Anders Pecora, der 1985 allein der Stimme einen langen Artikel widmet. Er setzt Stimme vor allem mit Gegenwart und Identität in Verbindung und geht dabei von der Philosophie aus. Er beginnt mit Schopenhauer, der in einer Fußnote eine Metaphorik verwendet hat, die der von Heart of Darkness verblüffend ähnlich ist. Der moderne Mensch, so Schopenhauer, erkennt sich als innerlich leer. Wenn der Mensch versucht, sein Inneres zu ergründen, ergreift er nur ein Phantom, findet einen Abgrund, aus dem eine Stimme spricht. In Heart of Darkness, so Pecora, ist die metaphysische Unsicherheit des Menschen und sein Bedürfnis, diese zu leugnen, mit einer Stimme zu füllen, dargestellt. Deshalb erzählt Marlow, und wenn seine Stimme dazu nicht mehr ausreicht, nimmt er das Echo der Stimme von Kurtz. (66)
Pecora liefert keinen Beweis, daß Conrad das Schopenhauer-Zitat kannte, auch in den Briefen Conrads findet sich kein Hinweis darauf, doch die schlagende metaphorische Ähnlichkeit macht dies wahrscheinlich. Von Schopenhauer mag Conrad die Verbindung zwischen dem Hohlheitsmotiv und der Stimme haben, die sein ganzes Werk durchzieht.
Nicht philosophischer, sondern psychologischer Art ist der Ansatz von Kahane in ihrem 1989 erschienenen Aufsatz "Seduction and the Voice of the Text". In der psychoanalytischen Gesprächssituation, so Kahane, ist die Stimme die Verbindung zwischen Erzähler und Zuhörer. Sie verschwindet und hinterläßt nur "the trace of its effect." Kahane betont den ambigen Charakter der Stimme: sie setzt einen sprechenden Körper voraus, bindet den Sprecher an den Hörer, doch als Trägerin der Sprache signalisiert sie zur selben Zeit auch Trennung. Die Stimme im Text gibt die Illusion einer körperlichen Anwesenheit. Texte wie Heart of Darkness, die eine mündliche Erzählsituation vortäuschen, verführen die Leser zum Zuhören. In der westlichen Kultur, so Kahane weiter, ist die zuhörende Position als die weibliche definiert. Als Beispiel bringt Kahane die Empfängnis Jesu durch das Ohr Mariens. Die zuhörende Position feminisiert den Zuhörer, auch wenn es ein Mann ist. Mit dieser Position ist sowohl die Angst als auch die Freude verbunden, von der Erotik der Stimme verführt zu werden. Die Lippen, die in ein Ohr wispern, sind das klassische Bild der Verführung. (67)
Der an sich recht viel versprechende Ansatz Kahanes endet leider in der fragwürdigen Gleichsetzung von "The Horror" mit seinem angeblichen Homonym "Whore" (68) und der Deutung des Textes als Ausdruck der Angst vor und der Wut auf die Frau. Sprechen als orales, präödipales Begehren, das sich auf die Mutter richtet, aber im Schweigen endet, da dieses Begehren nicht erfüllt werden kann. (69) Ich werde im folgenden den Ansatz von Kahane weiterverfolgen, ohne mich jedoch auf ihre psychoanalytischen Folgerungen einzulassen.
Fothergill widmet in seinem hervorragenden Interpretationsband zu Heart of Darkness auch der Stimme ein Kapitel. Dort hebt er die Ambiguität von Kurtzens Stimme und Eloquenz hervor, die aus Marlows schwankender Einstellung gegenüber Kurtz herrührt sowie den Kontrast zwischen dem unverständlichen Geschnatter der Pilger und dem wilden Heulen der Eingeborenen, gegen das Marlow anzureden versucht. Als Hilfe dazu antizipiert Marlow die Stimme von Kurtz als Stimme mit Kraft und Autorität, die ihm das Unverständliche erklärt. Fothergill verdanke ich den Hinweis auf die Gleichsetzung der Pilger mit der Besatzung der "Nellie". (Vgl. Kapitel 4.3) (70)
London benutzt als Metapher für ihre Lesart von Heart of Darkness den Polygraphen, eine Art Lügendetektor. Sie untersucht die Art, wie Marlow erzählt, auf Hinweise in seiner Stimme, die auf die Anwesenheit von Kurtz deuten sowie auf Lügen, die Marlow erzählt. Ihr verdanke ich den Hinweis darauf, daß Stimme in Heart of Darkness häufig als etwas Sichtbares erscheint, als optische Illusion. (71)
Kuchta vergleicht Heart of Darkness mit dem auf der Grundlage des Romans gedrehten Film Apocalypse Now. Den Hauptunterschied sieht Kuchta darin, daß der Leser bei der körperlosen Stimme Marlows sicher sei, woher sie komme, nämlich von der "Nellie", die ruhig im Hafen von London liegt. Der Leser kann sich sicher sein, daß Marlow sein Kongo-Erlebnis überlebt hat und zurückgekehrt ist. Der Rahmen verankert die Erzählung in Sicherheit, während im Film die Quelle der Stimme unsicher ist und es eher unwahrscheinlich ist, daß Willard sein Vietnam-Erlebnis überlebt. (72)
Es ist zwar richtig, daß die Rahmenhandlung Marlow in einer sicheren Situation zeigt, doch dies macht die Hinweise darauf, daß er immer noch von denselben Charakteren umgeben ist wie im Kongo, um so beunruhigender. (Vgl. Kapitel 4.3)
Seeber beschreibt die Faszination Marlows für die Stimme von Kurtz im Sinne von Rudolf Ottos "Numinosem" als ästhetische und religiöse Erfahrung, die außerhalb von moralischen Kategorien steht und eine Mischung aus Glück und Furcht, Anziehung und Widerwillen ist. So wie Marlow von Kurtz fasziniert ist, wird er im Laufe der Erzählung selbst zum Idol und damit für den Leser faszinierend. Erhellend sind Seebers Hinweise auf die biblischen Anspielungen in der Beschreibung von Kurtzens Stimme (Vgl. Kapitel 4.2) Es ist ein wichtiges Merkmal des Faszinierenden, daß es nur aus der Distanz heraus wirkt. Stimme und Redegewandtheit von Kurtz werden nicht näher spezifiziert, es wird kaum direktes Sprechen abgebildet. So wird die Imagination des Lesers beansprucht. (73)
4.1 Marlow
"Marlow (...) had sunken cheeks, a yellow complexion, a straight back, an ascetic aspect, and, with his arms dropped, the palms of hands outwards, resembled an idol." (HoD,S.16)
So beschreibt der Rahmenerzähler in Conrads Heart of Darkness den Haupterzähler. Marlow ist der einzige der Crew, der mit Namen genannt wird. Die anderen Besatzungsmitglieder, die auf der "Nellie" auf das Eintreffen der Flut warten, sind nur nach ihren Berufen benannt: der "Director", der "Accountant" und der "Lawyer". Dies wird sich auch im folgenden fortsetzen. Auf seiner Reise in den innersten Kongo trifft Marlow den "Manager", den "Chief Accountant" und den "Brickmaker". Die einzigen Eigennamen, die außer Marlow im gesamten Buch auftreten, sind Fresleven und Kurtz, wodurch ein Zusammenhang zwischen den dreien hergestellt wird. (74)
Die außergewöhnliche Pose, die Marlow eingenommen hat, erinnert an eine Buddha-Figur. (75) Dies impliziert große Weisheit und hebt die kommende Erzählung Marlows auf eine Stufe mit Buddhas Lehrerzählungen, die durch seine Schüler überliefert sind. Doch das Wort "idol", mit dem Marlow hier bezeichnet wird, hat auch die negative Konnotation eines Götzen oder Abgottes. Dadurch wird Marlow in die Nähe von Kurtz gerückt, der wie ein Abgott verehrt wurde. Und es macht Marlow als Erzähler zumindest ambivalent.
