Reinhard Döhl | Vom Computertext zur Netzkunst. Vom Bleisatz zum Hypertext

Der klug formulierte Titel des Karlsruher Unternehmens, "Liter@tur. Computer / Literatur / Internet", stellt die Literatur zwischen den Computer auf der einen und das Internet auf der anderen Seite, zwischen Aufschreibsystem und -mittel und Erscheinungsform. Und er schreibt das a in Literatur als @ [= Liter@tur]. Was schon optisch die Frage provoziert, ob wir es hier mit einer Literatur zwischen der Skylla Computer und der Charybdis Internet zu tun haben oder ob es sich bei einer mit dem Computer für das Netz geschriebenen Liter@tur um eine neue, eine @ndere Literatur handelt.

Wobei ich als Konsens unterstelle, daß die Literatur sich nicht nur der Medien bedient, sondern die Medien auch die Erscheinungsformen der Literatur bedingen. Niemand wird ernsthaft Wechselwirkungen zwischen literarischer, allgemein künstlerischer Hervorbringung und den gewählten Aufschreibsystemen bezweifeln, in Frage stellen wollen, daß die kulturgeschichtlich gewichtigen Schritte von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von individueller zu mechanisch vervielfältigter Schriftlichkeit durch Erfindung des Buchdrucks, und schließlich, mit Beginn des letzten Jahrhunderts, von der Schriftlichkeit zu elektronischer Herstellung und Verbreitung Veränderungen für die Literatur (wie allgemein die Künste) zur Folge hatten: durch den Rundfunk zum Beispiele zu einer neuen Mündlichkeit, durch den Computer zu einer neuen Schriftlichkeit, die noch das Bild mit einschließt.

Aleatorische Kunst

Bei ihr unterscheide ich zunächst zwischen zwei Textsorten:

Die Geschichte des zufällig gefügten Textes weist Traditionslinien auf bis zurück in den Manierismus und den Barock, wo er z.B. in Georg Philipp Harsdörffers "Frauen-Zimmer Gesprech-Spiel[en]" (1641-49) beim "Wörterzuwurf" gesellschaftliches Spiel ist, ebenso im 18./19. Jahrhundert, in dem die Aleatorik an Bedeutung gewinnt, ich nenne als ein Beispiel "Neunhundert neun und neunzig und noch etliche Almanachs-Lustspiele durch den Würfel. Das ist: Almanach dramatischer Spiele für die Jahre 1829 bis 1961 [sic]. Ein Noth- und Hülfs-Büchlein für alle stehenden, gehenden und verwehenden Bühnen so wie für alle Liebhabertheater und Theaterliebhaber Deutschlands. Von Simplicius der freien Künste Magister".

Satirisch auf Wissenschafts-Rationalismus des 18. Jahrhunderts zielt Jonathan Swift in der Beschreibung einer Maschine, die mit ihrer zufälligen Textproduktion die spekulativen Wissenschaften durch praktische und mechanische Operationen [...] verbessern soll ("Gullivers Reisen" III, 5; 1726). Gulliver erhält auf seiner dritten Reise die Erlaubnis, die große Akademie der Hauptstadt Lagado zu besichtigen.

Der erste Professor [...] führte mich an einen Rahmen, wo alle seine Schüler in Reihen aufgestellt waren. Der Rahmen war zwanzig Quadratfuß groß und befand sich in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche bestand aus einzelnen Holzstücken von der Dicke eines Würfels, von denen jedoch einzelne größer als andere waren. Sie waren sämtlich durch dünne Drähte miteinander verknüpft. Diese Holzstücke waren an jeder Fläche mit überklebtem Papier bedeckt, und auf diesen Papieren waren alle Worte der Landessprache, und zwar in den verschiedenen Modis, in Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne alle Ordnung aufgeschrieben: Der Professor bat mich achtzugeben, da er nun seine Maschine in Bewegung setzen wolle. Jeder Zögling nahm auf seinen Befehl einen eisernen Griffel zur Hand, von denen vierzig am Rande des Rahmens befestigt waren. Durch eine plötzliche Umdrehung wurde dann die ganze Anordnung der Wörter verändert. Alsdann befahl er sechsunddreißig der jungen Leute, die verschiedenen Zeilen langsam zu lesen, und wann sie drei oder vier Wörter ausgefunden hatten, die einen Satz bilden konnten, diktierten sie dieselben den vier anderen, welche sie niederschrieben. [...]
Der Professor zeigte mir mehrere Folianten, welche auf diese Weise mit Bruchstücken von Sätzen gefüllt waren und die er zusammenstellen wollte. Aus diesem reichen Material werde er der Welt ein vollständiges System aller Wissenschaften und Künste geben, ein Verfahren, das er jedoch verbessern und schneller beendigen könne, wenn das Publikum ein Kapital zusammenbringen wolle, um fünfhundert solcher Rahmen in Lagado zu errichten, und wenn man die Unternehmer veranlassen würde, die verschiedenen Sammlungen zu einer gemeinsamen zu vereinigen.

