Reinhard Döhl | Der 29. Januar

Geht man von der Wirkung aus, ablesbar an der Zahl der Hörerzuschriften, an Wiederholungen und Übernahmen, sind nach dem Kriege fünf Hörspiele besonders erfolgreich gewesen: Borcherts "Draußen vor der Tür", Eichs "Träume", von Hoerschelmanns "Das Schiff Esperanza", sowie zwei "Collagen" Ernst Schnabels, "Der 29. Januar"(1947; auch u.d.T. "Nachkriegswinter") und der "1. Februar 1950" (1950; auch u.d.T. "Ein Tag wie morgen").

Letztere sind zugleich Beispiele für eine Sendeform, die unter der Bezeichnung "Feature" den Hörspielverantwortllichen und -theoretikern der Nachkriegszeit eigentlich bis heute typologisches Kopfzerbrechen bereitet hat. So liegt bisher weder eine befriedigende Definition des Feature vor, noch hat man sich einigen können, ob das Feature eine spezifische Hörspielform ist, oder lediglich eine "temperamentvolle und lebenstüchtige, mehr journalistische Schwesterform", ein "Zweig am großen Stamm des Hörspiels" (Heinz Schwitzke). Dabei ist es historisch nur korrekt, wenn Schwitzke in seiner "Dramaturgie und Geschichte" des Hörspiels festhält:

"So ist die Hörspielentwicklung seit dem Kriege, vor allem im ersten Jahrzehnt, ohne wenigstens eine Andeutung der Geschichte des Features nicht erschöpfend darzustellen."
Allerdings nützen historische Skizze und Feststellungen dieser Art wenig, wenn sie nicht gleichzeitig die Frage beantworten, warum das Feature nach dem Kriege im Rundfunkprogramm eine zeitweilig dominierende Rolle gespielt hat. Und warum es, nachdem in den ersten Nachkriegsjahren Feature und Hörspiel eine friedliche Koexistenz führten, nach 1950 beim NWDR zur redaktionellen Trennung kam. Hinweise auf eine zunehmende Programmorganisation, auf die Proporz-Schaukel seit 1949 bieten nur dann den Ansatz einer Erklärung, wenn man sie in Zusammenhang mit der politischen Nachkriegsentwicklung, der zunehmenden Restauration bringt, wie es Dierk L Schaafs in seinem Aufsatz "Der Nordwestdeutsche Rundfunk. Ein Rundfunkmodell scheitert" vorgeführt hat.

Für die Hörspielgeschichte bemerkenswert ist, daß Schnabels später von ihm als "Collagen" ausgewiesenen Hörspiele in den zwei Jahren enstanden und gesendet wurden, die man als ausgesprochene Feature-Jahre bezeichnet hat, in den Jahren 1947 und 1950, und damit vor bzw.. kurz nach dem für die Entwicklung des Nordwestdeutschen Rundfunks so entscheidenden Jahr 1949.

Um zunächst im Jahre 1947 zu bleiben, so ist sein Hörspielprogramm neben den bereits genannten Hörspielen von Max Frisch, Marie Luise Kaschnitz, Wolfgang Borchert und Wolfgang Weyrauch wesentlich durch Featureproduktionen geprägt, werden neben dem "Der 29. Januar" gesendet und z.T. mehrfach wiederholt von Axel Eggebrecht "Was wäre wenn...", "Wenn wir wollen...", "Die Ameisen", ferner im Nachtprogramm von Peter von Zahn "London, Anatomie einer Weltstadt". Geht man von inhaltlichen Kriterien aus, repräsentieren diese Produktionen zugleich drei Feature-Typen, die auch in der Folgezeit wiederholt im Programm begegnen:

