"reinhard döhl (...) auf der spur zu bleiben", so ulrike gauss 1990 anlässlich der großen wendlinger retrospektive, "gelingt nicht leicht – er taucht unter, vergräbt sich in botnang, packt seine arbeiten, gebündelt und geschnürt, in die ecke beiseite und redet über die kunst anderer! noch schlimmer. dieser mann hat mehrere schöpferische leben auszuhalten: als wissenschaftler und universitätsprofessor für germanistik (...), als gesamtkunstwerkforscher und spezialist für die dada-kunst (...), als schriftsteller und dichter, als bildender künstler im bereich der visuellen poesie und der collage, als mail artist oder postkartenkünstler, in wort und bild engagiert und kritisch".
auf der spur reinhard döhls und jean pauls zu bleiben und ihnen hinterherzutauchen – wenigstens ein kleines stück – dazu mag dies blättchen dienen.
streck verse & lange
gesichter, der titel des vorliegenden bändchens, vom herausgeber elhardt
in mitarbeit und liebevollem druck gestaltet, ist selbst einem der 26 streckverse
entnommen. der streckvers, eine erfindung jean pauls, ist ein freier vers
beliebiger länge: "er machet gedichte nach einem freien metrum, so
nur einen einzigen, aber reimfreien vers haben, den er nach belieben
verlängert, seiten-,
bogenlang; was er den streckvers nennt, ich einen polymeter" (jean paul,
flegeljahre, vgl. fußnote auf seite 7).
der untertitel, wörterspiel (mobile), verweist auf das spiel mit den wörtern und auch auf die "fortgehenden noten" (siehe fußnoten).
spiele nehmen im werk des autors einen großen raum ein – theaterspiel, hörspiel, dialogisches oder einfach nur sprachliches spiel. diese stücke/spiele entsprechen dabei nicht immer der konvention von bühnenspiel, sind nicht immer leicht spiel- und umsetzbar.
"wie kunst in steigendem maße manipulierbar und zum gesellschaftlichen faktor wird, scheinen die deutschen theaterleute von den gesetzlichkeiten des marktes korrumpiert: fragwürdige anhaltspunkte angesichts allgemeiner ratlosigkeit gegenüber der moderne. tardieu ist ihr zum opfer gefallen, unter den deutschen etwa ein talent wie reinhard döhl, der mit seinem stück warten muß, bis, allein technisch, die bühne die neuere literatur verkraftet oder gar sich zu eigen gemacht hat. [klaus g.riehle, "zum thema tardieu oder über das einkellern zur unzeit". in: streit-zeit-schrift, h. IV,1, februar 1962, s. 5]
reinhard döhls spiele entstehen meist in (trilogischen) gruppen (spiel | spiel | 'satyrspiel'). dabei stehen die pariser spiele, zu denen die streckverse als drittes spiel oder 'satyrspiel' gehören, zwischen den zeitstücken und den stuttgarter spielen.
zu den streckversen selbst und wie sich der autor ihre aufführung gedacht hat, wird im vorliegenden heftchen schon einiges gesagt. deshalb genüge hier der hinweis, dass die streckverse spiel in mehrfacher hinsicht sind.
1. als wörterspiel, spiel mit wörtern;selber mitspielen kann der leser / die leserin auf der homepage reinhard döhls bei der "fastschrift" zu ehren helmut heißenbüttels, wo sich auf der linken seite die streckverse als achrosticha hinter dem namen helmut heißenbüttel verstecken.