Nachdem der Rahmenerzähler die Geschichte Englands in der ideologischen und imperialistischen Manier des viktorianischen Diskurses als glorreiche Vergangenheit charakterisiert hat, verkehrt Marlow die Bilder. Die Kolonialmacht England wird als dunkler, wilder Ort gezeigt, erobert von den Truppen Roms. Dadurch zeigt Marlow, daß das Wilde der Anfang der Zivilisation war und immer noch darunter schlummert. Scharf verurteilt er Eroberungsdrang und Machtstreben, doch gleich darauf meint er, das einzige, was mit der Eroberung und dem Morden versöhne, sei die Idee, die dahinter stehe. Ist Idealismus also eine Rechtfertigung für Ausbeutung und Mord?
The conquest of the earth, which mostly means, the taking it away from those who have a different complexion or slightly flatter noses than ourselves, is not a pretty thing when you look into it too much. What redeems it is the idea only. An idea at the back of it; not a sentimental pretence but an idea; and an unselfish belief in the idea - something you can set up, and bow down before, and offer a sacrifice to... (HoD,S.20)
Hier bricht Marlow ab, denn sicher fällt ihm bei seiner Formulierung der Idealist Kurtz ein, dem buchstäblich geopfert wurde. Vermutlich kommt ihm hier der Gedanke, die Geschichte von Kurtz zu erzählen. Doch ist seine Äußerung über die Idee hinter der Ausbeutung ironisch gemeint? Es gibt keinen Hinweis darauf im Text. Und vergessen wir nicht, daß der Rahmenerzähler gleich darauf meint, sie seien wohl dazu verurteilt, eine von Marlows "inconclusive experiences" zu hören. (HoD,S.21) Dies wirft die Frage auf, ob Marlow aus seinen Erlebnissen irgendwelche Konsequenzen gezogen hat. Anscheinend nicht, denn er fährt noch immer auf einem Handelsschiff und ist noch immer von den gleichen unmoralischen Charakteren umgeben wie im Kongo. Darauf weisen die Stimmen seiner Zuhörer hin, wie wir in Kapitel 4.3 sehen werden.
Marlows Sprechen wird als langsam und zögerlich beschrieben. Er erzählt seine Geschichte, während es dunkel wird und seine Gestalt langsam für seine Zuhörer verschwindet. "For a long time already he, sitting apart, had been no more to us than a voice." (HoD,S.50) Dies weist bereits auf Kurtz voraus, der mit fast den gleichen Worten beschrieben wird. Die gemeinsame Sprache Englisch ist ein Band zwischen Marlow und Kurtz. "This initiated wraith from the back of Nowhere honoured me with its amazing confidence before it vanished altogether. This was because it could speak English to me." (HoD,S.82)
Marlows Haltung zu Kurtz ist zwiespältig. Einerseits sagt er, "...Mr. Kurtz was no idol of mine." (HoD,S.95) Doch andererseits befindet er sich in einem merkwürdigen, der Metaphorik nach beinahe schicksalhaften Abhängigkeitsverhältnis von Kurtz. "...it was ordered I should never betray him - it was written I should be loyal to the nightmare of my choice." (HoD,S.104) Daraus rührt wohl auch Marlows ambige Schilderung von Kurtzens gewaltiger Eloquenz:
...his ability to talk, his words - the gift of expression, the bewildering, the illuminating, the most exalted and the most contemptible, the pulsating stream of light, or the deceitful flow from the heart of an impenetrable darkness. (HoD,S.79)
In Kurtz verbinden sich die Faszination Waits und die Eloquenz Donkins. Wie schon bei Donkin, wählt Conrad auch hier die dem Wasser zugehörigen Metaphern "stream" und "flow", um Redegewandtheit zu schildern. Nach Seeber ist Marlows gebrochene Haltung, die zwischen Anziehung und Widerwillen schwankt, typisch für das Erlebnis der Faszination.
Anthony Fothergill merkt an, daß die chronologische Reihenfolge der Begegnung mit dem Russen und dem Lesen des Pamphlets in der Erzählung Marlows vertauscht ist. Dieser berichtet zuerst von seiner Begeisterung über Kurtzens Rhetorik und dann von seiner ärgerlichen Reaktion auf die fanatische Liebe des Russen zu Kurtz. Dies stellt eine Parallele zwischen ihm und dem Russen her. "His brusque and repelled reaction to the Russian, on one level explicable as moral contempt, might on another stem from (...) a shocked disdain for what he fears to trace in himself." (76)
Es gelingt Marlow nicht, dem Leser seine Begeisterung für die Redegewandtheit des Herrn Kurtz verständlich zu machen. Die wenigen Sätze, die von Kurtz in direkter Rede zitiert werden, sind alltäglich und banal. Diese Diskrepanz, diese Distanz zu Kurtz ist laut Seeber eine der Bedingungen für Faszination. (77) Marlow ist sich der Diskrepanz bewußt zwischen dem, was er berichten kann und dem, was er empfunden hat.
I've been telling you what we said - repeating the phrases we pronounced, - but what's the good? They were common everyday words - the familiar, vague sounds exchanged on every waking day of life. But what of that? They had behind them, to my mind, the terrific suggestiveness of words heard in dreams, of phrases spoken in nightmares. (HoD,S.107)
Man fragt sich, was fasziniert Marlow so an Kurtz und seiner Stimme? Wieso antizipiert er Kurtz als personifizierte Stimme, noch bevor er ihn je gehört hat?