Kann man für das Jahr 1947 noch von einem Neben-, ja sogar Miteinander von Hörspiel und Feature sprechen, in dem das Feature leistet, was das Hörspiel (noch) nicht leisten kann -
"Was Borchert bewußt individualisiert hatte, wollte Schnabel in der Technik des Feature bewußt als Dokumentation kollektiven Schicksals darstellen," -
muß man für 1950 bereits festhalten, daß jetzt das Feature noch zu leisten versucht, was das Hörspiel, zumindest in dieser Form, nicht mehr leisten will: politische Zeitanalyse. Wobei sich in den Titeln der mehrteiligen Feature-Produktionen Eggebrechts ("Der halbe Weg") und von Zahns ("Wohin treiben wir") neben der Absicht der Bestandsaufnahme aber bereits auch schon politische Resignation andeutet. Gleichzeitig lassen andere Feature wie Schnabels "1. Februar 1950" im Ansatz eine Entwicklung erkennen, die - mit Ausnahme der Arbeiten Andersch' - zu den populären Features Peter Leonhard Brauns ("Urlaub in Cornwell" (1961), "Hühner" (1967), "Catch as catch can" (1969), "Hüftplastik" (1970)) führen wird.

Von einer gegenläufigen Bemühung, im Südwestfunk Ende der 60er Jahre das Feature wieder an das Hörspiel heranzuführen, wird an anderer Stelle noch die Rede sein. Hier möchte ich zunächst nur festhalten, daß schon bald nach der Trennung von Hörspiel und Feature im NWDR, zunächst im Ausland, dann in den 60er Jahren auch in den deutschsprachigen Hörspielprogrammen Produktionen auftauchen, die sich den inhaltlich unterschiedenen drei Featuretypen mehr oder weniger vergleichen lassen. So ließen sich Vasco Pratolinis/Gian Domenico Giagnis "Der Sonntag der braven Leute" (1952/1957) oder Christian Derschaus/Ulrich Lauterbachs "Zum Beispiel 26. August 1972" z.B. den "Collagen" Schnabels an die Seite stellen, wobei man auch an die Experimente Luciano Berios ("Ritratto di Città", (1954) oder Jyrki Mäntyläs ("Erwachen einer Stadt") denken könnte, Hörspiele, die eine eigene Tradition bis zu der "Metropolis"-Folge des Hörspielstudios  / Studios für akustische Kunst des WDR ausbilden. Auf der anderen Seite ließen sich die Features von Eggebrecht und Andersch Produktionen des Neuen Hörspiels vergleichen, Ludwig Harigs "Staatsbegräbnis" z.B. oder Peter O. Chotjewitz' "Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem schuld", von einer Vielzahl neuerer Hörspiele, in denen partiell Elemente des Feature begegnen, ganz zu schweigen.

Damit ist zugleich ein Rahmen angedeutet, innerhalb dessen eine sinnvolle Diskussion über das Verhältnis Feature/Hörspiel, über eine Typologie des Features zu führen wäre. Und Schnabels "Collagen" sind dabei fast idealer Ausgangspunkt erstens, weil sie formal etwa die Mitte halten zwischen dem, was ein verengtes Hörspielverständnis in den 50er Jahren unter "literarischem Hörspiel" als der "eigentlichen Kunstform des Rundfunks" verstand und einem Feature-Typ, der

"unter möglichst geschickter Verwendung radiogener Ausdrucksmittel ein Ereignis, einen Sachverhalt oder eine Meinung publikumswirksam darstellt, wobei der Schwerpunkt der Bedeutung auf der informatorischen oder didaktischen Absicht liegt." (A.P.Frank)
Zweitens sind sie auch deshalb idealer Ausgangspunkt, weil sie sowohl von der Geschichte des Nachkriegshörspiels als auch von einer sich trennenden Geschichte des Features und/oder Hörspiels in Anspruch genommen werden können, zwischen beidem aber wegen ihrer gleichen Struktur und Intention zugleich eine Klammer bilden.