2. als spiel mit jean paul, dem erfinder der gattung streckvers, der als spiel- und dialogpartner gleichsam zum paten des spiels und mitspieler wird – wozu sich als mitspieler auch noch wilhelm raabe und günter eich gesellen – und
3. als spiel mit der jean paulschen fußnoten- und zettelkastenpoesie.
eine fußnote dient entweder der quellenangabe oder als anmerkung zur erläuterung des textes. quellenangaben sind die fußnoten hier auch und ebenso erläuterungen zum verständnis des texts, doch wird, wer verständnishilfe erwartet, enttäuscht werden.
dies erinnert sehr, wen würde
es wundern, an jean paul. in seinem kleinen prosawerk "des feldpredigers
schmelzle reise nach flätz" besteht sein "notensoutterain", bestehen
die fußnoten aus aphorismen, die zu dem haupttext auf der seite keinerlei
bezug haben.
nicht umsonst nennt er sie
auch "fortgehende noten."
schmelzle taucht dann auch konsequent bei döhl in einer fußnote auf, wird aber nicht nach jean paul, sondern nach raabe zitiert. wie überhaupt im döhlschen "noten-souterrain" ein zusätzliches spiel mit dem jean-paul-leser und -kenner wilhelm raabe und mit günter eich gespielt wird, dessen späte unsinnspoesie sich vortrefflich diesem spiel einfügt.
die mülltonne in botnang, die den collagen im vorliegenden heftchen zugrunde liegt, ist eine den schattenriss kants anspielende collage aus wortfetzen aus dem stuttgarter wochenblatt, ausgabe botnang, und wird vom autor gern als selbstportrait eingesetzt.
damit bringt sich reinhard döhl selbst noch ins spiel mit diesen drei von ihm hochgeschätzten humoristen und unsinnspoeten, wobei gansewinkel, krähenfeld, bumsdorf (raabe, vgl. seite 13), die einschlägigen orte jean paulscher prosa wie kuhschnappel [vulgo hof], flätz etc. und das ehemalige wäscherinnen- und schweinebauerndorf botnang durchaus auf einer linie zu denken sind.
dabei wird die collage noch einmal verwandelt in verschiedene andere collagen, die themen aus den streckversen aufgreifen und sowohl auf den autor (mit den verschiedenen hinweisen auf stuttgart) und auf jean paul (mit den hinweisen auf hof) anspielen, denn für die zwei collagen, die den anfang und den schlußpunkt setzen, wurde aus einer arbeit paul krügers zitiert, einem künstler aus hof, dessen bevorzugte künstlerische form die collage war.
über die linie botnang - bumsdorf - kuhschnappel kommt damit versteckt aber auch noch ein weiterer bezug ins spiel. den streckversen nicht ohne hintersinn angehängt sind nämlich die hof betreffenden notate aus den auch autobiographisch zu lesenden "botnanger sudelheften" reinhard döhls. diese umreißen wiederum ziemlich genau die zeit der hofer "tage für neue literatur", für die jean paul mit seinem hofer werk als schutzheiliger fungierte.
im rahmen dieser hofer "tage für neue literatur" liest döhl auf der kanzel der joditzer kirche, wo jean pauls vater pfarrer war, dessen "rede des toten christus..."; stellt günter eich 1966 seine frühen "maulwürfe" vor und entwickelt claus henneberg 1969 die gattung der "siebtexte", deren erster aus dem 22. kapitel des "siebenkäs" ausgesiebt ist.
döhls
eigene, neben seiner wissenschaftlichen eher spielerische, auch unsinnige
beschäftigung
mit jean paul ließe sich unter anderem dem wörterspiel der
"streckverse" ablesen, ihrem zitier- und verweissystem, das, ebenfalls
auf jean paul zurückgehend, von reinhard döhl aber anders gespielt
wird. dass die streckverse in zusammenarbeit mit dem herausgeber armin
elhardt in der reihe
wuz, der deutlichsten fußstapfe,
die jean paul in stuttgart hinterlassen hat, erscheinen, ist also keineswegs
zufall.
beiwort / spielanleitung zu reinhard döhl, streck verse & lange gesichter. ein wörterspiel (mobile) mit neunzehn collagen des verfassers unter mitarbeit hrsg.n von armin elhardt. edition wuz, nr. 17, freiberg a.n. 2003