Vielleicht ist er auf der Suche nach einer Stimme, die im Gegensatz steht zu dem Geschnatter und Geflüster der Pilger (vgl. Kapitel 4.3) und den wilden Schreien der Eingeborenen (vgl. 4.4). Einer klaren Stimme, die das Unverständliche erklärt. Die Stimme von Kurtz "is the voice Marlow needs, in order to transmit the meanings of the incomprehensible frenzy." (78) Doch was findet Marlow wirklich in Kurtz? Keine Stimme, die ihn aus seinen Alpträumen risse, sondern eine, die für ihn zu einem Alptraum wird. Er glaubt, sich mit der Lüge gegenüber der Verlobten von Kurtzens Stimme befreit zu haben. "I laid the ghost of his gifts at last with a lie,..." (HoD,S.80) Doch die Stimmen jener Zeit verfolgen ihn immer noch: "... the memory of that time itself lingers around me, impalpable, like a dying vibration of one immense jabber,..." (ebd.)
Marlow hat es nicht geschafft, sich von Kurtz zu befreien. Dazu ist er ihm zu ähnlich. Beide werden auf ihre Stimme reduziert, und beide sind Meister der Sprache, Kurtz als Redner, Marlow als Erzähler. Als Marlow das Haus der Verlobten betritt, sieht er in der Glaswand statt seines eigenen Spiegelbilds das Antlitz von Kurtz. Diese Szene enthält Anklänge an das alte Motiv des Doppelgängers, bei dem das Ich in eine gute und eine böse Hälfte gespalten wird. Die eine Hälfte der Persönlichkeit steckt dann häufig im Schatten, im Spiegelbild oder in einem Portrait. "Marlow discovers his mirror image, the image of himself as he would be if he were unfettered by inhibitions (..) Kurtz is but a name for the fascination of forbidden desires.." (79) Erinnern wir uns an das Zitat von Weiss in Kapitel 2.2.: Hier wurde die körperlose Stimme definiert als die Projektion verbotener Gedanken und unaussprechlicher Begierden. Nun erklärt sich die Faszination von Marlow für die Stimme von Kurtz noch in einer anderen Weise.
Doch zurück zur Erzählsituation auf der "Nellie". Der Rahmenerzähler beschreibt Marlows Erzählweise so: "...this narrative that seemed to shape itself without human lips in the heavy night-air of the river." (HoD,S.50) Die Geschichte scheint sich ohne die Hilfe menschlicher Lippen zu erzählen. Ist es die Nacht, die hier erzählt? Oder vielmehr der Geist von Kurtz, der aus Marlow spricht? Auf jeden Fall löst sich die Stimme Marlows von seinem Körper.
Als Marlow die wilden Stimmen der Schwarzen am Strand beschreibt, sagt er: "An appeal to me in this fiendish row - is there? Very well; I hear; I admit, but I have a voice too, and for good or evil mine is the speech that cannot be silenced." (HoD,S.63)
Dreimal benutzt er hier das Präsens. Die Stimmen und die damaligen Gefühle sind also immer noch präsent. Doch er hält mit seiner Stimme dagegen - "I have a voice too." Marlow verarbeitet seine Erinnerungen, indem er erzählt, wie Kurtz losgelöst von moralischen Kriterien ("for good or evil"). Dabei kümmert ihn nicht besonders, ob jemand ihm zuhört. Erzählen also als eine Art Therapie, um die alten Gespenster, die alten Stimmen, endlich loszuwerden. Doch gerade dadurch beschwört er sie auch wieder herauf.
4.2 Kurtz
Kurtz hatte große Ideale, die er als Elfenbeinhändler verwirklichen wollte. "Each station should be like a beacon on the road towards better things, a centre for trade of course, but also for humanising, improving, instructing." (HoD,S.58) Humanisierung, Verbesserung, Erziehung - mit anderen Worten, das Licht der Aufklärung ist es, das Kurtz in den afrikanischen Dschungel bringen wollte. Doch wie die Fackel, die die Frau auf seinem Gemälde trägt, verbundene Augen enthüllt, so wurde nur Kurtzens eigene Blindheit offenbar. Erinnern wir uns, wie Marlow am Anfang der Erzählung römischen Imperialismus charakterisiert hatte: "It was just robbery with violence, aggravated murder on a great scale and men going at it blind - as is very proper for those who tackle a darkness." (HoD,S.20)
Die Wildnis brachte in Kurtz seine innersten Begierden zum Vorschein, die er hemmungslos auslebte. Seine Gier nach Macht und vor allem - Elfenbein. Er läßt sich anbeten, ist Mittelpunkt unaussprechlicher Rituale und läßt "Rebellen", wie der junge Russe sie nennt, hinrichten und ihre Köpfe zur Abschreckung auf Pfähle stecken. Mit Hilfe eines Stammes, der ihn als Gott verehrt, beutet er das Land aus und häuft Unmengen von Elfenbein an. Und langsam wird er selbst zu Elfenbein. "The wilderness had patted him on the head, and, behold, it was like a ball - an ivory ball,..." (HoD,S.81)
In der Unterhaltung zwischen dem "Manager" und seinem Onkel, die Marlow heimlich belauscht, dreht sich alles um Kurtz, doch sein Name wird nicht genannt, als sei das Aussprechen seines Namens ein Tabu. Sein Name scheint eine magische Qualität zu haben, wie der eines Gottes oder eines Dämons. Durch diese Unterhaltung flüsternder Stimmen wird Marlows Interesse an Kurtz geweckt. Sein Name braucht also nicht einmal ausgesprochen zu werden, trotzdem wirkt er auf Marlow bereits faszinierend.
Kurtz hat eine herausragende Begabung - seine ungeheure Redegewandtheit. Seine Rhetorik ist so bestechend, daß sie den jungen Russen völlig in ihren Bann schlägt und auch Marlow für sich einnimmt. Kurtz ist der geborene Führer, der kraft seiner Rhetorik die Massen in seinen Bann schlagen kann. "He electrified large meetings. (...) He could get himself to believe anything - anything." (HoD,S.116) Auf den Inhalt kommt es also nicht so sehr an. Kurtz steht für eine Rhetorik der Menschheitsbeglückung, die auch ein Kennzeichen imperialistischer Politik war. (Vgl. das Zitat von Leopold II. am Anfang des nächsten Kapitels). Worte wie Freiheit und Liebe werden zu leeren Worthülsen. "Marlow invokes the colonial lie that the blacks were not slaves but free men, paid for their labour, by 'calling' them 'free as air - and nearly as thin.'" (80)
Marlow weist häufiger auf die Verlogenheit imperialistischer Bezeichnungen für die Schwarzen wie Feinde, Kriminelle oder Rebellen hin. Das sind für ihn leere Namen, bedeutungslose Definitionen.