Dieses 'Janusköpfige' der beiden "Collagen" ist durchaus gesehen worden. Entsprechend hält der "Hörspielführer", der
bezeichnenderweise von allen genannten Features als einzige Ausnahme Schnabels "Der 29. Januar" (sic, R.D.) mit einer Inhaltsangabe aufgenommen hat, offen:

"Ob das Stück als Hörspiel oder als Feature angesehen wird, hängt weniger von seiner Form ab, die durchaus hörspielartig genannt werden kann, als vielmehr von seiner Entstehung und seiner Absicht, Wirklichkeit zu dokumentieren. Entscheidend für die Beantwortung der Frage ist, ob man den Akzent darauf legt, daß in dem Text nur berichtet - oder daß in ihm auch dichterisch gestaltet wird."
Da der "Hörspielführer" die Frage nicht beantwortet, sich vielmehr mit einer Einstufung des" 29. Januar" als "Hörspiel-Feature" aus der Affäre zieht, sei zunächst eine Beantwortung der Frage versucht.

"Entstehung", "Absicht", "Form" sind dabei die Aspekte, denen die Aufmerksamkeit gelten muß.

"Entstanden" sind die "Collagen" Schnabels in der Tat zunächst auf eine recht undichterische Weise, mit Schnabels eigenen Worten:

"Am 29. Januar 1947 und am 1. Februar 1950 bat der Nordwestdeutsche Rundfunk in Hamburg in wiederholten Aufforderungen seine Hörer, ihm zu berichten, wie sie den Tag verbracht hätten, und setzte für die aufschlußreichsten Mitteilungen jeweils drei kleine Preise aus. Um spontan hingeschriebene und nicht durch Reflexion besänftigte oder ausgesiebte Notizen in die Hand zu bekommen, stellte die Redaktion die Bedingung, daß die Zuschriften den Poststempel spätestens des folgenden Tages tragen müßten. Darüber hinaus sicherte sie vertrauliche Behandlung aller Aufzeichnungen und Honorierung zu, falls diese Zuschriften ganz oder auszugsweise in einer geplanten Rundfunksendung verwendet würden. Der Erfolg der beiden Aufrufe war erstaunlich: nach dem 29. Januar 1947 gingen dem NWDR Tagebuchblätter von dreißigtausend, drei Jahre später von achtzigtausend Hörern zu."
Wie sich bei Durchsicht des eingegangenen Materials alsbald herausstellte, war die ursprüngliche "Absicht" des Autors, "das deutsche Publikum mit einer Synopsis seiner eigenen Nachkriegssituation und einer faktischen Bilanz zu konfrontieren", nicht einzulösen. Man hatte zwar eingerechnet, "daß sich gewisse Randpositionen des sozialen Feldes auf die Anrufe hin kaum zu Wort melden würden", und hatte deshalb Reporter ausgeschickt, um auch über "die Hebammen etwa oder die Leichenbestatter, [...] die Prostituierten, Schwarzhändler oder Kriminellen [...] Auskunft geben zu können". Dennoch hatten sich "ganze Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen", mit deren Reaktion man "gerechnet" hatte, "nicht gemeldet":
"Kein einziger Kaufmann, Finanzmann oder Unternehmer hatte uns geschrieben, dessen Vermögen oder Produktionsmittel - wie eingeschränkt auch immer - intakt geblieben waren, und deren Zahl war, wie sich 1950 spätestens erkennen ließ, ja wahrlich nicht ganz klein. es fand sich auch keine Zeile von der Hand eines Politikers zwischen den Papieren, weder des Dritten Reichs noch des sich bildenden neuen westdeutschen Staatswesens. Schließlich hatte sich auch kein Arzt zu Wort gemeldet, kein Jurist, merkwürdigerweise nicht einmal ein Theologe [...]. Mit einem Wort, es fehlten uns die Terminkalender der Stehaufmännchen und ewig Unversehrten, aber auch die Diarien der Helfer mit der großen Übersicht blieben uns verschlossen, der Richter und der Seelsorger der Gesellschaft."
Dieses für eine Geschichte der Beziehung Rundfunk und Hörer. für eine Rezeptionsgeschichte einmalige Ergebnis kann, auch wegen des Verlustes hier unersetzlichen Materials, nicht weiter diskutiert werden. Das Ergebnis ist aber noch aus einem zweiten Grunde interessant, weil es die "Absicht" des Hörspielversuchs in eine andere Richtung lenkte, weil diejenigen, die geschrieben hatten, "die Kundschaft der Geschichte, die Klientel der Lage, die Masse derer, die die Rechnung zahlen", weil das, was sie geschrieben hatten, "ein[en] Pitaval der Ausweglosigkeiten und Gemurmel - aber auch das uferlose Selbstgespräch einer Notlage", dem ursprünglich geplanten Hörspiel eine andere Richtung vorschrieben.