Das liest sich auch heute noch nicht ohne Ironie,

Die Stuttgarter Gruppe/Schule

Wenn ich mich im Folgenden vor allem auf Stuttgart konzentriere, geschieht dies

Ein Charakteristikum der in soziologischen Verständnis offenen Stuttgarter Gruppe/Schule war sehr früh bereits ihr Interesse an einer Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen. Bereits im Oktober/Dezemberheft 1959 der "Zeitschrift für Tendenz und Experiment", "augenblick", veröffentlichte der Mathematiker Theo Lutz einen Aufsatz über mit Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 im Rechenzentrum der Stuttgarter damals noch Technischen Hochschule geschriebene "Stochastische Texte", in dem er referierte, daß die ursprünglich [...] für die Bedürfnisse der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik entwickelten programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen eine Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten böten. Für die Benutzer derartiger Rechenanlagen sei nicht entscheidend, was die Maschine tue, wichtig [...] allein sei, wie man die Funktion der Maschine interpretiere.

Die Stuttgarter Gruppe/Schule interpretierte wissenschaftlich, indem sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher herstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen nutzte; sie interpretierte aber auch literarisch, indem sie das Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den Computer anwies, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben.

Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis,

NICHT JEDER BLICK IST NAH. KEIN DORF IST SPÄT.
EIN SCHLOSS IST FREI UND JEDER BAUER IST FERN.
JEDER FREMDE IST FERN: EIN TAG IST SPÄT.
JEDES HAUS IST DUNKEL: EIN AUGE IST TIEF.
NICHT JEDES SCHLOSS IST ALT. JEDER TAG IST ALT.
NICHT JEDER GAST IST WÜTEND. EINE KIRCHE IST SCHMAL.
KEIN HAUS IST OFFEN UND NICHT JEDE KIRCHE IST STILL.
JEDER WEG IST NAH. NICHT JEDES SCHLOSS IST LEISE.
KEIN TISCH IST SCHMAL UND JEDER TURM IST NEU.
JEDER BAUER IST FREI. JEDER BAUER IST NAH.
KEIN WEG IST GUT ODER NICHT JEDER GRAF IST OFFEN.
NICHT JEDER TAG IST GROSS. JEDES HAUS IST STILL.
EIN WEG IST GUT. NICHT JEDER GRAF IST DUNKEL.
JEDER FREMDE IST FREI. JEDES DORF IST NEU.
JEDES SCHLOSS IST FREI. NICHT JEDER BAUER IST GROSS.
NICHT JEDER TURM IST GROSS ODER NICHT JEDER BLICK IST FREI.
[...]
Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte aber für uns den Wert einer Inkunabel künstlicher Poesie, die Max Bense kurze Zeit später auch theoretisch von der natürlichen Poesie unterschied:

Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die [...] ein personales poetisches Bewußtsein [...] zur Voraussetzung hat ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag. [...] Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzt. In dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine ontologische Fortsetzung zu sein. [...]
Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie verstanden, in der es, sofern sie z.B. maschinell hervorgebracht werde, kein personales poetisches Bewußtsein [...], also keine präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich bezogen werden könnte. Während also für die natürliche Poesie ein intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben.

An weiteren Unterschieden seien noch genannt die Interpretierbarkeit der natürlichen und die Nichtinterpretierbarkeit der künstlichen Poesie, der Modus der Unwillkürlichkeit für die künstliche und der Modus der Willkürlichkeit für die natürliche Poesie. Wobei sich - was uns die Sache besondes aufregend machte - eine Begriffspaar aus dem "Allgemeinen Brouillon" des Romantikers Novalis in seiner Bedeutung geradezu umkehrte.

Spuren solch künstlicher Poesie lassen sich, eingearbeitet in natürliche Texte, z.B. in meinen "fingerübungen" (1962), der "Prosa zum Beispiel" (1965) oder in Max Benses/Ludwig Harigs "Monolog der Terry Jo" aus dem Jahre 1968 finden. Ich zitiere nach dem Tondokument die Vorbemerkung des für die Regie verantwortlichen und wohl auch als Co-Autor anzusprechenden Heinz Hostnigs:

Der Monolog beginnt mit einem Computer-Text. Es sind neun synthetische Annäherungen an die Sprache des Mädchens. Die Tatsache, daß gewisse Analogien zwischen dem zu Anfang unbewußten Zustand des Mädchens und der Unbewußtheit eines Computers bestehen, ließ diese erste Verwendung eines mit einer programmgesteuerten Maschine hergestellten Textes in einem Hörspiel gerechtfertigt erscheinen.
Diese Computertexte des Monologs werden in der Realisation übersetzt in eine durch ein kompliziertes Vocoder-Verfahren hergestellte synthetische Sprache, die im Verlauf des Monologs mehr und mehr abgebaut und von der natürlichen Stimme abgelöst wird.