Auch das Pamphlet, das Kurtz für die "International Society for the Supression of Savage Costums" verfaßt hat, ist von brillianter Rhetorik. Doch der später hinzugefügte Satz "Exterminate all the brutes!" (HoD,S.84) fegt die schöne Rhetorik weg und läßt nichts als Entsetzen zurück.
Da Kurtz von so gewaltiger Redegewandtheit ist, liegt ein großes Augenmerk auf seiner Stimme, ja er wird sogar auf seine Stimme reduziert. "The man presented himself as a voice." (HoD,S.79) "He was very little more than a voice." (HoD,S.80) Sein Körper dagegen wird als Geist, Schatten, Phantom, Elfenbeinskelett, ja sogar als Dunst bezeichnet. "He rose, unsteady, long, pale, indistinct, like a vapour, exhaled by the earth,..." (HoD,S.105) Und wie James Wait ist er innerlich hohl, so daß die Stimme der Wildnis umso lauter in ihm widerhallen kann. "It echoed loudly within him because he was hollow at the core." (HoD,S.95)
Da Kurtz seine Redegewandtheit nur aus egoistischen Gründen benutzt, wird er zu einem "tönenden Erz, einer klingenden Schelle" (Luther), er wird zu Nichts. "Though I speak with the tongues of angles, and have not charity, I am become as sounding brass (...), I am nothing." (1. Korinther 13, 1f.)(81) Kurtz ist eine Stimme, "crying in the wilderness" (Markus 1,3), doch im Unterschied zu Jesus, der der Versuchung des Teufels widersteht (Markus 1,13), verfällt Kurtz der Versuchung der Wildnis. (82)
Kurtz steht in einer komplizierten Beziehung zur Wildnis. Er ist ihr Kind, denn sie tätschelt seinen Kopf ("...patted him on the head..." (HoD,S.81) und zieht ihn an ihre Brust ("...seemed to draw him to its pitiless breast..." (HoD,S.107). Aber er ist auch ihr Geliebter, denn sie nimmt, liebkost, umarmt und küßt ihn. In diese Liebesbeziehung mischen sich jedoch auch kannibalische Aspekte. Die Wildnis dringt in seine Adern ein und verzehrt sein Fleisch. Sie ist also in ihm und er ist sie. Das ist auch in seiner Stimme hörbar.
The volume of tone he emitted without effort, almost without the trouble of moving his lips, amazed me. A voice! a voice! It was grave, profound, vibrating, while the man did not seem capable of a whisper. (HoD,S.98)
Sein Körper ist schwach und abgezehrt, kaum fähig zu flüstern, doch seine Stimme ist stark wie eh und je. Dies weist darauf hin, daß die Wildnis durch ihn spricht. Manchmal scheint sie sich seiner Stimme gegen seinen Willen zu bedienen. Als Marlow ihn fragt, ob er die verzweifelten Abschiedsrufe der Schwarzen verstehe, heißt es: " 'Do I not?' he said slowly, gasping, as if the words had been torn out of him by a supernatural power." (HoD,S.109)
Sein Todesschrei jedoch verschließt sich jeder Interpretation, bleibt eine Leerstelle. "He cried in a whisper at some image, at some vision, - he cried out twice, a cry that was not more than a breath - 'The horror! The horror!'" (HoD,S.12) Ein geflüsterter Schrei ist das letzte, was von Kurtz bleibt, ein Paradoxon, Ausdruck eines Lebens, das voller Widersprüche war. Die Beschreibung seiner Stimme macht den Vorgang noch gespenstischer, aber seine Worte nicht verständlicher. Denn der Ton, in dem sie gesprochen werden, bleibt unklar. Ist es ein Triumphschrei oder ein Verzweiflungsschrei?
The mission which the agents of the State have to accomplish on the Congo is a noble one. They have to continue the development of civilization in the centre of Equatorial Africa, receiving their inspiration directly from Berlin and Brussels. Placed face to face with primitive barbarism, grappling with sanguinary customs that date back thousands of years, they are obliged to reduce these gradually. They must accustom the population to general laws, of which the most needful and the most salutary is that of work.
König Leopold II. von Belgien, 1898 (83)
Die Handelsvertreter Leopolds sind also in einer edlen Mission unterwegs. Sie sollen den barbarischen, unmenschlichen Eingeborenen das Licht der Zivilisation bringen. Sie Apostel oder Gesandte zu nennen, hätte also nahegelegen. Doch nur Marlow und Kurtz werden so bezeichnet. Marlow nennt sich selbst "something like an emissary of light, something like a lower sort of apostle". (HoD,S.28) Damit ironisiert er den Idealismus seiner Tante. Kurtz wird vom "Brickmaker" so genannt: "He is an emissary of pity, and science, and progress, and devil knows what else." (HoD,S.47) Wieder eine Parallele zwischen Marlow und Kurtz!
Doch die anderen Agenten werden als Pilger bezeichnet, nicht als Apostel. Sie sind nicht als Gesandte in die Wildnis gegangen, sondern als Wallfahrende, wie Bunyans Christian in The Pilgrim's Progress und Chaucers Reisegesellschaft. Doch was ist der Wallfahrtsort unserer Pilger, was ihr Gott? Ihr Gott ist der gleiche wie der von Kurtz, nämlich das Elfenbein. "The word 'ivory' rang in the air, was whispered, was sighed. You would think they were praying to it." (HoD,S.44) Wie andere Pilger auf ihrer Pilgerfahrt Rosenkränze beten, so seufzen und wispern diese "faithless pilgrims" (HoD,S.44) "Elfenbein, Elfenbein". Und treffen sie auf Glaubensgenossen, so ist die Luft erfüllt vom Rauschen des Wortes "Ivory". (Vgl. HoD,S.61) Als ihren Wallfahrtsort kann man wohl die Innere Station sehen, das Herz der Finsternis, aus der das meiste Elfenbein kommt, und wo Kurtz große Mengen davon zusammengerafft hat.