Die beiden folgenden Schritte bei "Entstehung" der "Collagen" sind für die Beantwortung der Fragen des "Hörspielführers" noch bedeutender, und zwar die Schritte der Materialsichtung zunächst durch eine Jury, "in der bis zu hundert Studenten und junge Wissenschaftler aus verschiedenen Fakultäten der Hamburger Universität mitarbeiteten", dann der Materialaufbereitung durch den "Autor", dem schließlich "jeweils zweitausend bereits ausgewertete und als besonders triftig erkannte Zuschriften" "ausgehändigt" wurden.

Materialsichtung und -aufbereitung sind aber Vorgänge, die bereits von einer reinen Dokumentation von Wirklichkeit wegführen, sind bereits mehr oder weniger deutliche Interpretationsvorgänge durch Selektion und Stilisierung. Über den Selektionsvorgang kann ohne Kenntnis des damals vorliegenden Materials nur spekuliert werden.

Über den Vorgang der Stilisierung, die "Form"frage jedoch läßt sich anhand der erhaltenen Tondokumente bzw. ihrer Druckfassung einiges sagen.

Da sind zunächst einmal die zusätzliche Aufnahme und Aufbereitung von "Tagesberichten verschiedener Ämter und öffentlicher Dienststellen, der Wetter- und Sternwarten und anderer Observatoren", die, den subjektiven Schicksalen gegenüber, die Funktion der objektivierenden Klammer haben, eine Funktion, die Schnabel in seiner Erzählung "Hundert Stunden vor Bangkok", wenn auch in anderem Zusammenhang, aber aus ihm durchaus übertragbar, angedeutet hat:

"Es war am siebzehnten November um drei Uhr fünfundvierzig auf einhundertvierzehn Grad dreißig Minuten östlicher Länge und sieben Grad zweiundzwanzig Minuten südlicher Breite...

Wer sich anschickt, die Geschichte eines ungewöhnlichen Falles zu erzählen, tut gut daran, sie mit exakten Angaben einzuschränken und auf einen nachprüfbaren Punkt festzulegen, denn es gibt kein besseres Mittel gegen den Verdacht der Übertreibung."

Da ist zum anderen die Komposition der wenigen, als repräsentativ ausgewählten Einzelschicksale, die wesentlich den Text strukturiert, z.B. als Klammer, wie auch die zweimalige Reportage von den Eisenbahnspringern (Anm. u.a. Eich), der zweimalige Beleg für Fraternisieren (Anm.), das zweimalige Auftreten des Pumpenmeisters. Ein weiteres Strukturelement ist das Revue-passieren-lassen zahlreicher Stimmenpartikel am Schluß, die das letzte Drittel des Stücks noch einmal rekapitulieren. Eine derartige Komposition läßt sich natürlich als formale Spiegelung des "uferlosen Selbstgesprächs einer Notlage" verstehen, sie überführt aber zugleich die Dokumente dieser Notlage, die in ihnen dokumentierte Wirklichkeit in eine ästhetische Wirklichkeit des Spiels. Indem aber Selektion und Komposition die ursprünglichen Dokumente interpretatorisch und formal verwandeln, sind Schnabels "Collagen" nicht nur in ihrer "Form [...] hörspielartig", sie sind Hörspiele, sind im Verständnis Karel Kosíks, "Ausdruck von Wirklichkeit, aber [sie bilden] auch die Wirklichkeit, die nicht neben dem Werk und vor dem Werk, sondern gerade nur im Werk existiert".