Daß natürliche und künstliche Poesie sich in unseren damaligen Texten mischten, sagte ich und füge hinzu, daß dies auseinanderzuhalten selbst Kennern der damaligen Experimente oft schwer fällt. Ein Beispiel:

MEIN Standpunkt und der Kirschbaum oder die Wegfahrt und der Überblick oder die Handhabe und das Fortbleiben oder Josef. K. und der Vormärz oder die Polizei und das dritte Fenster oder ein Horizont und das zerrissene Blatt oder der Duft und der Anflug das Verwelkte und das Schiff oder das Unerwartete und das Wort oder die Zärtlichkeit und das Gehen oder das Lesebuch und das Selbst oder die Nachwelt und Paris oder das ermüdete Sein und noch ein Händedruck oder irgendwo und Niemand. Und zum Vergleich:
A house of paper
among high mountains
using natural light
inhabited by fishermen and families
A house of leaves
by a river
using candles
inhabited by people speaking many languages wearing little or no clothes
A house of wood
by an abandoned lake
using candles
inhabited by people from many walks of life
[...]
A house of dust
in a place with both heavy rain and bright sun
using all available lighting
inhabited by friends
Keiner, der die beiden Texte nicht kennt, kann mit Sicherheit vermuten, geschweige denn entscheiden, daß es sich bei Textbeispiel 1 um einen Autortext, einen durch Würfeln aus einer Tageszeitung und dem Roman Franz Kafkas zufällig bestimmten "Dünnschliff" (1961) Max Benses [vgl. auch meine Interpretation], und bei Textbeispiel 2 um ein hier nur auszugsweise zitiertes Computergedicht der Happening-Künstlerin Allison Knowles handelt. Alison Knowles "A House of Dust" von 1968 war eine der letzten Publikationen von Computertexten, die wir damals diskutierten. Ich darf diese Jahre deshalb noch einmal mit Ergänzungen rekapitulieren: Das Laub ist aufgeflimmert
die tote Seele wimmert
zum Greise nah und gar
der Schein perlt frei und stecket
und an den Blüten recket
die weite Woge unsichtbar

Wir lieben Schwanenlieder
sind linde grüne Flieder
und sind so mild und klar
wir lichten Donnerklänge
und schenken süße Sänge
und liegen oben in dem Haar
 

Das war keine Unsinnspoesie, die bewußt den Sinn verstellt, aber auch keine Parodie des Claudiusschen "Der Mond ist aufgegangen" oder des Gerhardtschen "Nun ruhen alle Wälder", sondern das Gedicht einer der Programmiersprache ALGOL [Kunstwort aus algorithmic language] hörigen Rechenmaschine ZUSE Z 23, Nachfolgerin der ZUSE Z 22, die wir in Stuttgart zum Dichten angestiftet hatten.
Wir haben diese Ansätze außer in Vorträgen und Diskussionen damals nicht weiter verfolgt, sondern unser Interesse an künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen in andere Richtungen ausgedehnt.

Netzdichtung ist kein Synonym für Computerdichtung

Wichtig scheint mir dabei der Hinweis, daß diese Experimente mit stochastischen Texten bzw. Autopoemen, mit computergenerierter Grafik, konkreter Musik und der Verbindung von Sprache und Elektronik parallel zu verstehen sind mit dem in Stuttgart damals virulenten Interesse an einer konkreten bzw. visuellen Poesie, an Permutationen, Würfeltexten oder dem Cut-up-Verfahren, so daß das einzige, von Bense und mir geschriebene Manifest der Stuttgarter Gruppe/Schule, "Zur Lage" in Bündelung einer Vielzahl experimentell erprobter Textsorten folgende Tendenzen unterschied:

1. Buchstaben = Typenarrangements = Buchstaben-Bilder
2. Zeichen = grafisches Arrangement = Schrift-Bilder
3. serielle und permutationelle Realisation = metrische und akustische Poesie
4. Klang = klangliches Arrangement = phonetische Poesie
5. stochastische und topologische Poesie
6. kybernetische und materiale Poesie;
dann aber hinzufügte, daß in den meisten Fällen [...] diese Möglichkeiten nicht in reiner Form verwirklicht und vorgeführt würden. Wir ziehen die Poesie der Mischformen vor. Solche Mischformen wurden 1972 auch Thema einer Wanderaustellung der Staatsgalerie Stuttgart ("Grenzgebiete der bildenden Kunst"), an deren Aufbau wir mitgearbeitet hatten. Sie umfaßte die Teile "Konkrete Poesie / Bild Text Textbilder", "Computerkunst" und "Musikalische Graphik".