Wir wollen nun einen Blick auf die einzelnen ehrenwerten Herren werfen. Der erste, dem Marlow im Kongo begegnet, ist der "Chief Accountant". Er ist ein Bürokrat des Todes. Nur wenige Schritte vom Todeshain, in den sich zu Tode geschundene Eingeborene zum Sterben zurückziehen, sitzt er, ganz in weiß, "making correct entries of perfectly correct transactions". (HoD,S.38) Diese Stelle ist wohl die gnadenloseste Charakterisierung des Imperialismus und seiner tödlichen Folgen. Die Stimme des "Chief Accountant", der wie eine Frisierpuppe aussieht, wird überhaupt nicht beschrieben, eine Ausnahme in Heart of Darkness. Er flüstert weder, noch schreit oder stottert er. Er läßt nichts an sich herankommen, arbeitet wie ein Automat, nur vom Stöhnen seines sterbenden Kollegen fühlt er sich etwas in seiner Konzentration beeinträchtigt.
Die Stimme des "Managers" ist genauso gewöhnlich wie sein Aussehen und sein Auftreten. Trotzdem flößt er Marlow Unbehagen ein, der vermutet, daß er innerlich hohl ist und ihn für einen "chattering idiot" hält (HoD,S.43). Während der Fahrt zu Kurtz und später versucht der "Manager", Marlow durch vertrauliches Flüstern auf seine Seite zu ziehen. Kurtzens Methoden hält er für ungesund, aber nicht aus moralischen Gründen, sondern weil die Zeit dafür noch nicht reif sei. Entsetzt wendet sich Marlow von ihm ab und Kurtz zu, der wenigstens einmal Ideale hatte, wenn er auch schrecklich gescheitert ist.
Der Onkel des "Managers" hat keine Skrupel in Bezug auf ungesunde Methoden. Er hält alles für machbar und erlaubt. Den jungen Russen, der der unauffälligen Beseitigung von Kurtz im Weg steht, will er hängen. Seine Stimme wird wie eine rauhe Tierstimme beschrieben, mit Verben wie "grunt", das an ein Schwein erinnert, und "growl", das an einen Bären oder Hund erinnert. Auch sein Ende ist das eines - nicht sehr wertvollen - Tieres. Die Eldorado-Expedition, der er angehört, geht in der Wildnis verloren. "Long afterwards the news came that all the donkeys were dead. I know nothing as to the fate of the less valuable animals." (HoD,S.59)
Die Stimme des "Brickmaker" schließlich wird als bissiges Gezischel bezeichnet ("scathing murmur" HoD,S.48). Er spricht überstürzt, und sein Geschnatter über sich selbst wird mit der drückenden Stimme der Wildnis kontrastiert. Auch er ist innerlich hohl.
So sehen Leopolds edle Handelsvertreter in Heart of Darkness aus. Ihre Stimmen sind oft in der Lautstärke reduziert, wie in der Nebelszene, als ihre hohlen Körper durch den Nebel unsichtbar werden und Verben wie "murmur", "mutter" und "whisper" fallen. Oder ihre Stimmen sind nicht mehr menschlich, sie grunzen und knurren. Häufig ist auch die Artikulationsfähigkeit der Pilger und der Sinngehalt ihrer Äußerungen reduziert, sie stottern, stammeln und schnattern.
Eine auffällige Parallele dazu sind die Stimmen der "Nellie"-Besatzung, also der Zuhörer Marlows. (84) Zweimal beschreibt der unbekannte Rahmenerzähler die Stimmen der Zuhörer mit den Verben "grunt" bzw. "growl". (Vgl. HoD,S.18 und 60). Und zweimal unterbricht Marlow seine Erzählung und fragt: "Who's that grunting?" (HoD,S.63) bzw. "Why do you sigh in this beastly way somebody?" (HoD,S.79)
Die Stimmen von Marlows Zuhörerschaft sind nicht mehr menschlich. Sie unterscheiden sich nicht von den Kongo-Handelsvertretern. Ihre Stimmen sind jedoch nicht das einzige, was die Besatzung abwertet. Der "Lawyer" hat das einzige Kissen und die einzige Decke an Bord mit Beschlag belegt. "The lawyer symbolizes corruption by possession (...), which links up with Kurtz's craze for possession." (85) Und der "Accountant" spielt mit Dominosteinen, die zu jener Zeit meist aus Elfenbein gefertigt waren. Zwei große Motive klingen also hier bereits an, die Gier nach Besitz und das Elfenbein. Marlow ist noch immer von den gleichen Charakteren umgeben wie im Kongo, nichts hat sich für ihn geändert. Die Stimmen sind immer noch um ihn, in seinem Kopf, aber auch in der Realität.
4.4 Die Eingeborenen
Suddenly there was a growing murmur of voices and a great tramping of feet. A caravan had come in. A violent babble of uncouth sounds burst out on the other side of the planks. All the carriers were speaking together, ... (HoD,S.38)
Ungestüm, sinnlos und grob, so beschreibt Marlow die Sprache der schwarzen Träger. Alle sprechen durcheinander, es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm.
Nach der Abfahrt von der Zentralstation, immer tiefer ins Herz der Finsternis vordringend, treffen Marlow und die Pilger auf ein Eingeborenendorf.
But suddenly, as we struggled round a bend, there would be a glimpse of rush walls, of peaked grass-roofs, a burst of yells, a whirl of black limbs, a mass of hands clapping, of feet stamping, of bodies swaying, of eyes rolling, under the droop of heavy and motionless foliage. The steamer toiled along slowly on the edge of a black and incomprehensible frenzy. The prehistoric man was cursing us, praying to us, welcoming us - who could tell? (HoD,S.62)
Die Schwarzen sind als Masse dargestellt, nicht als Individuen. Sie schreien, klatschen, stampfen und rollen die Augen. Diese unverständliche Raserei wird kontrastiert mit dem schweren und unbeweglichen Laubwerk, das die Szenerie halb verdeckt und nur versteckte Einblicke gewährt. Hier wird klar, daß keinerlei Kommunikation zwischen Schwarz und Weiß möglich ist. Die Weißen können nicht erkennen, ob sie verflucht, angebetet oder willkommengeheißen werden.
Marlow beschreibt den Tod seines "helmsman" so: "I declare it looked as though he would presently put to us some question in an understandable language; but he died without uttering a sound..." (HoD,S.78) Damit impliziert Marlow nicht nur, daß er keine Möglichkeit der Kommunikation sieht, sondern er spricht den Schwarzen ab, daß irgend jemand ihre Sprache verstehen kann, es ist eine unverständliche Sprache.
