Da der Briefwechsel der "Gläsernen Kette", seinem Konzept entsprechend, unveröffentlicht blieb, waren es neben den in Berlin und Weimar 1919, in Berlin 1920 ausgestellten Architekturen Finsterlins und einigen Abbildungen vor allem die seine Arbeit begleitenden architektonischen Essays, die Finsterlin Aufmerksamkeit gewinnen, aber auch Kritik und Verständnislosigkeit auslösen. Es sind dies in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung
1. die Antwort auf die Umfrage des "Arbeitsrates für Kunst" in "JA! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst".Mit diesen Publikationen verstummt Finsterlin zunächst einmal, und er gehorcht dabei sicherlich auch der Not, keine Publikationsmöglichkeit mehr zu finden. Man kann sogar davon ausgehen, daß Finsterlin seit 1922 keine weiteren Architekturessays geschrieben hat, zumal er seit 1921 mit der Entwicklung seiner Architekturbaukästen und dem Entwurf ihrer 'Spielregeln' vollauf beschäftigt war.
2. "Die Polarität der Weltliteratur."
3. "Der achte Tag", in Korrektur seines ursprünglichen Titels "§Der siebte Tag".
4. "Innenarchitektur" und
5. "Die Genesis der Weltarchitektur [...]"
Erst als 1924 die Zeitschrift "Wendingen" Finsterlin ein ganzes Heft widmet, entstehen wieder Architekturen und vielleicht in ihrem Zusammenhang auch noch einmal Architekturessays, darunter der in "Wendingen" publizierte Aufsatz
6. "Casa Nova. (Zukunftsarchitektur). Formenspiel und Feinbau", (194)dessen eingeklammerter Zweittitel eine Parallelbildung zu Wagners "Zukunftsmusik" sein dürfte. Man darf in seinem Fall, aus noch zu erörternden Gründen, wie für die im Typoskript überlieferten Essays
7. "Richtlinien" undeine Entstehungszeit bis 1922 spätestens annehmen, da mit "Die Genesis der Weltarchitektur[.. .]" noch 1921 die Kommentierung der Architekturbaukästen beginnt, die sich mit einem Essay zum
8. "Geringelt liegt die Schlange der Entwicklung im Mittag" (195)
9. "Formdomino" (196)fortsetzt, um danach ebenfalls abzubrechen. Vor allem die späteren Essays tragen, obwohl sie noch einmal versuchen, Finsterlins globalen Ansatz ins Wort zu zwingen, durchaus Züge der Resignation. Proklamierte die Antwort auf die Umfrage des "Arbeitsrates für Kunst" 1919 noch selbstbewußt den "Autodidaktismus", schrieb sie: "Der Künstler kann nur bei sich in die Schule gehen - Autodidaktismus - [...] Seelenschule",(197) setzt dies der Essay "Geringelt liegt die Schlange [...]" nur mehr in die Parenthese: "(denn die, bei uns leider schon zum Raritätswert reducierte Autodidaktenschicht wird schon aus der Polähnlichkeit heraus mit ihrer Seele dort fassen, wo der Spiegel des Verstandes alle Strahlungen zurückweist." (198)
In den 20er Jahren nachgedruckt wurde von diesen Essays ausschließlich "Casa Nova", und zwar in der wertkonservativen Zeitschrift "Mittelland. Ein Zeitspiegel", (199) zu deren Mitarbeitern Alfred Brust zählte, der diesen Nachdruck möglicherweise auch veranlaßte.
Diesselbe Zeitschrift veröffentlicht einen Monat später mit "Die Pyramide" auch einen zivilisationskritisch-kulturphilosophischen Essay Finsterlins, (200) in dessen Art es eine größere Anzahl gibt, und zwar in der mutmaßlichen Reihenfolge ihrer Niederschrift
1. "Das Ziel", datiert "Hornung 20",Bereits die Titel signalisieren, in welche Dimensionen Finsterlins philosophische Exkurse ausholen, welche Zeiträume sie zu überbrücken versuchen.
2. ein Essay ohne Titel, für den ein späterer handschriftlicher Zusatz die Überschrift "Der grüne Star" überlegt,
3. ein im Typoskript "München, den 24.Juli 1922" datierter Essay "Der Geysir",
4. "Feinschau",
5. "Der neue Apoll" (ein durchaus programmatisch gemeinter Titel),
6. einzig publiziert, "Die Pyramide",
7. und schon erwähnt, "Das Midasohr" und
8. "Babel".
