Reinhard Döhl | Stücke und Spiele | R.D. - GegenWelten - WiderWorte
5. Satz | Auf der nämlichen Erde Auf der nämlichen Erde
stehen die nämlichen Bäume beisammen.
Und auch am heutigen Tag
schlagen die nämlichen Blätter raschelnd zusammen.
Onoe Saishû
Die Ulme Theokrits,
Die schöne Buche Mörikes,
Der Tod des Vergil -
gleichgültig ist den Vögeln
meine späte Lektüre.

Le but ultime
du monde c'est le livre.
Und die Erde wird
schön sein: Himmel, Felsen, Meer.
Shizuka, sora to mu.

Ich schreibe meinen
Namen in den Wind; ihm ist
schwer zu widerstehn.
Wie Mimosenstaub treibt er
die Buchstaben vor sich her.

Die Korallenschrift
der Vogelfluglinie,
eine Partitur
für Flugfische und Seepferdchen.
Ich lerne Noten lesen.

A meal in mutton,
mutton, why is lamb cheaper.
Repeat instruction.
Vor blauem Albhimmel ziehn
Lämmer wie Wolken dahin.

Jederzeit ist es
Zeit, ein Gedicht zu machen.
Im Regen blinzeln
die Knospen des Fächerahorns
mir verschwörerisch zu.

Schalen der Waage
und die geschälte Rinde,
blätternde Blätter,
Seiten der Buche, das Buch -
because so little is more.

Seit ich Chlebnikov
unter dem Hundsstern getroffen
habe, spreche ich
die Sternensprache, zas für
uzas, mache ich Fortschritte.

Fische im Wasser
Pflanzen auf der Erde
Vögel in der Luft
Spiele und Geographie
Geographie und Spiele.

Verfangen im all-
täglichen Gestrüpp - schon sind
die Tage gezählt,
die Schlinge meines Lebens
halte ich für Freiheit.

Wenn die Bücher aus-
gelesen, die Saiten verstimmt,
die Bilder verblaßt sind
flüchten die Tauben aus dem Glockenturm
und umkreisen das Dorf.

Rückruf der Liebe
aus versunkener Zeit im Meer,
Strandgut durch Brandung.
Vögel unter dem Himmel.
Lilien auf dem Felde.

[1995]

lied einer alternden jungfrau

ich hab mich einem krebs versprochen
und werde es nicht überleben
zu kreuze bin ich noch nie gekrochen
das wird es auch diesmal nicht geben

ich hab dem krebs einen finger gegeben
er griff nach der ganzen hand
wir werden ein weilchen im krebsgang leben
dann verliern sich die spuren im sand

so einfach ist das und so ist es eben
der wind dreht und es wird frisch
seit ich mich einem krebs hingegeben
steht krebssuppe auf dem tisch

in die hab ich hineingegeben
die reste eines gedichts
meine wörterwelt den traum ein leben
einen augenblick alles und nichts

ich habe mich einem krebs hingegeben
und habe nichts zu bereun
die blätter fallen schon doch daneben
wirds blütenblätter schnein

ich hab mich einem krebs versprochen
und werde es nicht überleben
ich habe noch nie ein versprechen gebrochen
das wird es auch diesmal nicht geben.

[1998]

bis an den nagelmond
denk ich an dich
wenn die nacht mich nimmt

ich sehne mich
aber die vögel wollen nicht ziehen

noch schlägt mein herz
und der gebrochene flügel
wächst langsam zusammen

der krebs hat seinen panzer
die schnecke ihr haus

ich trage die scheidemünze
unter der zunge der kurs
ist nicht günstig

immer will ich dir sagen
wie lieb du mir bist

ins nächtliche geschrei der katzen
fallen die hunde ein kein hahn
kräht danach

deine briefe fledermäuse
in der dämmerung

deine augen eulenaugen
im negev dein gefieder
ein wind der abends einschläft

ungeduldig warte ich
auf besuch

wenn du bei mir wärest
wenn du bei mir bist
wenn du bei mir sein wirst

im kalender tage
an den fingern zähle ich nach

jerusalem ist eine jahreszeit
nichts weiter 800 meter hoch
eine stunde entfernt

lashana haba’a bijrushalajim
lashana haba’a bijrushalajim

alles andere weiss man
aus der zeitung leserzuschriften
flaschenpost in der regenzeit

tausend jahre ein tag
zwölf jahre eine ewigkeit

rauch des dezemberhimmels
von en kerem steigt nebel auf
es gibt kein firmament mehr

und unsere namen
aufgerufen im himmel

sonnenuntergänge zwischen
chromgelb und geraniumrot
ich denke weissblau

die lichtverhältnisse sind
das problem die farbe der steine

die rote katze
auf dem campus und moshe
der auf ein abendessen vorbeimault

im gedächtnis die stimme anitas
wie sie löwenzahn sagt

schon werden die tage länger
mit dem vollen mond
mit dem leeren mond

ein jahr ists jetzt her
etwas mehr als ein jahr

nicht gezählt die nächte
die ich bei dir war
erinnerst du dich

wie wir über die leine sprangen
und über die donau fuhren

gesteinigte landschaft
mauern aus mauern
die mauer

lashana haba’a bijrushalajim
bashana haba’a bijrushalajim

die wasserscheide ist überschritten
schon liegt tsofim hinter
und die wüste vor uns

in den gärten en gedis
verstecke ich mich

wenn wir über den jordan gehen
werde ich dir yam kinneret
übersetzen und yam-ha-melah

sodom wie war das
gedanken auf durchzug

geschichte aus zitaten
rahel am brunnen
shoshanna im bade

die shofaroth von yeriho
mazada ist gefallen

ich habe die sanduhren gestellt
rot grün und braun grau
verrinnt die zeit

in en sheva wird das brot knapp
und in kefar nahu das wasser

das gebrochene auge des schakals
neben der straße
weiß davon nichts

wunder hat es nie gegeben
sie sind lange her

wenn der schneegipel
des hermon aufrötet
über dem blütenmeer

wecke ich dich
unter dem apfelbaum

lashana haba’a bijrushalajim
bashana haba’a bijrushalajim
leshana haba’a bijrushalajim

sprich wörtlich
buchstäblich

taf shin resch kuf zadik
pe ain samech nun mem
lamed kaf jod tet chet

sain wav he chalet
gimel bet alef

wer spricht
sprichst du
spreche ich

sababa
ezeh ba’asah

stehe auf nordwind
und komm südwind
und wehe durch meinen garten

ich schlafe
aber mein herz wacht

shumi shumi
ha shulamit
kehr um kehr um

wir werden gewürzwein
trinken und granatapfelsaft

am ende denke ich
liegt eden vor uns
irgendwo da vorne

nächstes jahr in jerusalem
lashana haba’a bijrushalajim

[1998/99]

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