Eine zunehmende ästhetische Komprimierung der dokumentarischen Vorlagen und Materialien läßt schon ein oberflächlicher Vergleich der beiden nur drei Jahre auseinanderliegenden "Collagen" Schnabels ablesen an der Perfektionierung der Methode. Schnabel hatte diese von ihm sogenannte "Panorama-Technik" in der Kurzgeschichte "Um diese Zeit" bereits erprobt:

"Als aus der Ob-Niederung und vom Samojedenland her das erste Licht gegen die Schneelehnen des Khai-udy-paj wehte, senkt sich die Nacht. Der große, weiche Schatten der Erde zerfiel, spaltete sich auf in die langen grauen Schatten der Grate, Pässe und Felskuppen. In den Eisgründen entstand eine frostige Helligkeit, am Horizont ein grünliches Licht, darüber ein violetter Schein, und von da bis nahe an den Zenit hinan gelbe und rosa Streifen. Sie kamen von der Sonne her, der sich die Erde entgegenwälzte.

Um diese Zeit donnerte der Nachtschnellzug nach Paris über eine Rheinbrücke, und am Campo da Roca war es eine Stunde nach Mitternacht. In den großen Straßen von Lissabon brannten die Bogenlampen, Menschen gingen, Autos surrten, hin und wieder erklang Musik aus den Bars. Die kleinen Straßen aber waren dunkel. In den Häusern standen die Fenster offen. Eine kurze weiße Gardine wehte heraus. Ein Mann sang, ein Kind weinte. Liebesworte wurden gehört. Es war Anfang April, und das alles verstummte nur langsam.

Nach einer Stunde ging über Kasan die Sonne auf. Eine Kolonne von vier Lastwagen hatte über die Wolga gesetzt und fuhr, einer hinter dem anderen, in Abständen von hundert Metern, die Straße durch die weiße Steppe nach Simbirsk hinab. In der Nacht hatte es noch einmal geschneit, aber jetzt war der Himmel klar. Beim elften Kilometer verlor der zweite Wagen der Kolonne eine Schneekette. Sie schlug gegen den Kotflügel und blieb auf der Straße liegen."

Bei solcher Methodengleichheit ist es nur konsequent, wenn Schnabel 1963 in einen Geschichtenband, der auch die Erzählungen "Um diese Zeit" und "Hundert Stunden vor Bangkok" enthält, das formal perfektere zweite Feature "Ein Tag wie morgen" mit der Gattungsbezeichnung "Montage" anfügt.

Als ein letzter Beleg für ästhetische Komprimierung sei noch erwähnt, daß Schnabel den beiden Stimmen, die für die Wetterangaben, die Bestimmung der astronomischen Position der Erde, für die Perspektivenwechsel und die Verbindung der einzelnen "Momentaufnahmen" zuständig sind, als den "neuen Charon" und den "neuen Vergil" benennt und damit seinem Hörspiel auch eine mythologische und weltliterarische Dimension öffnet.

Es ist in der Geschichte des Hörspiels sicherlich kein Zufall, daß Ludwig Kapeller seine massiven Bedenken gegen das Feature anmeldete, als 1951 in Hamburg eine Trennung von Hörspiel- und Featureredaktion längst stattgefunden hatte, die weitere Entwicklung also zweigleisig und fürs erste auseinanderlief. Kapeller sah in der "portionsweise dramatisierten Funkerzählung" einen Vorläufer des Features und zielte damit gleichzeitig auch gegen eine Hörspielform, die sich um 1950 ebenfalls in die Diskussion brachte und für die Otto Heinrich Kühners "Übungspatrone" (1950) stellvertretend genannt sei. Kühner selbst unterschied kurze Zeit später zwischen eigentlichem Hörspiel, Funkerzählung und Feature als den drei grundsätzlich möglichen Hörspielformen.

