Reinhard Döhl | Das Hörspiel der 80er Jahre (1)

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In einer der Schweizer Gegenwartsliteratur gewidmeten Nummer der Zeitschrift "Litfaß" findet sich im April 1984 ein kurzes Gedicht Michael Baiers, das exemplarisch genommen werden darf für Fehldeutungen, denen das Hörspiel trotz seiner 60jährigen Geschichte von Seiten der Literatur immer noch ausgesetzt ist.

Zitat

Hörspiel
knirsch knirsch knirsch still
kratz kratz klirr still klirr
raschel tab tab tab tab tab tab
still tab tab knarr still still
raschel klapper still peng tab
tab rumpel peng peng peng polter
klirr knirsch knirsch knirsch
knirsch.
Autor
Es bedarf kaum der Phantasie, sich diesen visuell langweiligen Text akustisch umzusetzen. Zu erkennen, daß es sich bei ihm nicht einmal um einen Mini-Krimi handelt, sondern lediglich um die Abbreviatur eines Einbruchs, geboten in der lautimitierenden Sprache der Comics. Wobei es offen bleiben kann, wer der Einbrecher ist, ob und was gestohlen oder wer vielleicht erschossen wird. Auch eine improvisierte Realisation als Geräuschabfolge würde an diesem Befund nichts ändern.

Wäre sie schon ein Hörspiel? Ein Hörereignis? Eine Hörsensation, als deren zufälliger Ohrenzeuge sich ein Radiohörer empfinden könnte? Würde für ihn als Hörer mehr folgen, als möglicherweise die Überlegung, ob seine Fenster, seine Glastür hinreichend gegen Einbruch gesichert sind? Wohl kaum. Denn zu schnell wird er durchschauen - und das gilt sowohl für die wörtliche wie eine Geräuschrealisation - was hier gespielt wird. Zu schnell wird er vermissen, was noch oder gerade ein Mini-Hörspiel auszeichnen muß: den Witz und/oder die akustische Spannung. Ein Vergleich kann dies deutlicher machen als jede Erklärung:

Einspielung
Von R, stapfend im Schnee, schwere Schritte, der Köhler. Er spricht etwa aus folgenden Positionen, beim Auf- und Abgehen an dieser Stelle:
(von 5 zu 3): Ich bin halt nur a Köhler
(von 3 zu 1): bin halt nur a Köhler
(Pos. 5) a Köhler
(Pos. 3) a Köhler im Schnee.

Autor
Obwohl in der Einspielung der gesprochene Text das Geräusch erklärt, heben sich Text und Geräusch nicht gegenseitig zur Tautologie auf, erzeugen sie vielmehr in ihrer semantischen und akustischen Bedingtheit eine Spannung, die den Hörer neugierig macht auf das, was folgt.

Vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal gesendet, ist Ernst Jandl/Friederike Mayröckers Hörspiel "Der Gigant", dem diese Sequenz entnommen war, heute bereits Geschichte. Und es ist in dieser Geschichte einer der zahlreichen Belege für die Entschiedenheit eines Schrittes, den das Hörspiel Ende der 60er Jahre machte, ohne daß sich dies bisher in die Breite des Programms eingespielt hätte. Im Gegenteil erschienen mit den zunehmenden 70er, vollends in den 80er Jahren manchem Hörspielverantwortlichen die Errungenschaften eines Neuen Hörspiels bereits überholt, führte bereits der Einsatz experimenteller Verfahrensweisen zu dem signifikanten Mißverständnis:

Zitat
Ein Pathos der Inhaltszertrümmerung, der synthetischen Formerzeugung macht sich breit, hinter dem [...] ein unbewußtes Eingeständnis stehen könnte mit dem allerorten in unserer Gesellschaft zu beobachtenden Verlust an politisch-moralischem Konsens. Auch die Flucht in die reine Form kann Indiz sein für den endgültigen Utopieverzicht, Indiz für einen Leerzustand, für die Tatsache kurz, daß man nichts mehr zu sagen hat.

Autor
Zu dieser Unkerei Christoph Buggerts läßt sich mehreres anmerken. Zunächst, daß es sicherlich Hörspiele gegeben hat und auch noch geben wird, die als Experiment leerliefen bzw. leerlaufen werden. Aber selbst die können in der Regel für sich immerhin in Anspruch nehmen, nützliche Grenzerkundungen zu sein, Erprobungen der Form und damit einer Voraussetzung, etwas Neues sagen zu können.