Bei einer solchen Einstellung ist es nicht verwunderlich, daß die Sprache und die Gesänge der Eingeborenen auf Marlow einen satanischen Eindruck machen. Als Kurtz versucht, nachts das Lager des Stammes zu erreichen, haben wir folgende Lautkulisse:
The monotonous beating of a big drum filled the air with muffled shocks and a lingering vibration. A steady droning sound of many men chanting each to himself some weird incantation came out from the black, flat wall of the woods as the humming of bees comes out of a hive, and had a strange narcotic effect upon my half-awake senses. I believe I dozed off leaning over the rail, till an abrupt burst of yells, an overwhelming outbreak of a pent-up and mysterious frenzy, woke me up in a bewildered wonder. I was cut short all at once, and the low droning went on with an effect of audible and soothing silence. (HoD,S.104)
Die Schwarzen scheinen ein Ritual zu feiern. Ihre Töne erinnern zuerst an das Gebrumme eines Bienenstocks, einschläfernd und beruhigend. Dann ein starker Kontrast: laute Schreie, eine aufgewühlte und geheimnisvolle Raserei andeutend, die Marlow aus seinem Dämmerzustand reißt.
Als Marlow und die Pilger schließlich mit dem todkranken Kurtz die innere Station verlassen, überflutet eine Masse schwarzer Leiber das Flußufer. Drei gehörnte Männer, offensichtlich eine Art Medizinmänner, versuchen die Abfahrt Kurtzens auf dem Dampfboot zu verhindern, das sie für einen kreischenden, Rauch spuckenden Flußdämon halten.
They shouted periodically together strings of amazing words that resembled no sounds of human language; and the deep murmurs of the crowd, interrupted suddenly, were like the responses of some satanic litany. (HoD,S.108)
Bis jetzt läßt sich zusammenfassen, daß die Eingeborenen als schwarze Masse auftreten und laut schreiend oder satanisch vor sich hinmurmelnd unverständliche und unmenschliche Laute von sich geben.
Es gibt jedoch zwei Stellen im Buch, wo Schwarze eine verständliche Sprache erhalten, wo sie sogar zwei Sätze Englisch sprechen. Das ist zum einen die Stelle, an der der "Boy" des "Managers" verkündet, Kurtz sei tot. "Mistah Kurtz - he dead." (HoD,S.112) Dieser Satz, von Eliot als Epitaph für sein Gedicht "The Hollow Men" gewählt, erfüllt das gängige Klischee des ungrammatischen Sprechens, das auf Schwarze angewendet wird. Es ist kein Zufall, daß gerade ein Schwarzer den Tod von Kurtz verkündet. Achebe meint dazu:
As for the announcement of Mr. Kurtz's death by the 'insolent black head in the doorway' what better or more appropriate finis could be written to the horror story of that wayward child of civilization who willfully had given his soul to the powers of darkness and 'taken a high seat amongst the devils of the land' than the proclamation of his physical death by the forces he had joined? (86)
Die zweite Stelle, an der ein Eingeborener Englisch spricht, ist Marlows Dialog mit dem Anführer der Kannibalen-Crew.
Aha!" I said, just for good fellowship's sake. "Catch 'im', he snapped, with a bloodshot widening of his eyes and a flash of sharp teeth - "Catch 'im. Give 'im to us." "To you, eh?" I asked; "what would you do with them?" "Eat 'im! (HoD,S.69)
Dieser Dialog bestätigt das Bild, das sich der weiße Europäer bei der Lektüre von Robinson Crusoe vom Eingeborenen als brutalen Menschenfresser gemacht hatte. Hier spielt Conrad jedoch mit der Lesererwartung. Im folgenden wird nämlich das Vorurteil gegenüber Kannibalen widerlegt. Marlow wundert sich über deren Selbstbeherrschung und kann sich nicht erklären, warum sie in ihrem Hunger nicht einfach über die Pilger herfallen, die ihnen hoffnungslos unterlegen wären. Welch ein Unterschied zu Kurtz, der Zurückhaltung ("restraint") nicht kennt! Er ist der wahre Kannibale in Heart of Darkness. "I saw him open his mouth wide - it gave him a weirdly voracious aspect, as though he wanted to swallow all the air, all the earth, all the men before him." (HoD,S.97)
Dies ist jedoch die einzige Stelle, an der die klischeehafte Darstellung von Schwarzen durchbrochen wird. Conrad verurteilt zwar die imperialistische Ausbeutung der Schwarzen, aber er bedient mit seiner Darstellung von Afrika als einem Bild der unmenschlichen, wilden Menschheit gängige rassistische Klischees, was sich, wie wir gesehen haben, an der Beschreibung der Stimmen besonders gut aufzeigen läßt. Conrad war im gängigen Diskurs seiner Zeit gefangen. Edward Said beschreibt dies so:
By that I mean that Heart of Darkness works so effectively because its politics and aesthetics are, so to speak, imperialist, which in the closing years of the nineteenth century seemed to be at the same time an aesthetic, politics, and even epistemology inevitable and unavoidable. (87)
4.5 Der Russe
Der junge Russe ist der einzige Weiße, der noch bei Kurtz auf der Inneren Station lebt. Gekleidet ist er in eine Art Narrengewand, mit vielen bunten Flecken, die an die Afrikakarte zu Beginn des Buches erinnern, auf der die Eigentumsgebiete der verschiedenen Nationen farblich abgegrenzt waren. Er ist Kurtzens Hofnarr, doch im Unterschied zu Lears Narr, der mit seiner Mißbilligung über dessen Taten nicht hinterm Berg hält, betet der junge Russe Kurtz an. Es wird sogar eine homoerotische Beziehung zwischen den beiden angedeutet. " 'A, he talked to you of love!' I said, much amused. 'It isn't what you think,' he cried, almost passionately. 'It was in general. He make me see things - things.' He threw his arms up. (HoD,S.91)
Diese Geste stellt den jungen Russen in eine Reihe mit der schwarzen Geliebten und der Verlobten. Allen dreien ist das leidenschaftliche Hochstrecken der Arme gemeinsam. So würde sich auch die Eifersuchtsszene erklären, die die Schwarze Kurtz wegen des Russen macht.
Der Russe verehrt Kurtz wegen seiner Redegewandtheit. "Kurtz wanted an audience" (HoD,S.91), und wie die Verlobte, so ist wohl auch der Russe "ready to listen" (HoD,S.117). Dies erinnert an Kahanes These, daß der männliche Zuhörer feminisiert wird, da in unserer Kultur die zuhörende Rolle als die weibliche definiert ist.