Es scheint notwendig, daran zu erinnern, daß es neben dem Interesse an den Wechselbeziehungen zwischen Kunsthervorbringung und neuen Aufschreibsystemen in Seminaren, vor allem in Veranstaltungen des Studium Generale und in Publikationen selbstverständlich ein ebenso großes Interesse an internationaler experimenteller Literatur, Kunst und ihren Traditionen gab, das historisch eine Auseinandersetzung mit dem Werk Gertrude Steins, dessen Rezeption bis heute wesentlich in Stuttgart stattfindet, James Joyces, dem Kubismus, Dadaismus und anderen Ismen einschloß. Aktuell diskutierten und veröffentlichten wir über Werke des Nouveau Roman, Raymond Queneaus, Georges Perecs, Marc Saportas, der Beat Generation u.a.

Wenn Haroldo de Campos 1970 schrieb:

now i'm cummings!
pound attention!
finneganswait for me!
joyce a moment!
mallarmé!
and arno holzwege!
deutet er über das Wortspiel hinaus ein Feld damaliger und anhaltender Interessen an.

Der Name Campos, der hier auch für die Brasilianische Noigandres-Gruppe steht, verweist zugleich auf ein weiteres Wasserzeichen der Stuttgarter Gruppe/Schule, ihre internationale Verflechtung vor allem mit Brasilien, Japan, Frankreich, der damals noch Tschechoslowakischen Republik und den Vereinigen Staaten, ein Netzwerk, das sich in internationalen Gemeinschaftsarbeiten und Korrespondenzen u.a. in der Tradition des japanischen Renga/Renku/Renshi oder der mail art über die Jahre fortknüpfte und durch Publikationen und Ausstellungen in den 90er Jahren ausreichend dokumentiert ist.

Meine Aufzählung, die inhaltlich im einzelnen aufzufüllen hier die Zeit fehlt, möchte belegen, daß sich bereits vor und auch unabhängig vom Internet Netzwerke aufbauen (und wie ich noch zeigen werde) fürs Internet nutzen lassen: Netzdichtung ist kein Synonym für Computerdichtung.

Ein Symposium mit Folgen

Als sich 1994 auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense" Wissenschaftler und Künstler trafen, ging es retrospektiv erklärlicherweise auch um die internationalen Wechselbeziehungen der Stuttgarter Gruppe/Schule. Aber wir begannen infolge dieses Symposiums auch, in der Tradition unserer frühen Experimente die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, wobei es nahe lag, den Gedanken der poetischen Korrespondenz für das Internet, das Internet für ihm gemäße und mögliche poetische Vernetzungen zu nutzen, und dies in mehrfacher Hinsicht.

"H.H.H. Eine Fastschrift" entstand anläßlich des 75sten Geburtstags Helmut Heißenbüttels und wurde, bedingt durch seinen plötzlichen Tod, mit einem wiederum weltweit geknüpften "Epilog" abgeschlossen.

Am 50. Todestag Gertrude Steins errichteten wir ihr zu Ehren ein virtuelles internationales "Epitaph", das wir mit einer Ausstellung, dem "Memorial Gertrude Stein" vernetzten dergestalt, daß das "Epitaph" auch Teil der "Memorials" war, das seinerseits den Schlußstein des "Epitaphs" setzte.

Auch die Max Bense gewidmete Ausstellung "Kunstraum-Sprachraum" 1999 in Uelzen konfrontierte das Buch mit der Kalligraphie, auf verschiedene Art Geschriebenes mit auf verschiedene Weise Gedrucktem, um sich schließlich im Rathaus off line, im Medien-Café on line in einen virtuellen Ausstellungsraum zu öffnen, der einem Stuttgarter Server  von Johannes Auer für diese Uelzener Ausstellung mit virtuellen Exponaten bestückt wurde.

Literatur im Internet

Der Frage nach nach einer Literatur im Internet möchte ich auf zweifache Weise nachgehen:

Ich beginne mit der Erinnerung an einen Prospekt Guilleaume Apollinaires, der in seinen "Poésies" erklärt hatte:

Die Zeiten der persönlichen Dichtkunst mit ihren relativen Taschenspielereien und zufälligen Verdrehungen sind vorüber. Nehmen wir den unzerstörbaren Faden der unpersönlichen Dichtkunst wieder auf,

und in "L'Esprit nouveau et les Poètes" aus dem Jahre 1918 die Prognose wagte:

Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufrieden geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten versuchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Wörter und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusche und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.