Verwunderlich ist zweitens Christoph Buggerts Klage über den Verlust an politisch-moralischen Konsens, seine Befürchtung eines endgültigen Utopieverzichts. Denn gerade das Neue Hörspiel hat in vielen Fällen, wenn auch nicht mehr in der Sprache, so doch mit ihr und zu den Bedingungen des Mediums, hier einiges zu bieten. Und speziell "Der Gigant" enthält mehr Utopiepotential als alle bisher gegen das Neue Hörspiel ins Feld geführten Alternativen.

Drittens stehen, wie Heinrich Vormweg 1982 in einer "Bilanz und Perspektive" des Hörspiels "Anfang der 80er Jahre" herausgearbeitet hat, schon längst die "allerersten Artikulationen eines Neuen, die erste Faszination durch das Neue" nicht mehr zur Diskussion. Was "auf der Tagesordnung" stehe, sei vielmehr das "Fortwirken" des Neuen "in der Literatur" und "im Hörspiel".

Einspielung
Es ist als vielfach verifizierte und materialisierte Erkenntnis präsent in einer sich erweiternden Sphäre der Produktion und Rezeption, die allerdings noch immer nur wenigen, zu wenigen offen ist. Nicht mehr die Verifizierung und Materialisierung selbst ist deshalb noch die Kunstleistung, wie es eine Zeitlang durchaus der Fall war. Inzwischen kommt es darauf an, mit dem Neuen als prinzipiell Bekanntem umzugehen, als einem Bekannten, das alle tradierten literarischen Sprech- und Darstellungsweisen beeinflußt, verändert hat, aber z.B. auch, weil es selbst schon Tradition ansetzt, den älteren Sprechkontext erneut wieder Funktion einräumt.

Autor
Heinrich Vormweg hat diese "sich erweiternde Sphäre der Produktion und Rezeption" neben dem englischen Hörspiel "Warcries" von Barry Bermange vor allem anhand der Hörspiele "Verbriefte Liebe" von Helga Schütz, "Hell genug - und trotzdem stockfinster" von Peter Steinbach und "Der Kopf, das Seil, die Wirklichkeit" von Friederike Roth untersucht. Und er hat - auf seiner schon älteren Unterscheidung von Realismus und Realistik fußend - auf die Realistik der Erzählerpartien in den Hörspielen Helga Schütz's und Peter Steinbachs aufmerksam gemacht.

Einspielung
Peter Steinbach: Hell genug - und trotzdem stockfinster.

Autor
Gerade das zunächst als Hörspiel des Monats, dann mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnete Hörspiel Peter Steinbachs gilt Heinrich Vormweg dabei als Musterbeispiel eines Rückgewinns "des Erzählens für die akustische Literatur" - "unter dem Vorzeichen der im Neuen Hörspiel erarbeiteten Poetik". Was für Heinrich Vormweg bedeutet, daß Erzählen nicht als literarischer Anspruch auftritt, sondern "als gleichwertige Methode" neben anderen steht.

Einspielung
Nicht nur Materialzitat und Collage, heißt das, sondern auch Erzählen. Aber zugleich: nicht nur Erzählen, sondern zugleich Materialzitat und Collage. Nicht nur Sprachspiel oder O-Ton, sondern z.B. auch die Entwicklung eines Denkvorgangs im Dialog. Aber zugleich: nicht nur Dialoge, sondern gleichwertig auch Sprachspiel und O-Ton. Und das ließe sich zu einer Litanei ausweiten, bis hin zu: Sprache nicht nur als längst auch inhaltlich schon vorbestimmtes Material, sondern Sprache auch in ihrer dennoch fortbestehenden Fähigkeit, etwas Gemeintes auszusagen. Und hier ebenfalls die unerläßliche Umkehrung: Sprache in ihrer fortbestehenden Fähigkeit, etwas Gemeintes auszusagen, doch Sprache auch als immer längst inhaltlich vorbestimmtes Material. Inzwischen ist es nicht mehr nur möglich, sondern notwendig, das eine wie das andere zu akzeptieren und zu praktizieren und sich mit dem einem wie dem anderen auseinanderzusetzen. Wenn es etwas "prinzipiell Neues" gibt in der aktuellen Situation literarischen und künstlerischen Produzierens, dann dieses Bewußtsein, das allerdings prinzipiell Neues im Sinn der Umsetzung einer neuen Erkenntnis gerade ausschließt. Neu ist nur die Vielfalt, ja innere Widersprüchlichkeit der Möglichkeiten.

