BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl 
Sibylle Mockler | Grenzerkundungen

Erste Experimente

Die Neugier, das Probieren müssen, die Experimentierlust waren schon immer die Antriebsfedern für alles, was Reinhard Döhl tut. Durch sein pietistisches Elternhaus geprägt, hatte er zunächst vor allem Interesse an Büchern und in geringerem Umfang an der Musik. Zur bildenden Kunst kam Döhl erst später. Sein erstes Ziel war der Beruf eines Bibliothekars. Danach kam der Wunsch, Geisteswissenschaften zu studieren. 1954 faßte er den Plan, Homers "Odyssee" in Linolschnitten zu illustrieren, da ihm die Ausdrucksmöglichkeiten des Textes zu begrenzt erschienen.

In den 50er Jahren beginnt Döhl auch zu fotografieren und bewirbt sich, u.a. mit diesen Arbeiten, 1955 - vergeblich - an der Hamburger Kunstakademie. 1956 entdeckt er in einer Buchhandlung, in der er arbeitet, die ersten Prosa- und Gedichtbände Helmut Heißenbüttels, in einer Bibiothek von James Joyce den "Ulysses" und "Finnegans Wake", die zu entscheidenden Leseeindrücken werden. Das Interesse am Dadaismus und an der existentialistischen Philosophie (mehr als an der Literatur) veranlassen Döhl 1959 zu seiner ersten Parisreise.

Bereits in diesen Jahren der ersten zaghaften künstlerischen Gehversuche tauchen Themenkomplexe auf, die für die späteren Arbeiten wichtig werden: 1958 z.B. die folgenreiche Entdeckung Stéphane Mallarmés, die erst mit dem "Mallarmé-Projekt" (1989/ 1990), 1991 mit dem "aprèslude pour l'après-midi d'un faun" und dem "mort d'un faun, dédie à la faunesse" abgeschlossen wird. Bei den Fotografien deutet sich solch ein Themenkomplex an in der damals vielleicht noch unbewußten Beschäftigung mit Kreuzen, sei es in Form von Wegkreuzen, Kruzifixen oder in Form von Fensterkreuzen, ein Komplex, der seine Fortführung erfährt in Figurata der 60er Jahre und sich verfolgen läßt bis zu den sogenannten "KreuzWegStationen" von 1991/1992 im Rahmen der jetzt für Döhl wichtigen "Schwarzen Bilder" (seit 1990 [recte 1987]).

Der Documenta-Schock

1959 sollte Döhl für die Göttinger Studentenzeitschrift "prisma" einen Bericht über die Documenta in Kassel schreiben. Für einen vom (bilderfeindlichen) Pietismus geprägten Menschen mußte diese erste Begegnung mit der radikalen Kunst des 20. Jahrhunderts schockartig wirken: Döhl wurde von den Collagen und Assemblagen Kurt Schwitters', dem malerischen Spätwerk Nicolas de Staels, dem Tachismus Jackson Pollocks und den kleinen Formaten Wols' regelrecht provoziert, sieht zum ersten Mal Arbeiten der "art informel" von Hans Platschek, Karl Fred Dahmen, in dessen Atelier 1962 "so etwas wie eine geschichte von etwas" entstehen, und von Sonderborg, mit dem er einige Jahre später zum Stuttgarter Mappenwerk "16 4 66" beitragen wird.

Die Kasseler Eindrücke veranlassen Döhl zu seinen ersten Collagen und "Drucksachen". Um mit Schwitters zu reden: Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff 'Kunst' erst loswerden müssen, um zur 'Kunst' zu gelangen. 1959-1962 entstehen das "SpiegelFragmentBilderBuch", 1962 die ersten Typografien auf Zeitung und im Zeitungsformat. Vieles andere hat dagegen nur Postkartengröße - aus einem praktischen Grund: die Schreibtische in den Studentenbuden boten kaum mehr Platz. Später zieht sich das Format der Postkarte wie ein Wasserzeichen durch die Produktion, jetzt aber ohne äußere Notwendigkeit. In den 60er Jahren kommt es zu den ersten Postkartenensembles, später dann zum "Kunst&Kompostkarten"-Projekt, zusammen mit Wolfgang Ehehalt. Bereits in "Prosa zum Beispiel" (1965) findet sich ein Text zum Thema "Ansichtskarten".

Nach der Publikation der umstrittenen "missa profana" muß Döhl 1959 die Universität Göttingen verlassen. Er geht, einer Einladung Max Benses folgend, nach Stuttgart und lernt dort alsbald die Mitglieder der ehemaligen "Gruppe 11" kennen. Vor allem mit Günther C. Kirchberger kommt es auch zu künstlerischer Zusammenarbeit, entstehen nach 1962 sogenannte "TextGrafikIntegrationen" und "Comic strips", nach 1966 "Programmierte Bilder, Texte und Typografien", bei denen zusätzlich Hansjörg Mayer mit von der Partie ist.