Für Kapeller aber war das Feature "Hörkolportage", Folge einer Vertrauenskrise, keine ernsthafte Komposition, vielmehr "mixtum compositum", Zweckgebilde und Notbehelf für eine Übergangszeit, bis die Technik des Fernsehens das Ohr entlastete und das Auge am Erlebnis beteiligte.

Wer so argumentiert, argumentiert aus einem bedenklichen Vorverständnis und Mißverständnis heraus und in Unkenntnis der Entwicklungsgeschichte des Features, seiner medialen Eigenheiten und seiner spezifischen Funktionsbreite. Gerade an Schnabels "Collagen", an ihren Elementen läßt sich manches für das Feature Symptomatische ablesen. Da sind einmal die SelbstZitate des Mediums: der Suchdienst, der Wetterbericht, die Reportage, Rundfunksprache und Rundfunkchor. Da wird aus den Medienbereichen Brief, Zeitung, Theater und Film (z.B. Musik aus "Der dritte Mann") zitiert, alles unter dem Gesichtspunkt eines Tagesquerschnitts an- und ineinandergefügt.

Und das ist nicht einmal neu.

In seinen "Erinnerungen an die Masurenallee", "Gesichter des Hörspiels", beschreibt Harald Braun die Berliner Versuche mit dem "Aufriß" um 1932.

"Wir saßen zusammen und grübelten über eine neue Form, die wir "Aufriß" nannten. Es war der Versuch, ein Thema der Geschichte oder des Zeitgeschehens, eine Erscheinung des äußeren oder ein Problem des inneren Lebens in Variationen zu behandeln. Dokumentarische Zeugnisse standen neben Spielszenen, realistische Diskussion neben literarischen Spiegelungen, scheinbar ungeordnet, wie einem Zettelkasten entnommen, und doch innerlich gebunden und die Totalität anstrebend. Vielleicht wird man darin das erste Experimentieren an der Form des Features sehen dürfen."
Diese Versuche mit dem "Aufriß" führten alsbald zu funkhausinternen Diskussionen vor allem zwischen Edlef Koeppen und Harald Braun, mit dem Ergebnis, daß man sich abgrenzte.

Neben dem exemplarischen Hörspiel dichterischer oder literarischer Prägung, das in Koeppens Hand blieb, entwickelten sich in meinem Bereich die "hörspielhaften Zwischenformen" jener Darbietungen, die vom Thema ihren Ausgangspunkt nahmen und das Informatorische, Diskutierbare, Unterhaltende in den Vordergrund stellten.

Als wichtigsten Vertreter, als den Autor, dem die "überzeugende und perfekte Ausbildung dieser Hörspielform gelang", nennt Braun Rolf Reissmann.

"Er war die vollendete Mischung eines Polyhistors und dichterisch befeuerten Journalisten. In einem nahezu improvisierten Anlauf schrieb er seine Manuskripte, in denen sich literarische Form, persönliche Note und exakte Wissensvermittlung die Waage hielten [...]. Als reines Spiel oder "Panoptikum" strebten diese Sendungen immer das gleiche an: das Thema in allen seinen Bezügen (Geschichte, Dichtung, Kommerz, wissenschaftliche Diskussion, menschliche Affinität) anregend 'aufzureißen'. Uns schien es damals (und mir will es heute noch so scheinen), daß damit eine Form der Hörspiel-Darbietung gefunden wurde, die dem Wesen des Funks in einzigartiger Weise nahekam."
Brauns "Erinnerungen [...]" enthalten, wenn auch retrospektiv, im Grunde genommen alle Stichworte, die bei den Bestimmungsversuchen des Features nach 1945, bei der Diskussion um das Feature eine Rolle spielen, ganz abgesehen von der verblüffenden Tatsache, daß die Trennung von Hörspiel- und Featureredaktion in Hamburg lediglich eine alte Trennung wiederherstellt.