Autor
Wenn Heinrich Vormweg 1982 in seiner "Bilanz und Perspektive" das Feld des Hörspiels für "weit offen und von allen Seiten begehbar" erklärt, hat er dies zugleich präzisiert durch den Hinweis auf einen "Veränderten Kontext", die Voraussetzung des Neuen als eines "prinzipiell Bekannten". Das erweitert auf der einen Seite die Liste der von Vormweg diskutierten Hörspiele um neuere Arbeiten Jürgen Beckers, die langjährige Hörspiel-Trilogie nebst Satyrspiel Hubert Wiedfelds, die letztjährigen Hörstücke Ronald Steckels und Fritz Mikesch's - eine Liste, die sich vermehren ließe - und schließt zugleich die Fortsetzung z.B. der Reihe "Komponisten als Hörspielmacher" des WDR3-HörSpielStudios mit ein.

Auf der anderen Seite schließt Heinrich Vormwegs Präzisierung als im Grunde genommen rückfällig eine Vielzahl von Hörspielen aus, ohne die die Hörspielredaktionen und - dramaturgien dennoch nicht auszukommen scheinen. In ihrem Rückgriff auf Konventionen und traditionelle Muster gehören auch sie zur Landschaft der 80er Jahre, verzerren aber in ihr die hörspielgeschichtliche Perspektive, ja sie sind sogar, unter dem fadenscheinigen Vorwand, Hörerwünschen zu entsprechen, im Aufgeben gewonnener Positionen hörspielgenetisch nicht unproblematisch. Als "Tendenz zum (ausgesprochenen) Mittelmaß" charakterisierte denn auch im Dezember 1984 Detlef Passeick in der "Süddeutschen Zeitung" "Das Hörspieljahr 1984 im Rückblick". Und er kritisierte:

Zitat
Da wird geredet, problematisiert, diskutiert und differenziert, als ginge es den Autoren und Regisseuren ans Fell, wenn sie nicht ganz schnell noch 'n Problem aufarbeiten. Es scheint, als bliebe gar keine Zeit mehr, das Medium ihrer Mitteilung zu bedenken, als wäre es nicht schon problematisch genug, wenn akustische Effekte nur illustrativ eine bestimmte Mitteilung verstärken.

Autor
Diese das Medium lediglich als Vehikel eines Problemtransports nutzenden Hörspiele sind oft dort anzutreffen, wo Dramaturgien, und zwar zunehmend, dazu übergehen, thematische Schwerpunkte zu bilden oder Reihen zusammenzustellen. Ich habe bereits in einer Sendung zum Hörspiel der 70er Jahre ausführlicher dargestellt, wie in Folge einer sogenannten Women's Lib das Frauenhörspiel auffällig stark ins Programm rückte, zunächst durchaus noch von Autoren, dann aber zunehmend von Autorinnen geschrieben wurde.

Eine erste 1979 im Westdeutschen Rundfunk zusammengestellte Reihe "Frauen schreiben über Frauen" hat sich 1984 im Sender Freies Berlin zur Reihe "30 Autorinnen" aufgebläht, die neben sechs zum Teil selten gesendeten Stücken aus der Hörspielgeschichte und 15 Übernahmen von anderen Sendern immerhin noch neun Neuproduktionen umfaßte. Doch haben solche Reihen durchaus zwei Gesichter, lobt zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung am Berliner Projekt: es habe einen konzentrierten Einblick in eine spezifische nicht nur feministische Sichtweise von Problemfeldern geboten. Ähnlich äußert sich Heinz Hostnig in seinen Ausführungen zu möglichen "Überlebenschancen des Hörspiels im 'Sekundärmedium' Hörfunk" aus den Erfahrungen einer Schwerpunktbildung.

Zitat
Wenn [...] die Hörer zu Zeiten geringer Ablenkung schon den Wunsch nach inhaltlich zusammenfassenderen Programmzeiten erhoben, müßte diesem Wunsch doch umso mehr dann Rechnung getragen werden, wenn die Flut der Zerstreuung zunimmt. Wie gerne die Hörer der Sammlung den Vorzug geben, erleben wir augenblicklich mit unserer Konzentration auf das Thema Spanien auf NDR 3. Auch im Hörspiel profitieren wir von dieser Konzentration. Die telefonischen Rückfragen und Zuschriften beweisen es. (FUNK-Korrespondenz Nr. 50, 14.12.1984).