"Freuet Euch, freuet Euch und lobet
den Herrn", psalmodiert zum Beispiel "Die Pvramide", "denn auferstanden
ist Tutanchamon, der Herrscher der 37. Dynastie, geboren am 13. Sirius
des Jahres 4066 v.Chr., gestorben und begraben im Skarabäusjahre der
7. Calpa. Im geschwollenen Strome des Roa schwimmt die unendlich aufgedunsene
Wasserleiche, vergiftend alle Ufersiedler an diesem von
einem teuflischen Hippogryphen neuentquellten
Gewässer."
Und er fährt, ganz im prophetischen Tone der Architekturessays ("Wahrlich, ich sage Euch") fort im großen Entwurf, um schließlich bei der schon einmal erwähnten Trimurti, ihrem gestörten Gleichgewicht zu landen, auch wenn er es diesmal personell anders besetzt:
"Glaubet mir, Wischnu, der Erhalter ist der gefährlichste der drei indischen Welthüter, er war der Zwischenwert der beiden großen Pole, er der große Mittelmäßige, vielleicht ein nötiges Ventil, eine kleine Unruh der Weltenuhr, ohne die sie längst abgerasselt wäre im Übermut eines polaren Gefälles. Aber wehe, wenn dieses notwendige Übel, der ganesische Elephantengott der Hindernisse wahrhaft zum Elephanten auswuchert, da sproßt kein Kräutlein Vergessen mehr, das einzige Arkanum wider die Selbstvergiftung der Kreatur. Drum haltet offen Euer Auge, Brahma und Shiva, daß Euer Knecht nicht sich zum Herrn aufheuchle, während Ihr versunken seid im Rausche Eurer Göttlichkeit."
Auch diese Essays stehen wie das ganze Werk Finsterlins unter dem Gedanken einer Kultur- und Menschheitswende, variieren mehr oder weniger, was bereits die Architekturessays vortrugen, und haben vielfache Entsprechung im literarischen oder bildnerischen Werk. Fast könnte man sagen, daß Begriffe wie Geysir, Apollo, Babel wandernde Metaphern sind, Reizwörter, die sich in ständiger Variation wie die Amöbe, eine weitere dieser Metaphern, einstellen können, um sofort in die unterschiedlichsten Kontexte auszuwuchern.
So begegnet die Babel-Metapher bereits in einem Gedicht des gerade Zwanzigjährigen:
Damit wir uns einen Namen machen!"Formuliert dieses scherzhafte Gedicht noch Skrupel gegenüber dem eigenen Anspruch, sich einen Namen zu machen, das Besondere zu wollen, im gleichnamigen Essay ist "Babel" Metapher für etwas zu Zerstörendes, ein "kindischer, verderblicher, wahnschwangerer Turm", den es einzureißen gelte als "Schandmal der gewaltigsten Niederlage der Menschenkinder im prometheischen Kampfe wider einen falschen stief-väterlichen Gott."
So riefen die Geister in mir,
Und bauten den Turm zu Babel.
-------------------
Den Himmel verletzt und der Sterne Glut,
Die Sprache verwirrt,
Der Turm in Schutt,
Die Trümmer verschleppt in die Wüste,
Im Königsgrab lag ein versteinertes Herz,
Das fand ein Kater im Frühlingsschmerz,
Der hat es verschleppt zu der Leute Scherz
In eine Champagnerkiste. (201)
Was der Essay dann prophetisch herbeiruft ("Wahrlich, ich sage Euch"), ist ein erneutes Paradies, das bis in Formulierungen hinein auf "Das höchste Lied" zurückverweist:
"Als erste und radikale Forderung aber noch und noch einmal: der Verzicht auf das Heer von 'Lebensvertretern', Stafettenläufern der Personen und Stämme und als vorderhand unumgängliches Hilfsmittel hierzu eine ausgebaute Praeservativtechnik, denn die Beschränkung der Liebessymphonie, dieses ursprünglichsten, vollwertigsten, unverlierbarsten, allgegenwärtigen Paradiesrestes wäre ein Ausschütten des Bades mit dem Kinde, - wäre eine Vernichtung des grundlegendsten Betriebskapitales für die Schöpfung einer göttlichen entleideten Menschheitserde."
Vielleicht liegt im Rückbezug dieses um 1922 entstandenen Essays auf "Das höchste Lied" auch eine Erklärung für die Lienemann und Weidner folgende Angabe "erotophilosophischer Essays" für 1922. Richtiger wäre es gewesen, zu sagen, daß sich um diese Zeit ein Kreis schließt. Und Finsterlin hat es wohl selbst so gesehen, als er um 1925 seine zivilisationskritisch kulturphilosophischen Essays ordnete und einbinden ließ, denn in seiner damaligen Anordnung ließ er auf "Babel" "Das höchste Lied" folgen.
< Ein dadaistisches Zwischenspiel | Die Gläserne Kette zerbricht >