Diesen Prospekt Guilleaume ergänze ich mit einem Zitat aus der "Topographie der Typographie", einem Manifest El Lissitzkys aus dem Jahre 1923, dem Jahr, in dem in Berlin auch die Geschichte des Rundfunks beginnt:

7. Das neue Buch fordert den neuen Schrift-Steller. Tintenfaß und Gänsekiel sind tot.
8. Das gedruckte Buch überwindet Raum und Zeit. Der gedruckte Bogen, die Unendlichkeit der Bücher, muß überwunden werden. DIE ELEKTRO-BIBLIOTHEK.
Apollinaires Forderung einer unpersönlichen Poesie, sein Prospekt eines infolge der neuen Medien cinéma und phonographe zu schaffenden sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft , El Lissitzkys "Elektrobibliothek" formulieren zentrale ästhetische Vorgaben für die Künste des 20. Jahrhunderts, die sich durch eine Tendenz zum Dialog der Künstler und Künste untereinander, zu einer dialogischen Kunst auch mit dem Leser auszeichnen.

Innerhalb dieser Künste gehören das Internet und seine Schreibmaschine, der Computer zu den elektronischen Medien, also zu Film, Funk und Fernsehen, die sie, der Hypothese nach, eines Tages synthetisieren werden. Wobei das Internet das einzige elektronische Medium ist, das ausschließlich auf Schrift basiert. Seiner Medienvielfalt (Bild, Text, Ton) liegen stets alphanumerische Codes und schriftliche Programme zugrunde. Auch Bild oder Ton werden also und sind im Computer als Textcode gespeichert, werden im Netz als Textcode verschickt. Das wäre also bei der Frage nach einer Netzliteratur mitzubedenken

Alle vier Medien - Film, Funk, Fernsehen und Computer/Internet - zeichnen sich dadurch aus,

Wenn ich als Autor, referierte zum Beispiel Paul Pörtner 1968, von der Literatur herkommend, mich dem Hörspiel zuwende, habe ich es nicht nur mit einem Medium zu tun, das Literatur vermitteln kann, sondern mit einer Produktionsmöglichkeit von akustisch-poetischen Spielen. Ich vertausche den Schreibtisch des Autors mit dem Sitz am Mischpult des Toningenieurs, meine neue Syntax ist der Schnitt, meine Aufzeichnung wird über Mikrophone, Aufnahmegeräte, Steuerungen, Filter auf Band vorgenommen, die Montage macht aus vielen hundert Partikeln das Spielwerk.

Meine These lautet nun: Auch der Netzautor holt sich Kompetenzen zurück, bündelt sie als Programmierer, Operateur, Dirigent, der seinen Text verwaltet, und unterscheidet sich schon dadurch vom traditionellen Printautor, der lediglich ein abgeschlossenes Manuskript, vom Film- oder Hörspielautor, der - wenn er nicht nur die Vorlage lieferte - ein Drehbuch abzuliefern hatte.

Und noch einmal anders und zugleich als These für die Ausstellung "Computer / Literatur / Internet" und ihr begleitendes Vortragsprogramm zugespitzt: die technische Apparatur, die Rechenmaschine ist das Medium, an dem sich der Netzautor und der Internetnutzer treffen und deren Bedingungen sie zu berücksichtigen haben.

Damit komme ich auf der Basis von Experimenten, die Johannes Auer und ich gemacht haben, zur Frage einer "Literatur im Internet" und unterscheide zunächst zwischen Netztexten, für das Netz geeigneten Texten und Texten im Netz.

Texte im Netz

Natürlich kann ich heute Texte typographisch mehr oder weniger geglückt über den PC  ins Netz stellen. Dann verwende ich, wie viele Internetnutzer, PC und Netz reproduktiv als Vervielfältigungsmöglichkeit und bilde mir möglicherweise sogar noch ein, nun weltweit wahrgenommen zu werden.

Bei diesen Texten trennt - negativ - der direkte Zugang des Autors zum Netz nicht mehr die Spreu vom Weizen , läßt aber andererseits - positiv und unambitioniert - auch Texte zu, die dem Sachunverstand der Lektorate zum Opfer fallen könnten. Ich möchte diese Texte als Texte im Netz bezeichnen und sie den traditionellen Privatdrucken vergleichen. Daß es für diese Art elektronischer Veröffentlichung ein Bedürfnis gibt, wäre vielleicht daran abzulesen, daß auf Gedichte im Netz inzwischen häufiger zugegriffen wird als Gedichtbände gekauft oder ausgeliehen werden.

Für das Netz geeignete Texte

Von diesen im Netz lediglich veröffentlichten Texten möchte ich Texte unterscheiden, die nicht für das Netz geschrieben aber für eine Realisierung im Netz geeignet sind, z.B. die visuellen und akustischen Textexperimente nicht nur der konkreten Poesie, wie wir sie insbesondere in den 50er und 60er Jahren praktisch und theoretisch auch in Stuttgart erprobt haben. Sie lassen sich nach Johannes Auers und meinen Verständnis nicht nur im neuen Medium fortführen, sondern scheinen sogar - als Beispiel nenne ich die Permutation wie jede Art von Textaleatorik - für diese Realisierungsmöglichkeit geradezu prädestiniert, ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes GIF, als Java-Applet oder Skript, die Möglichkeiten sind hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft, neue (technische) Möglichkeiten werden hinzukommen. [Auer].

