Reinhard Döhl | Das Totenschiff

Ernst Schnabels Hörspieladaption von Bruno Travens erstem Roman, "Das Totenschiff. Die Geschichte eines amerikanischen Seemanns", ist eines jener Nachkriegshörspiele, bei denen neben poetologischen Fragen mindestens gleichermaßen auch der zeitgeschichtliche Kontext mitzubedenken ist. Mit zwei Inszenierungen, im Nordwestdeutschen Rundfunk am 2.12.1946 unter der Regie von Ludwig Cremer, im Südwestfunk am 18.3.1947 unter der Regie von Karl Peter Biltz, fällt Schnabels Adaption noch deutlich in die Aufbauphase des Nachkriegsrundfunks. Die Engländer hatten, wie gezeigt, nach Vorbild der BBC in ihrer Zone einen einzigen Rundfunk installiert, während die Amerikaner in München, Stuttgart und Frankfurt gleich drei Anstalten etablierten. Relativ spät, am 31. März 1946, folgten dann auch die Franzosen in Baden-Baden mit dem Südwestfunk nach.

Während die ersten interessanten Hörspielprogramme, 1946 noch zögernd, 1947 schon in erstaunlicher Vielfalt im NWDR gemacht werden, folgt auch hier der Südwestfunk nur langsam nach. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß sein Intendant, Friedrich Bischof, einer der wichtigsten Hörspielpioniere der Weimarer Republik war, daß der kulturpolitische Mitarbeiter der französischen Militärregierung, Alfred Döblin, dem Hörspiel der Weimarer Republik, theoretisch wie praktisch, exemplarische Beiträge geliefert hatte. Ernst Gethmanns und Bernd Laus historische Bestandsaufnahme, Ein Bändchen konserviert den Ton" , konstatiert denn auch ein wenig enttäuscht:

Schaut man sich den Spielplan der ersten Jahre an, hört man die noch erhaltenen Produktionen durch, begibt man sich also auf die Suche nach Döblin'schen [und Bischoff'schen, R.D.] Spuren im Hörspielprogramm, so findet man - ja, man muß es wohl so deutlich sagen - man findet nichts. Rein gar nichts.

In diesem Hörspielprogramm ist Schnabels "Totenschiff" so etwas wie ein frühes, gewichtiges Hörspielereignis und durchaus anders zu gewichten wie seine Sendung im Nordwestdeutschen Rundfunk, der 1946 ja bereits 56, 1947 70 Hörspielmanuskripte archivieren konnte, darunter eine größere Zahl von Adaptionen dramatischer und epischer Vorlagen mit der Funktion des Nachholens, des Vermittelns, des Wiederanknüpfens.

In diesem Zusammenhang muß man aus dem historischen Abstand auch Schnabels Hörspieladaption von Travens "Das Totenschiff" hören, deren Inszenierungen vor der ersten Nachkriegsausgabe der Romans, sie erschien erst 1948, datieren.

Man weiß auch im Fall dieser Funkbearbeitung nichts über die Hörerreaktionen, doch läßt sich vermuten, daß auch diese "Geschichte eines amerikanischen Seemanns", der ohne Papiere, sprich staaten-, sprich heimatlos immer wieder abgeschoben wird, bis sein Leben mit dem Untergang eines Totenschiffes endet, vor allem als Identifikationsangebot verstanden wurde. Daß sie gehört wurde als drastisches Beispiel einer Laus, die zwischen den Rädern eines Uhrwerks sitzt, die sich drehen, daß der Laus Hören und Sehen vergehen, die deshalb hin und her springen muß, damit sie nicht im Räderwerk zerquetscht wird. Nicht umsonst taucht diese parabelhafte Ausführung der Metapher 'lausige Zeiten' mehrfach, dann noch einmal als Anspielung, und dabei besonders pointiert, am Schluß des Hörspiels auf.

Das ist bereits in der Vorlage angelegt, deren Kritik "ihre Energie vor allem aus dem Mitleid mit den Ärmsten und Verlassenen zu schöpfen" scheint, "ohne sich zugleich in den Dienst sozialer Veränderung zu stellen". Aber zu Vieles selbst einer derart eingeschränkten Kritik geht noch bei der Verkürzung des Romans auf Hörspiellänge verloren.