Autor
Und noch ein dritter Gesichtspunkt ist nicht zu übersehen: das thematisch geordnete Angebot zu Übernahmen, was solche Schwerpunkte oder Reihen ja auch machen. Als einer von zahlreicheren Belegen kann hier Monika Jungs "Drüben" gelten, das in der Berliner Reihe "30 Autorinnen" erstgesendet, in diesem Jahr vom Westdeutschen und Norddeutschen Rundfunk übernommen wurde. Auf der anderen Seite wird ein bisher nicht einmal im Ansatz diskutiertes Dilemma der Programmplaner und -anbieter faßbar. Ich meine das sich in den verschiedenen Programmfarben und dem Niveaugefälle der sich ihnen anpassenden Hörspiele faßbare Phänomen, welches die moderne Kultursoziologie als "cultural lag" kennt, das Ernst Bloch als "Ungleichzeitigkeit" benannt hätte, die sich aus der unterschiedlichen kulturellen Entwicklung gesellschaftlich verschiedener Schichten ergebe. Was sich ja nicht nur auf Inhalt und Personal der Hörspiele, sondern in gleichem Maße auf die unterschiedlichen Hörerschichten beziehen ließe.

Eine derartige "Ungleichzeitigkeit" ist auch dort gegeben, wo das Hörspiel rückläufig Positionen wieder einzunehmen versucht, die zu ihrer Zeit und für ein damaliges Publikum durchaus Sinn machten. Vor allem die Hörspielkritik der Stuttgarter Zeitung mit ihrer auffälligen Vorliebe für adaptierte Literatur, für Hörspiele, die sich hören und lesen lassen, ist in den 80er Jahren in diesem Zusammenhang auffällig geworden.

Zitat
Natürlich war die Situation in den fünfziger Jahren anders, das Hörspiel im fernsehlosen Zeitalter hatte eine andere Bedeutung, und dazu kam der große qualitative Schub, den die Gattung damals durch Eich und andere erhielt. Der reichte bis in die sechziger Jahre hinein, dann war es irgendwie ein kleines bißchen still ums Hörspiel geworden. In den letzten Jahren aber ist das Radio wohl doch wieder stärker ins Bewußtsein gerade von solchen Leuten getreten, die durch Literatur erreichbar sind, und wenn es nun mit der Wirtschaft wieder bergauf geht wie damals - ? Aber im Ernst: das wäre schön.

Autor
Mißt man es an den positiven Kritiken Rolf Vollmanns, hat in den 80er Jahren, mit Ausnahme Friederike Roths, weniger verspäteter Nouveau Romanciers und einiger Hörspiele vor allem von DDR-Autoren, gutes Hörspiel nur in Form von Adaptionen stattgefunden, sei es in Wiederholungen, zum Beispiel von Jean Giraudoux' "Der trojanische Krieg findet nicht statt", sei es in neueren Bearbeitungen der Dialoge Denis Diderots, eines Romans Herman Bangs, eines Theaterstücks Michail Bulgakows. Vor allem die vom Süddeutschen Rundfunk gesendeten Funkeinrichtungen Heinz von Cramers - die "Pfarrhausgeschichten" Ottilie Wildermuths, die "Soldatengeschichten" Ambrose Bierces, die "Menschenlandschaften" Nazim Hikmets - gelten dieser Hörspielkriktik als Paradigmen der Gattung. Gedanken, wie sie sich Bertolt Brecht über das Radio gemacht hat, bezeichnet sie als "eher schlicht". Hörspielgeschichtliche und -kritische Überlegungen Heinrich Vormwegs zum Beispiel zählen erst gar nicht.

Zitat
Was immer Vormwegs Stärke sein mag: das Sinnen ist seine Stärke nicht und auch nicht das vernünftige Schreiben.

Autor
Ein gewichtiges Argument, das sicherlich zum Phänomen der "Ungleichzeitigkeit" des Programmangebots der späten 70er und der 80er Jahre mit beigetragen hat, ist der von den Verantwortlichen und Unverantwortlichen immer wieder beschworene Wille des Hörers, den man vor allem dann vorschob, wenn sachliche Argumente fehlten. Und dies, obwohl man sich längst im Klaren darüber war:

Zitat
So viel wir über uns selbst zu sagen wissen, so wenig über die, die uns hören. (Gerhard Niezoldi).