Inzwischen haben wir, um unsere These zu überprüfen, daß diese früheren Experimente, Strukturen und Traditionen die ästhetischen Spielmöglichkeiten des Internets - Hypertext, animierter Bild- und Hypertext, programmierter Text - bereits antizipieren, einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingegeben: als permutationellen Text den "Tod eines Fauns" (1991 / 1997), als konkrete Texte Teile aus "Das Buch Gertrud" (1965/66 / 1996), als visuelle Texte im Rahmen des "Tango"-Projekts von Martina Kieninger den "Pietistentango" und "Kill the Poem" (1998) und als aleatorischen Text "makkaronisch für niedlich" (1997).

Nicht in der Stuttgarter Tradition steht "Günters genialer Gedicht-Generator" "Poetron", der aus Vorgaben Gedichte erzeugt und sogar die Qualität der Vorgaben kommentiert. Als Vorgaben verlangt "Poetron" Substantive, Verben und Adjektive. Ich habe eingegeben die Substantive Gipfeln Ruh Gipfeln Hauch Vöglein Walde und die Verben ist spürest schweigen warte ruhest, jeweils in ihrer flektierten Form. Adjektive enthält "Wanderers Nachtlied" nicht. Diese Eingabe kommentierte bzw. verdichtete "Poetron" wie folgt:

Ich habe dieses Experiment gemacht, weil mich die Leistung des Gedicht-Generators im Vergleich interessierte, im Vergleich nämlich zu jenem nun wirklich genialen Neuen Hörspiel George Perecs, das der computererprobte Dokumentarist am Institut für Neurophysiologie in Paris und Mitglied jener als Oulipo vielzitierten (aber wohl weniger bekannten) "Ouvroir de littérature potentielle" als Auftragsarbeit für den Saarländischen Rundfunk schrieb.

"La machine" simuliert die Arbeitsweise eines Computers, der die Aufgabe hat, "Wanderers Nachtlied" systematisch zu analysieren und aufzugliedern. Was hier im Spiel funktioniert bis hin zum Versagen des Computers, als er aufgefordert wird, den Goethetext zu verbessern, kann "Günters genialer Gedicht-Generator" nicht leisten, ja er bleibt mit seinen Hervorbringungen auch zurück hinter Autortexten in der Tradition des Wörterzuwurfs, für die ich - ebenfalls aus der Hörspielgeschichte - ein praktisch unbekanntes Experiment nenne, mit dem Walter Benjamin am 3. Januar 1932 im Frankfurter Sender versuchte, den Hörer ins Rundfunkprogramm, den Kommunikationsprozeß einzubinden.

Wie schon im Kinderhörspiel "Radau um Kasperl", in dem Benjamin mit den Echospielen an das barocke Echogedicht anschloß, griff er für die "Funkspiele" auf Harsdörfferer "Wörterzuwurf" zurück. Leider hat sich von diesen mit Hörern für Hörer improvisierten "Funkspielen" kein Tondokument erhalten, doch läßt sich durch Vorankündigung und Kritik ein ungefähres Bild machen. Angekündigt wurde dies "Funkspiele" in der Südwestdeutschen Rundfunk-Zeitung:

Eine Art von literarischem Gesellschaftsspiel vergangener und musischerer Zeiten und gleichzeitig, fein verborgen, ein nicht unnützes psychologisches und pädagogisches Experiment bringt am Sonntagabend eine Veranstaltung, die unter dem Titel 'Funkspiele' von Dr. Walter Benjamin geleitet wird.
Einem Kind, einer Frau, einem Dichter, einem Journalisten, einem Kaufmann als Menschentypen, die beliebig erweitert und ersetzt werden könnten, werden eine Reihe von unzusammenhängenden Stichworten vor dem Mikrophon vorgetragen. Sie haben zugleich mit dem Veranstalter die Aufgabe zu lösen, diese Wörter in eine kurze, zusammenhängend geformte Geschichte zu übersetzen.