Indem sich Schnabel bei seiner Bearbeitung, bei seinen Strichen wesentlich an den Gang der Handlung hält, die er überdies verknappen muß, -

im Roman betrifft die Schiffskatastrophe nicht die "Yorikke", sondern ein weiteres Schiff, die "Empress of Madagaskar" -,

die er auf den Seemannstod Bills, der in der Vorlage Gale heißt, zuspitzt -

wiederum anders als im Original, bei dessen offenem Ende Gale auf den Wogen treibt, um in einem späteren Roman, "Die Baumwollpflücker", wieder aufzutauchen -

indem Schnabel sich bei seiner Adaption derart wesentlich an die verkürzte Handlung hält, beschneidet er rigoros den Erzähler der Vorlage, der "den faktischen Gang der Handlung [...] mit distanzierenden, allgemeineren Bemerkungen" begleitet, "in ständigen Kommentaren [...] die Bürokratie und Allmacht des Staates, Klassen- und Prestigedenken, Nationalismus, Sklaverei und Ausbeutung" kritisiert.

Die immer wieder hergestellte Gesprächssituation zwischen Bill und dem spanischen Polizisten kann diesen Verlust ebenso wenig ausgleichen wie ein längerer Ausbruch Bills, nachdem er entdeckt hat, daß die "Yorikke" zum Waffen- und Munitionsschmuggel eingesetzt wird.

LASKI: Weiß ich... Gibt immer welche die Krieg machen und solche Pflaumenmuspatronen brauchen. Und uns sagen 'se: "Der Mensch muß Moral im Leibe haben und "Die Welt ist ja so groß, lieber Freund!"
BILL: Bloß die selber, für sie is 'se zu klein. Die haben nicht mal mehr Platz für unsereinen. Aber wenn sie es für gut befinden, dann morden sie und machen Krüppel und rauben die Kinder von den Müttern und nehmen den Frauen die Männer. Die machen den Staat und pusten ihn auf wie'n Luftballon und dann steht er am Himmel, der Luftballon, und alle müssen ihn anschaun und nachreden. Das ist unser Staat, das ist unser neuer lieber Gott. Seht doch, was wir fürn schönen neuen lieben Gott haben. Seht doch! Seht doch! - Und die Schweine, die den Luftballon aufgepustet hatten, die stehen beiseite und reiben sich die Hände und machen Gebote und Gesetze, und wenn es ihnen paßt, schmeißen sie alle über'n Haufen. Und wenn sich einer wundert, dann nehmen sie ihre bunten Fahnen und wedeln sie den Leuten vor den Nasen rum, bis ihnen ganz schwindlig wird, und sagen: Das muß so sein. Wir müssen jetzt ein bißchen Krieg machen. Bloß ein bißchen. Der neue liebe Gott will es so, der Luftballon - und die Leute sind still und wagen sich nicht, den Mund aufzumachen und gehen in den Krieg. Und dann dauert die Schweinerei Jahre und Jahre und keiner kommt zurück...
LASKI: Und wir liefern das Pflaumenmus dazu. Mit Steinen. Mit kleinen Messingkernchen, die 'ne ganz kleine Bleikugel oben drauf haben. Das machen wir. Wir bringen ihnen ins Haus, was sie brauchen...
BILL: Weil wir sonst vor Hunger krepieren, wenn wir's nicht tun.
Dennoch zeigt eine genaue Lektüre des Manuskripts, ein genaues Abhören beider Produktionen, deren Vergleich äußerst aufschlußreich ist, daß zumindest formal 1946/1947 bereits nicht mehr von einem "vorsichtigen und unsicheren Wiederbeginn" gesprochen werden muß.

Blende, akustische Zäsur und Schnitt werden sinnvoll, wenn auch bei der akustischen Zäsur gelegentlich etwas übertrieben, eingesetzt. Ein Zeitraffer wie der zehntägige Gefängnisaufenthalt Bills in Frankreich braucht den Vergleich mit technisch und formal perfekteren Hörspieltexten und -realisationen nach 1950 keinesfalls zu scheuen.

An einigen Stellen ist das Manuskript seinen Regisseuren sogar voraus. Das wird besonders am Schluß des Hörspiels deutlich, wenn Schnabel dreimal den Orkan darstellt: zunächst in der Beschreibung durch Bill, dann, direkt anschließend, als konkreten Vorgang, der zum Untergang der "Yorikke" führt, und schließlich als Erinnerung des Polizisten in der Rückblende.

Dieser für das Hörspiel, nur im Hörspiel mögliche Wechsel der 'Schauplätze', Zeitensprung und Rückblende sind dabei im Manuskript besser vorgeschlagen als von den Regisseuren inszeniert, vor allem im ersten Teil, in der Schilderung des Hurrikans durch Bill, bei der das Manuskript an Akustik lediglich die Repetition dessen vorschreibt, was Bill in seiner Beschreibung zur Illustration verbal bemüht.

