällen werden diese Möglichkeiten nicht in reiner Form verwirklicht und vorgeführt. Wir ziehen die Poesie der Mischformen vor. Ihre Kriterien sind Experiment und Theorie, Demonstration, Modell, Muster, Spiel, Reduktion, Permutation, Iteration, Random (Störung und Streuung), Serie und Struktur. Das Erzeugen ästhetischer Gebilde erfolgt nicht mehr aus Gefühlszwängen, aus mumifizierender oder mystifizierender Absicht; sondern auf der Basis bewußter Theorien, intellektueller (cartesianischer) Redlichkeit. Zur Realisation ästhetischer Gebilde bedarf es des Autors und des Druckers und des Malers und des Musikers und des Übersetzers und des Technikers und Programmierers. Wir sprechen von einer materialen Poesie oder Kunst. An die Stelle des Dichter-Sehers, des Inhalts- und Stimmungsjongleurs ist wieder der Handwerker getreten, der die Materialien handhabt, der die materialen Prozesse in gang setzt und in gang hält. Der Künstler heute realisiert Zustände auf der Basis von bewußter Theorie und bewußtem Experiment. Wir sprechen von einer experimentellen Poesie, insofern ihre jeweiligen singulären Realisationen ästhetische Verifikationen oder Falsifikationen bedeuten. Wie sprechen wieder von einer Poietike techne. Wir sprechen noch einmal von einer progressiven Ästhetik bzw. Poetik, deren bewußte Anwendung ein Fortschreiten der Literatur demonstriert, wie es schon immer den Fortschritt der Wissenschaft gab.
Stuttgart 1964