Die Hörer der Sendung waren aufgefordert, die Leistungen der Mitspieler nach Punkten zu bewerten, aber auch, sich selbst vom Spiel zum Spiel anregen zu lassen. Wissen wir auch über die konkreten Ergebnisse der "Funkspiele" selbst nichts Genaues, die Hörerzuschriften lassen indirekt durchaus Schlüsse zu. So lauteten zum Beispiel zwei Resultate des Wörterzuwurfs Kiefer, Ball, Strauß, Kamm, Bauer, Atlas:

Unter der Kiefer
Mit zitterndem Kiefer,
In rosa Atlas
Blättert Gretchen im Atlas,
Eilt dann zum Ball,
Da kommt von Schnee ein Ball:
'Oh weh, mein Strauß,
Das gibt 'nen Strauß!'
Sie droht mit dem Kamm,
Hoch schwillt ihr der Kamm:
'Wärst du in 'nem Bauer,
Du nichtsnutziger Bauer!'
Unter der Kiefer lag ein aufgeschlagener Atlas, daneben ein Ball und ein Blumenstrauß, noch nicht zusammengebunden. Ein Beweis, daß Vater, Mutter und Kind aufgestört worden waren, als vom Kamm des Gebirges der Bauer um Hilfe rief.
Ich erspare Ihnen, Walter Benjamin und mir, was "Günters genialer Gedicht-Generator" aus dem "Wörterzuwurf" Benjamins gemacht hat. Walter Benjamin hat jedenfalls sein Experiment  nicht mehr wiederholen können. So blieb es bei einem Ansatz, aus dem sich in der Praxis sicher manches hätte entwickeln lassen. Beim

Netztext

tut sich das Internet heute leichter, erstens weil es zweikanalig ist, zweitens, weil seine Bedingungen, als deren wichtigste ich den Link nenne,  jeden Text contextuieren, also von einem Text zu einem anderen Text Verbindungen herstellen können. Und hier beginnen auch die Möglichkeiten des Internets und seiner Schreibmachine produktiv zu werden, entsteht eine noch einfache Form eines Netztextes, die in dem Maße komplexer wird, in dem für den freilich gesteuerten Leser die Auswahl möglicher Verbindungen zunimmt oder ihm - durch Zufallsgeneratoren - eine ständig sich neu generierende, instabile Welt aus Texten zur Verfügung gestellt wird.

Solche Hypertexte ohne Bild, Ton, Animationen etc. im Sinne der von Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction zeichnen sich durch eine häufig recht komplexe, in der Regel nicht-lineare Struktur aus und stellen inzwischen eine etablierte Kunstform des Internets dar, zu der allerdings zweierlei anzumerken wäre.

Multimediale skriptgesteuerte Netzwerke mit gleichen oder aussagebestimmt wechselnden Anteilen an Text, Bild, Ton, Animation - also ein multimediales Gesamtkunstwerk ist bei den noch bestehenden technischen Beschränktheiten des Netzes und seiner Schreibmaschine Utopie, allenfalls in Ansätzen vorhanden, für die Zukunft allerdings vorstellbar in Richtung einer Medienkunst, auf die ich am Schluß noch einmal zu sprechen kommen werde.

Interaktivität

Es liegt im Willen des im Internet veröffentlichenden Autors, wie weit er dem Leser bei der Lektüre freie Hand geben will, was für mich die Frage nach der vielbeschworenen Interaktivität, die ich lieber Dialog nennen würde, einschließt. Ich gebe vier Stuttgarter Beispiele:

Das "Poet's corner'le" als eine offene und variable Anthologie,

Frieder Rusmanns "Fabrikverkauf [art-wear] [walking exhibition]" Die "Kettenmailsausderbadewanne" als ein Textunternehmen zu e-mail-Bedingungen: Ich muß einschieben, daß mich bei vielen Hervorbringungen im Internet ein Mißverhältnis von Text und Präsentation irritiert, worin ich eine Neuauflage der sattsam bekannten FormInhaltDiskrepanz sehe. Links etwa bei Hypertexten haben auf der Bedeutungsebene oft nichts mit dem Text, von dem sie ausgehen, und dem Text, den sie aufrufen, zu tun, sondern scheinen nach der Regel link dich, oder ich freß dich gesetzt. Bei den auf Autordialog abgestellten "KettenmailsausderBadewanne" ist diese Gefahr durch die schlichte und ehrliche e-mail-Struktur, die fast ohne Links auskommt, vermieden worden.

Desgleichen bei unserem die Tradition des japanischen Kettengedichts, des Renga / Renku / Renshi aufgreifenden "Poemchess" durch ein den Autoren vorgegebenes thematisches Raster.