BILL: Kann ich Ihnen sagen, ist furchtbar. Das brummt in der Takelage wie eine Baßgeige. (Von nun an bis zum Schluß leises Brummen von einer Baßgeige. Zuweilen etwas anschwellen.) Das brummt in der Takelage wie eine Baßgeige...
SPAN: POLIZIST: Und die Wogen, die sollen ja wie Häuser werden, so hoch...
BILL: Werden sie auch.
SPAN: POLIZIST: Wie hört sich dann das bloß an? Muß ja furchtbar sein?
BILL: Wie sich das anhört? He... Denken Sie sich mal'n Dutzend Trommeln, die wirbeln alle miteinander...
(Trommeln)
Und dann kommt das näher und näher und immer lauter...
(Trommeln näher)
Und dann kommt noch 'ne Posaune dazu
(Posaune setzt mit tiefstem Ton sacht ein und schwillt mit den Trommeln an...)
so und dann kommt das immer näher und näher und dann ist es da.
(Dröhnender Paukenschlag.)
Und dann wird alles weiß und Gischt und Sie sehen nichts mehr und hören nichts mehr...
(Nach Paukenschlag wischen die Drahtbesen von Schlagzeugen über die Trommel hin, etwas abschwellend)
Und dann wieder die Trommeln...
(Trommeln)
die Posaune
(Posaune)
und dann...
(Pauke)
und dann...
(Drahtbesen)
und immer wieder und immer wieder...
(Von nun an bis zum Schluß diese Geräuschwogen. Wiederkehr alle 8 Sekunden. Zusammen mit dem Brummton als Geräuschhhintergrund. Zuweilen anschwellend und so in die Handlung eingreifend, auch als Szenenschnitte benützt.)
BILL: Und das hört nicht mehr auf und hört nicht mehr auf und wird immer höher und furchtbarer, und die Seen werden wie Berge und kommen und kommen...
SPAN: POLIZIST: Senior!
BILL: ...und kommen und kommen und mitten in all der Furchtbarkeit, in all dem Entsetzen und Weltuntergange, mitten drin, da schwimmt dann die Yorikke...
SPAN: POLIZIST (Ton weich zurückgenommen): Madonna!
(Lautes Wogen. Posaune)
BILL: Laski! (Leise und entsetzt)
LASKI: Hm...?
BILL: Das ist aber'n Wetter, Laski?
LASKI: Hm.
BILL: Was denkst Du, Laski?
LASKI: Ja, das ist'n Wetter...
(Lautes Wogen)
Hier macht vor allem die Inszenierung Biltz' aus einer durchaus sinnvollen akustischen Idee Oper, wie sie sich auch dort als Kind ihrer Zeit erweist, wo sie die einzelnen Stimmen Rolle sprechen und spielen läßt, erklärbar sicherlich aus der Praxis zahlreicher Adaptionen von Theaterstücken und hier - anders als das Manuskript - nun doch Beleg für einen "vorsichtigen und unsicheren" Neubeginn, wenn man hier nicht sogar von einem Rückgriff auf die Anfänge des Hörspiels, auf dramatische Adaption und Katastrophenhörspiel sprechen will.

Das aber ist allenfalls der Regie, nicht dem Bearbeiter der Vorlage anzulasten. Denn Schnabel hat das in Rahmen einer Adaption Mögliche geleistet. Und so ordnet sich "Das Totenschiff", wenn auch nicht als ihr bester, so doch als ihr erster nennenswerter Beitrag ein in eine Reihe gewichtiger Hörspieladaptionen nach dem Kriege, zu denen im Rundfunk der Weimarer Republik bereits Hermann Kessers "Schwester Henriette" und "Straßenmann", Arnolt Bronnens "Michael Kohlhaas" und nach dem Kriege Schnabels "Das Totenschiff", Eichs "Unterm Birnbaum", Friedrich Dürrrenmatts "Der Prozeß um des Esels Schatten", sowie als Musterbeispiele ihrer Art Max Ophüls "Novelle" und "Berta Garlan", und vor allem André Almuros "Nadja Etoilé"
zu rechnen sind. Sie bilden, alle zusammengenommen, ein durchaus eigenes, umfangreiches Kapitel der Hörspielgeschichte, das noch geschrieben werden müßte, ein Kapitel, das beim Hörspiel der Nachkriegszeit und der 50er Jahre besondere Beachtung verdient und in den 80er Jahren in zahlreichen Bearbeitungen Heinz von Cramers erneut aufgeschlagen wird.

SWF 5.2. 1977 (RNE 3)

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