Für Döhl werden neben der Collage jetzt auch Schrift und Typografie wichtig. Das ist unter anderem auf die Darmstädter Ausstellung "Sinn und Zeichen" (1992), sowie auf die "Schrift und Bild"-Ausstellung (Amsterdam/Baden-Baden) von 1963 zurückzuführen. Die Beschäftigung mit der Sho-Kunst und mit der asiatischen Literatur und Philosophie des Tao und Zen setzt sich bis heute fort und findet z.B. in den "Herbsten" von 1990 eine ganz individuelle Ausprägung.

[Obwohl es diese Ausstellung nur am Rande berührt, sei wenigstens darauf hingewiesen, daß Döhl seit den 60er Jahren auch mit japanischen Schriftstellern, Künstlern und Gruppen z.T. engere Kontakte hat, unter anderem mit der Asa- und der Shi Shi-Gruppe, mit Hiroo Kamimura, Syun und Kei Suzuki, mit dem er bereits mehrfach ausstellte und auch zusammenarbeitete.]

Grenzerkundungen

Die überwiegende Produktion Döhls entsteht in Werkgruppen. Dieses Arbeiten in Serien erklärt sich aus der meist experimentellen Versuchsanordnung. Die Themenstellung hat oft ein bildnerisches und literarisches, gelegentlich sogar wissenschaftliches Einkreisen zur Folge. Über sehr lange Zeitspannen ergeben sich so Themenkonstanten wie das bereits erwähnte "Mallarmé-Projekt" oder der "Stuttgartprospekt", an dem Döhl bis 1992 mit Unterbrechungen gearbeitet hat.

Einige Lexika sprechen bei Döhl von Versuchen zwischen Text und Bild, Literatur und bildender Kunst. Sie haben dabei die Musik als dritte bzw. vierte Komponente neben der Wissenschaft vergessen.

Die "Tapoems and Typieces" der 60er Jahre gehen z.B. in Richtung Musik. Es handelt sich um partiturähnliche, in den 70er/80er Jahren z.T. ausdrücklich als "Partitur" bezeichnete (typografische) Arbeiten. Im literarischen Bereich wären die "missa profana" sowie zahlreiche Hörspiele zu nennen, zu denen wissenschaftlich der langjährige, nun abgeschlossene "Versuch einer Geschichte und Typologie des Hörspiels in Lektionen" sowie Aufsätze zur akustischen Poesie und Kunst gehören. Die verglichen mit den meisten Hörspielen hier noch eindeutigere akustische Partitur "man" war Beitrag auf der Documenta 1987.

Diese Partituren sind, in extremen Positionen, Ausdruck für Döhls Interesse am akustischen Buch, undzwar ganz im Sinne Guillaume Apollinaires, der zwischen einem visuellen und einem akustischen Buch der Zukunft unterschied. Sind die Hörspiele und "Partituren" Teil eines akustischen, sind die visuellen Texturen seit den 60er Jahren, die sogenannten "Catalogues", "Letters" usw. Titel, Kapitel, Fußnoten eines visuellen Buches. Schon das Projekt "wie man so sagt / wie man so liest / wie man so hört" - ein Projekt aus den 60er Jahren, das sich damals nicht abschließen ließ - weist deutlich in diese Richtung. Sein Plan sah eine spezielle typografische Edition der Gedichte (= wie man so sagt) und der Prosa (= wie man so liest) vor, die verbunden werden sollte mit ihrer akustischen Realisation (= wie man so hört).

Sind Döhls künstlerische Arbeiten so einerseits schrittweise Annäherungen an das von Apollinaire prognostizierte akustische und visuelle Buch der Zukunft, so ist andererseits sein künstlerisches, literarisches, wissenschaftliches Werk, die Reihenfolge ist freibleibend, - wenn auch bei jeweils eigener Fragestellung - durchaus Teil eines künstlerischen, literarischen, wissenschaftlichen Dialogs mit wechselnden realen oder ideellen Partnern, deren Namen sich den Publikationen, den einzelnen Werktiteln und -gruppen meist leicht ablesen lassen. Döhls wissenschaftliches Interesse an den Doppelbegabungen ist verständlicherweise auch ein existentielles.

Döhls Bewegung in Richtung des visuellen und akustischen Buches wäre dialektisch sein Interesse an der von ihm sogenannten Kunst des Augenblicks zuzuordnen: also der Kunst des Aquarells, der Tusche, der Zufalls. Aber auch sein Interesse am Nichts im Sinne des Zen (= mu) und/oder im Verständnis der Pascalschen "Pensées" (= neant). So wären sein Ziel also nicht nur die Bücher der Zukunft, sondern zugleich auch ihre Auflösung, ihr Verschwinden im Nichts.

Von hier ließe sich ferner Döhls Interesse am der Auflösung des Sinns im Unsinn erklären, für das er sich u.a. auf die Dadaisten beruft, lassen sich andererseits die "KreuzWegStationen" verstehen als Meditationsvorschläge, als Mandalas, die den Betrachter unter Zurücklassung allzu konkreter Besetzungen über das Kreuz hinausweisen wollen.

Die letzten in Rom entstandenen "SiebenSachen", darunter die sogenannten "Spottkruzifixe" und speziell die "Catacomba"-Serien, zeigen, daß auch die "KreuzWegStationen" lediglich Stationen sind auf dem Weg (= do).

[Aus Katalog "Das Schwarze Loch", 1992]