- einen ersten Autordialog, der das Grundtextgerüst des Schachspiels erst hergestellt hat und der sich aus 8 Kettengedichten zusammensetzt,
- und einen zweiten zwischen diesem Grundtext und dem Leser, der variabel nach den Regeln des Spiels sich seine Texte herausliest.
Wichtig für diese Stuttgarter Projekte ist dabei der bewußte Verzicht auf technischen Overkill zu Gunsten, um dies noch einmal zu betonen, einer präzisen Reflexion auf die grundlegenden Möglichkeiten von Computer und Netz. Auch sind das "Poet's corner'le", die "KettenmailsausderBadewanne" und das "Poemchess" überwiegend nicht von Programmierern gemacht, sondern von (Print)Autoren ins Netz geschrieben. Keiner von ihnen, obwohl einige von ihnen der Programmiersprache ALGOL ansatzweise mächtig sind, würde sich für einen Algorithmus, einen nach einem bestimmten Schema ablaufenden Rechenvorgang halten. Ich polemisiere hier ein wenig gegen die ernsthaft vorgetragene Annahme des Autors als Algorithmus. Wieweit diese Autoren des "Poemchess" und anderer hier nicht genannter Stuttgarter Internetprojekte über ein Fasziniertsein von Verflechtung und Netzwerk hinaus in letzter Konsequenz verstanden haben, wie man das Spiel spielt und rezipiert, wäre natürlich zu fragen.

Da geht die gebürtige Stuttgarterin Susanne Berkenheger nicht erst bei ihrem Experiment "Hilfe" einen Schritt weiter und davon aus, dass im internet jeder lesevorgang seine spuren hinterlaesst. im gegensatz zu fernsehen, print, radio etc., fliessen die informationen im internet *immer* in zwei richtungen. dadurch hat fiction im internet auch eine naehe zu direkten darstellungsarten wie theater. zumindest koennte sie das haben, wenn die spuren denn gelesen werden, vom programm. das heisst, der internetautor muss das natuerlich vorsehen.
jedenfalls mit dieser leserspur (rezeptionsspur), die das - wie gesagt meiner meinung nach das alles entscheidende novum des im internet moeglichen ausmacht - sollte internetliteratur arbeiten, auf sie reagieren, beziehungsweise eine art maschine sein, die darauf reagiert.

Die(se) Idee, einen Dialog zu inszenieren, spukte nun freilich schon in den Köpfen von Hörspieltheoretikern herum. Und die in der Regel kommerziell reproduktive, künstlerisch aber auch produktive Nutzungsmöglichkeit der neuen Medien ist ein altes Problem, für dessen Skizze ich noch einmal in die 20er Jahre zurückblicken muß.

Die ersten Programme des Radios hatte Bertolt Brecht in einer undatierten Notiz - "Radio - eine vorsintflutliche Erfindung?" - als kolossalen Triumph der Technik ironisiert, der es ermögliche, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können. Solle die Erfindung wirklich Sinn haben, müsse das Radio produktiv gemacht werden.

Dieser erste Schritt eines solchen Produktivmachens ist, wie die Geschichte des Hörspiels nachdrücklich belegt, durchaus geglückt, wenn auch offensichtlich das Hörspiel nicht ganz bei der Stange bleiben will, wie erst im letzten Jahr wieder die Woche des Hörspiels in Berlin bewies. Dieser zweite Schritt wollte allerdings, trotz immer wieder ansetzender Versuche der Höreraktivierung - wobei für die 20er Jahre neben Brecht vor allem Walter Benjamin, für die 60er/70er Jahren unter anderem die Experimente mit "Hörerspielen" zu nennen wären -

Dieser zweite Schritt des Produktivmachens wollte dagegen nicht recht gelingen. Hier blieben der Rundfunk [wie später das Fernsehen in immer niveauloserer Form], ist heute auch das Internet der von der Werbung gerne genutzte Distributionsapparat.

Die Lösung kam von einer anderen Seite und markiert zugleich die Anfänge des Internets (noch ohne Computer und Netz). Kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs stellte [nämlich] der Ingenieur Vannevar Bush, zu jener Zeit wissenschaftlicher Berater des US-amerikanischen Präsidenten Roosevelt, den Entwurf für eine Maschine vor. Diese Maschine, MEMEX (MEM[ory]-EX[tender]) genannt, von der Größe eines Schreibtisches, sollte alle Schriftdokumente auf der Basis eines Microfiche-Systems der Menschheit griffbereit halten. Und jeder Lesende sollte die Dokumente miteinander verknüpfen und weitere Informationen hinzufügen können. Der so gemeinsam gewobene "Welt-Text" sollte alles Wissen verfüg- und handhabbar machen.

Was Vannevar Bush und Bertolt Brecht nach dem jeweiligen state of the art fordern, ist letztlich der Übergang von der passiven Mediennutzung zur interaktiven Autorschaft. Und genau diese Möglichkeit bietet zum ersten Mal in der Mediengeschichte das Internet. In cyberspace, zitiere ich das geflügelte Wort Benjamin Whooley's, In cyberspace everyone is an author, which means no one is an author: the distinction from the reader disappears. Exit author...

Womit auch ich mich von Ihnen verabschiedet haben möchte.

[Museum für Literatur am Oberrhein, Karsruhe, 16.4.2000]