Diese Stichworte sind vor allem der Hinweis auf die Vielzahl und Vielfalt benutzbarer Mittel, vom Dokument bis zum literarischen Zitat, die Absicht der Information. die Zwischenlage zwischen Journalismus und medienbestimmter Form (= "hörspielhafte Zwischenform"), vor allem aber der Hinweis darauf, daß diese "hörspielhafte Zwischenform" "dem Wesen des Funks in einzigartiger Weise nahekam."

All diese Stichworte benennen aber zugleich wesentliche Gründe für die Feature-Blüte in den ersten Nachkriegsjahren, wobei es unerheblich ist, ob die beteiligten Redakteure und Autoren die Berliner Versuche mit dem "Aufriß" kannten oder nicht, bot ihnen doch das Feature der Engländer genügend Anstoß. Daß sich dabei journalistisch-dichterische Intention und Informationsbedürfnis der Nachkriegshörer entgegenkamen, trat fördernd hinzu.

Als infolge politischer Entwicklungen, über die an anderer Stelle noch zu sprechen ist, Informationsbedürfnis und journalistisch-dichterische Intention auseinander gingen, mußte das Feature in die Diskussion geraten und schließlich als "Zweckform" gegenüber der "Kunstform" des eigentlichen Hörspiels zeitweilig verlieren.

Eine Erklärung, warum von den zahlreichen Feature-Produktionen der Jahre 1947 und 1950 eigentlich nur die "Collagen" Schnabels überlebt haben, dürfte jedenfalls auch in ihrer Nähe zur "Kunstform" zu suchen sein. Der schon genannte Hörspieltheoretiker Frank sieht entsprechend im Feature auch nicht die "hörspielhafte Zwischenform", sondern eine Möglichkeit des Übergangs von Journalismus zur Kunstform, der Schnabel geglückt sei: "Dieser Übergang von der Zweckform des Features zu einem formal identischen Kunstwerk ist in Deutschland im Werk Ernst Schnabels feststellbar".

So konnten Schnabels "Collagen" ihrer Erinnerung noch sicher sein, als Hörspiel und Feature längst geschieden waren und in den Hörspielabteilungen das Hörspiel als eigentliche "Kunstform des Rundfunks" dogmatisiert wurde, bis HörspielAutoren Ende der 60er Jahre im Zusammenhang der Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der Dokumentarliteratur, der Technik der Collage, auf der Suche nach medienspezifischen Möglichkeiten des Hörspiels gelegentlich wieder an die Feature-Tradition anknüpften, wenn auch in einer die Elemente oft neu verwendenden Art und Weise. Bis Heißenbüttel in seinem Aufsatz "Hörspielpraxis und Hörspielhypothese" 1969 nachdrücklich festhielt:

"Im Gebrauchsmuster einer populären Hörspielform, die unmittelbar ins Feature übergeht und literarisch-ästhetische Kriterien nur als grob handwerkliche Regeln anerkennen kann, zeigt sich die erste legitime Form, die sich aus dem Medium entwickelt."
Bis schließlich der historische Rückblick deutlich machte, wie sehr das Auseinanderdividieren von Feature und Hörspiel, die Entschärfung des Features und die Entwicklung des Hörspiels zu einem Hörspiel der Innerlichkeit auch der politischen Entwicklung in Westdeutschland.

WDR 31.5.1976 (VGTHL 28)

Nachtrag: Stgt Ztg 27. Mai 1997, S. 27. "Nach fünfzig Jahren Experiment wiederholt. Eintausendzweihundert Hörer liefern Notizen für die Chronik eines einzigen Tages".

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