Und noch eine Gemeinsamkeit gibt es zwischen dem Russen und der Verlobten. Sie vertrauen beide Marlow ihre Liebe und Sorge um Kurtz an und fallen, an Sprechen nicht gewöhnt, in schnelles, leidenschaftliches Reden. Sie haben beide viel Sprechen nachzuholen. Die Verlobte "talked as thirsty men drink" (HoD,S.120); der Russe "rattled away at such a rate he quite overwhelmed me" (HoD,S.88). Er spricht gehetzt und unklar, von Gefühlen überwältigt stöhnt und stottert er, und schließlich verliert sich seine Stimme in der Stille des Abends.
Als er versucht, Marlow die Ereignisse mit Kurtz begreiflich zu machen, versagen seine Sprache und seine Stimme völlig. "This amazing tale that was not so much told, as suggested to me in desolate exclamations, completed by shrugs, in interrupted phrases, in hints ending in deep sighs." (HoD,S.93)
"Under the spell of Kurtz's eloquence, the disciple or Harlequin is found despoiled of his power of speech." (88) Bis jetzt wurden Parallelen zwischen dem Russen und der Verlobten herausgehoben. Doch beide haben auch manches mit Marlow gemeinsam. Alle drei sind faszinierte Zuhörer von Kurtz, und Marlow ist wie die Verlobte eine Art Echo fr ihn. London geht sogar soweit, Marlow als eine Art Ersatz fr die Verlobte zu sehen, da er zu dessen Vertrautem wird und sein Vermächtnis bewahrt. Außerdem kämpft er um die Seele von Kurtz und versucht ihn auf den Pfad der Tugend zurückzubringen. All dies sind klassisch weibliche Paradigmen. (89)
Mit dem Russen gemeinsam haben die Verlobte und Marlow die Vorliebe, von Kurtz zu sprechen. Marlow versagt manchmal die Stimme, ebenso wie dem jungen Russen, auch er ist aufgeregt und verwirrt, wenn die Sprache auf Kurtz kommt. "...it is the differences in Marlow's voice (its marks of disorder and excitability) that signal Kurtz's intermittent presence in the text." (90)
4.6 Die Verlobte
Die Verlobte von Kurtz ist eine Allegorie der Zivilisation und in allem das Gegenteil der schwarzen Geliebten, der "tenebrous and passionate soul" (HoD,S.99) der Wildnis. Jene ist die bunte, fruchtbare, erotische Verführerin, diese die bleiche, vergeistigte, schöne Seele. Jene ist Leben, diese ist Tod. Sie lebt in einer Art Gruft, hingegeben der Trauer um ihren Verlobten. Ein wuchtiger Flügel dominiert ihren Salon, eine Anspielung auf die Kurtzsche Elfenbeinsymbolik. Auch ihre Stirn, die glatt und weiß ist, erinnert an Kurtzens "ivory-head".
Ihre Stimme ist das Echo der Stimme von Kurtz. "... I heard once more, not his own voice, but the echo of his magnificent eloquence thrown to me from a soul as translucently pure as a cliff of crystal." (HoD,S.114)
Wie die Nymphe Echo, die aus tragischer Liebe zum herzlosen Narziß zur körperlosen Stimme wurde, so schwebt die Verlobte beinah körperlos herein, und da ihre Stimme das Echo der Stimme von Kurtz ist, spricht auch aus ihr die Wildnis.
...the sound of her low voice seemed to have the accompaniment of all the other sounds, full of mystery, desolation, and sorrow, I had ever heard - the ripple of the river, the soughing of the trees swayed by the wind, the murmurs of wild crowds, the faint ring of incomprehensible words cried from afar, the whisper of a voice speaking from beyond the threshold of an eternal darkness. (HoD,S.121)
Wieder einmal verwendet Conrad Naturmetaphorik, um eine Stimme zu beschreiben, wie sich dies auch im Nigger of the "Narcissus" oft fand.
Zu Anfang des Gesprächs mit der Verlobten spricht Marlow mit normaler Stimme, während ihre Stimme meist als leise beschrieben wird. Doch gegen Ende scheint Marlow sich ihrer Stimme anzupassen, seine Stimme wird als "muffled voice" bezeichnet und Verben wie "murmur" und "mumble" tauchen auf. Beide Stimmen ersticken im Ansturm der Gefühle, Sätze brechen ab und Wörter werden gestottert. Die Spannung, die sich durch die immer leiser werdenden Stimmen aufgebaut hat, löst sich schließlich im Schrei der Verlobten. ".. an exulting and terrible cry (...) of inconceivable triumph and unspeakable pain." (HoD,S.123) Dieser Schrei ist zugleich auch der Triumph- und Schmerzensschrei der Wildnis. War schon die Stimme der Verlobten ein Echo der Stimme von Kurtz, aus dem die Wildnis spricht, so stellt sie jetzt durch ihren Schrei, wie auch kurz zuvor durch ihre Gestik - die zum Himmel gereckten Arme - ihre Verwandtschaft mit der schwarzen Geliebten, der Seele der Wildnis, dar.
Durch seine Lüge, das letzte Wort von Kurtz sei der Name der Verlobten gewesen, bestätigt Marlow ihren Selbstbetrug. Er schafft es nicht, der Wildnis, der Finsternis die Wahrheit entgegenzusetzen. Denn diese Wahrheit, die doch eigentlich Licht ins Dunkel bringen sollte, wäre "too dark altogether." (HoD,S.123) Also siegt am Ende die Wildnis, "the triumphant darkness from which I could not have defended her - from which I could not even defend myself." (HoD,S.121) Marlows Glaube, mit der Lüge Kurtz endgültig losgeworden zu sein (vgl. 4.1), ist Selbstbetrug. Das letzte Wort der Erzählung ist "darkness".
4.7 Die Natur
Es sind nicht nur die Stimmen von Menschen, die durch Heart of Darkness tönen, sondern Gegenstände der Natur werden antropomorphisiert, indem sie eine Stimme erhalten.
"The voice of the surf heard now and then was a positive pleasure, like the speech of a brother. It was something natural, that had its reason, that had a meaning." (HoD,S.30) Die Stimme der Brandung erscheint Marlow vertraut, und er spricht ihr Bedeutung zu, im Unterschied zu den Stimmen der Schwarzen, die er fr unverständlich hält, wie wir gesehen haben.
