Reinhard Döhl: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung / 23
Die Gläserne Kette zerbricht

Als sich im Mai 1921 der revolutionäre "Arbeitsrat für Kunst" auflöste, als die Architekturfreunde Finsterlins Anfang 1921 durch die bei sich wieder einstellenden Bauaufträge auf den Boden der Tatsachen und des Machbaren zurückfanden und das Bauhaus dem Baugedanken konstruktivere Zügel anzulegen begann, stand Finsterlin mit seinen utopischen Gedanken und Entwürfen, von denen er nicht lassen konnte und wollte, allein. Promeths Aufforderung vom 24. Dezember 1920 - "Am Tag der werdenden irdischen Sonne laßt uns gedenken unseres Sein's und Wollen's, und erneuern den Schwur unserer Bruderschaft, zu sein und zu bleiben ein reinster Wurf der einzigen ewigen Gottheit" (202) - blieb ohne Echo. Die "Gläserne Kette" war zerbrochen.

Zwar lassen sich die 4 Hefte der von Bruno Taut in Magdeburg herausgegebenen 2. Folge des "Frühlichts" 1921/1922 zunächst noch als eine Fortsetzung der "Gläsernen Kette" auf anderer Ebene lesen, aber im vierten und letzten Heft dieser Folge, im Sommer 1922, herrscht in den Aufsätzen Martin Mächlers ("Neubau"), Mies van der Rohes ("Hochhäuser") und Jacobus Johannes Pieter Ouds ("Über die zukünftige Baukunst und ihre architektonischen Möglichkeiten") bereits ein neuer Geist:

"Zusammenfassend läßt sich folgern, daß eine sich rationell auf die heutigen Lebensumstände gründende Baukunst in jeder Hinsicht einen Gegensatz zu der bisherigen Baukunst bilden wird. Ohne in dürren Rationalismus zu verfallen, wird sie vor allem sachlich sein, in dieser Sachlichkeit jedoch schon sofort das Höhere erleben. Im schärfstmöglichen Gegensatz zu den untechnischen, form- und farblosen Erzeugnissen augenblicklicher Eingebung, so wie wir sie kennen, wird sie die ihr gestellten Aufgaben in vollkommener Hingabe an das Ziel auf eine beinahe unpersönliche, technisch gestaltende Weise zu Organismen von klarer Form und von reinem Verhältnis gestalten. [...]

So weist die Tendenz der architektonischen Entwicklung nach einer Baukunst, welche im Wesen mehr als früher an das Stoffliche gebunden, in der Erscheinung darüber mehr hinaus sein wird, welche sich, frei von aller impressionistischen Stimmungsgestaltung, in der Fülle des Lichtes entwickelt zu einer Reinheit des Verhältnisses, einer Blankheit der Farbe und einer organischen Klarheit der Form, welche durch das Fehlen jedes Nebensächlichen die klassische Reinheit wird bertreffen können." (203)

Eine derart neue Klassik, ihre Fundierung auf den Rationalismus stellten den barocken Irrationalismus Finsterlins ins Abseits. Und dort fühlte er sich auch. Es ist nicht schlüssig beweisbar aber sehr wahrscheinlich, daß Finsterlins 1921 einsetzende intensive Arbeit an den Architekturbaukästen "§Das Stilspiel", "Formdomino" und "Didym" auch ein Versuch sind, sich der Richtigkeit seines Entwurfs, seiner Position und des von ihm eingeschlagenen Weges zu vergewissern, der Versuch, sein utopisches Konzept auch historisch exakt herzuleiten. In diesem Versuch ist die im Frühjahr 1922 im "Frühlicht" erschienene Erläuterung des "Lehr-, Spiel- und Versuchbaukastens", "Die Genesis der Weltarchitektur oder die Deszendenz der Dome als Stilspiel" Schwanengesang und Apologie zugleich.

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Anmerkungen 202-203
202 Whyte/Schneider, S.190.
203 Frühlicht, Nr.4 (Sommer 1922), S. 117 f.