Als das Boot vom Nebel eingeschlossen ist und auf einmal ein durchdringender Schrei ertönt, erklärt Marlow, "... to me it seemed as though the mist itself had screamed,..." (HoD,S.68)
Wenig später fängt ein Gebüsch zu heulen an: "The bush began to howl." (HoD,S.76)
Bei der Begegnung Marlows mit der Verlobten, flüstert die Dämmerung die letzten Worte von Kurtz. "The dusk was repeating them in a persistent whisper all around us, in a whisper that seemed to swell menacingly like the first whisper of a rising wind. 'The horror! The horror!'" (HoD,S.123)
Die Wildnis wird von Anfang an als menschliches Wesen, meist als Frau geschildert. Sie blickt auf die Eindringlinge, brütet vor sich hin, liebkost Kurtz und zieht ihn an ihre Brust. Ihre Stimme scheint die Wildnis jedoch im Laufe der Erzählung erst zu entwickeln, im Laufe der Annäherung an Kurtz! Auf der Zentralstation ist sie noch stumm:
All this was great, expectant, mute, while the man jabbered about himself. I wondered whether the stillness of the face of the immensity looking at us two were meant as an appeal or as a menace. What were we two who had strayed in here? Could we handle that dumb thing, or would it handle us? I felt how big, how confoundedly big, was that thing that could't talk, and perhaps was deaf as well. (HoD,S.49)
Dreimal wiederholt Marlow, daß die Wildnis keine Stimme hat: "mute", "dumb", "couldn't talk".
Als Marlow das Gespräch zwischen "Manager" und Onkel belauscht, hat er zum ersten Mal das Gefühl, Kurtz vor sich zu sehen. Am Ende des Gesprächs erwartet er eine Antwort der Wildnis auf die Geste des Onkels, die ihm als Herausforderung erscheint. "... I leaped to my feet and looked back at the edge of the forrest, as though I had expected an answer of some sort (...) You know the foolish notions that come to one sometimes." (HoD,S.58)
Hier tut er seine Gefühle noch als "foolish" ab, doch kurze Zeit später, als Marlow Kurtz zwar noch nicht begegnet ist, aber doch schon von ihm und seiner Stimme erzählt, erwartet er ernsthaft, die Wildnis lachen zu hören.
You should have heard him say, "My ivory." Oh yes, I heard him. "My intended, my ivory, my station, my river, my -" everything belonged to him. It made me hold my breath in expectation of hearing the wilderness burst into a prodigious peal of laughter that would shake the fixed stars in their place. (HoD,S.81)
Und schließlich, kurz bevor Marlow und Kurtz sich begegnen, findet die Wildnis ihre Stimme.
But the wildernis had found him out early, and had taken on him a terrible vengeance for the fantastic invasion. I think it had whispered to him things about himself which he did not know, things of which he had no conception till he took counsel with this great solitude - and the whisper had proved irresistibly fascinating. (HoD,S.95)
Hier spricht die Wildnis zu Kurtz, und wie in Kapitel 4.2 dargelegt, spricht sie auch aus ihm. Wenn also die schwarze Geliebte die Seele der Wildnis ist, so ist Kurtz ihre Stimme.
4.8 Zusammenfassung
Zur Charakterisierung wird die Stimme in Heart of Darkness kaum verwendet, lediglich die Pilger und die Besatzung der "Nellie" werden dadurch charakterlich zweifelhaft, daß sie grunzen wie Schweine oder schnattern wie Gänse.
Auffallend sind die starken Kontraste zwischen bedrückender Stille, dem wilden Heulen der Eingeborenen, dem Flüstern und Schnattern der Pilger, der Wildnis-Stimme von Kurtz mit ihrer brillianten, aber leeren Rhetorik und der klaren Stimme Marlows, die versucht, dagegenzuhalten und nicht unterzugehen.
Die Verwendung von Stimme zur Kommunikation scheitert. Es gibt keine Verständigungsmöglichkeit zwischen Schwarz und Weiß, auch Marlow und die Pilger sprechen buchstäblich nicht dieselbe Sprache. Sogar als Erzähler scheitert Marlow im Grunde. Er schafft es nicht, so zu erzählen, daß seine Zuhörer ihn verstehen. "You can't understand. How could you?" (HoD,S.81) "No, it is impossible; it is impossible to convey the life-sensation of any given epoch of one's existence - that which makes its truth, its meaning... We live, as we dream - alone..." (HoD,S.50) Mit sinnentleerten Wörtern kann man die Welt nicht mehr beschreiben.
Daß jegliche soziale Funktion von Sprache in der Wildnis fehlt, darauf weist Marlow selbst hin. Ohne die warnende Stimme eines Nachbarn, "whispering of public opinion" (HoD,S.82), ausgesetzt dem völligen Schweigen, fällt der Mensch auf die ihm innewohnende Kraft zurück, kommt sein wahres Wesen zum Vorschein.
In Heart of Darkness wird die Reduktion von Menschen auf ihre Stimmen zum zentralen Motiv.
A voice. He was very little more than a voice. And I heard - him - it - this voice - other voices - all of them were so little more than voices - and the memory of that time itself lingers around me, impalpable, like a dying vibration of one immense jabber, silly, atrocious, sordid, savage, or simply mean, without any kind of sense. Voices, voices... (HoD,S.80)
Stimmen sind die Eingeborenen, die das Auge kaum sieht, nur einzelne Körperteile werden hinter schwerem Laubwerk sichtbar oder der einzelne Körper geht in einer flutenden Masse unter. Stimmen auch die Pilger, deren Körper im Nebel unsichtbar werden. Kurtz ist durch Krankheit bis aufs Skelett abgezehrt und wird als Phantom, Schatten und Erscheinung beschrieben. Die einbrechende Dunkelheit macht Marlows Körper unsichtbar, die Nacht selbst scheint zu sprechen. Die Verlobte schwebt in den Raum, ein Schemen, die körperlose Nymphe Echo, die die Stimme von Kurtz reflektiert. Der Russe verliert beides - Körper und Stimme. Sein Körper zerfällt in Teile ("man of patches" HoD,S.100), und seine Stimme versagt vor der ungeheuren Eloquenz Kurtzens.
Diese Reduktion, Degradierung von Menschen, zuerst zu hohlen Puppen, dann zu körperlosen Stimmen findet ihre Gegenbewegung in der Anthropomorphisierung der Natur. Die Wildnis bekommt eine Stimme. Dadurch nähert sich der Mensch der Natur an, ebenso wie die häufig verwandte Naturmetaphorik bei Stimmbeschreibungen eine Parallele zwischen den Menschen und der Natur herstellt. Der zivilisierte Mensch wird wieder Teil der Wildnis, von der er nie so weit entfernt war, wie er immer geglaubt hatte.
Wie James Wait ist Kurtz innerlich hohl, also reine Oberfläche, Signifikant ohne Signifikat. Und wie in The Nigger of the "Narcissus" die Mannschaft ihre Ängste auf Wait projiziert, so wird Kurtz und vor allem seine Stimme zur Projektion von Marlows unterdrückten Begierden.
Zurück zu
The Nigger of the
"Narcissus" / Weiter zu Typhoon