Autor
Für dieses Problem hat inzwischen eine in den Jahren 1981/1982 durchgeführte zweiteilige Untersuchung des Südwestfunks einige Klarheit geschaffen, vor allem auch über den seit den 50er Jahren ständig und zunehmend beklagten Rückgang der Hörerzahlen und ihren Bezug auf das Hörspiel. Zunächst einmal nennen die im Hörspielprogrammheft des Südwestfunks im Winter 1984/1985 veröffentlichten Untersuchungsergebnisse für den "Rückgang der Hörerzahlen des Hörspiels [...] insbesondere zwei Faktoren":

Zitat
die Ausweitung des Hörfunkangebots und die Einführung des Fernsehens. Seit den 40er Jahren stieg die Zahl der für die Hörer an ihren Wohnorten empfangbaren Radioprogramme von einem auf - regional unterschiedlich - bis zu zehn. Hörspiele, früher zu bestimmten Zeiten in den Abendstunden z.T. einzig empfangbare Hörfunkangebote, bekamen zunehmend Konkurrenz im eigenen Medium - wie im übrigen auch alle anderen Sendungen. Den eigentlichen Einbruch der Hörerzahlen des Hörspiels, deren [sic, R.D.] Sendetermine zunehmend in die Abendstunden wanderte, bewirkte schließlich das Fernsehen, das durch seine rasche Verbreitung seit Mitte der 50er Jahre immer stärker das Publikum in der Zeit nach 19 Uhr an sich band. Heute sind die Radiohörer in den Abendstunden bekannterweise eine Minderheit, eine Minderheit zudem, die sich noch dazu auf verschiedene Radioprogramme verteilt, unter denen auch die Hörspielsendungen sind.

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Vor diesem eher ernüchternden Hintergrund hat nun der erste Teil der Untersuchung, eine im Winter 1981/1982 bundesweit durchgeführte Repräsentativerhebung zweifelsfrei ergeben, daß "das Interesse" an "und die Wertschätzung von Hörspielen" in den letzten Jahrzehnten "keineswegs" so "gravierend zurückgegangen" ist, "wie dies nach dem " allgemeinen "Rückgang der Hörerzahlen etwa zu vermuten gewesen wäre". Denn nach dieser Erhebung sind immerhin noch "16 Prozent der Radiohörer der Meinung, es würden 'eher zu wenig' Hörspiele" gesendet. Den Hörspielanteil am Programm für "gerade richtig" hielten 29 Prozent.

Interessant und aussagekräftig wird dieses Ergebnis allerdings erst im Vergleich mit zwei Befragungen des Süddeutschen Rundfunks. 1953 hielten dort nur 13 Prozent der Hörer den Hörspielanteil am Programm für "eher zu wenig", dagegen 43 Prozent für "gerade richtig". 1956 lautet das Ergebnis bereits: "eher zu wenig" = 15 Prozent; "gerade richtig" = 41 Prozent. Mit anderen Worten: es hat bereits in den 50er Jahren eine Entwicklung eingesetzt, bei der die Zahl der Hörer, die das Hörspielangebot für "gerade richtig" hält, abnimmt, und dies bis 1981/1982 auffällig zunehmend. Während die Zahl der Hörer, die den Programmanteil des Hörspiels für eher zu gering einschätzt, leicht aber deutlich zunimmt. Zwar wird man berücksichtigen müssen, daß hier Ergebnisse eines Senderaumes mit dem Ergebnis des gesamten Bundesgebietes verglichen werden. Dennoch steht außer Frage, daß der Vergleich "vor dem Hintergrund eines [...] insgesamt erweiterten Hörspielangebots" dennoch positiv ausfällt.

Der zweite Teil der Befragung des Südwestfunks wurde 1982 im eigenen Senderaum durchgeführt. Er erfaßte knapp 2000 Personen,

Zitat
die sich [...] auf einen Aufruf im Rahmen des SWF-Hörspiels gemeldet [hatten] bzw. [... Bezieher der Hörspielbroschüre des Südwestfunks [waren]. Männer waren leicht überdurchschnittlich vertreten, die Altersgruppen insgesamt etwa der Gesamtbevölkerung entsprechend verteilt, die formal besser Gebildeten deutlich über repräsentiert. Insgesamt lassen sich die Befragten als intensive Nutzer des Hörspielangebots der Rundfunkanstalten charakterisieren.

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Dieser zweite Teil der Befragung war in sich wiederum zweigeteilt, und zwar erstens in die Frage nach den "Präferenzen unter Hörspielen verschiedener Machart". Zweitens ermittelte er die "Präferenzen bei der Abfrage nach den verschiedenen Genres von Hörspielen nach Hörarten". Bei der ersten Frage

Zitat
erhielten "Hörspieleinrichtungen von Romanen und Bühnenstücken" die meisten Stimmen. Mehr als jeder zweite gab an, gerne entsprechende Hörspiele zu hören. "Realistische Hörspiele", die szenische Darstellung von Alltagsthemen, folgten danach an zweiter Stelle - weiter in der Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen - "Funkerzählungen", "Originalton-Hörspiele", "Sprachspiele" und schließlich, von jedem Vierten gerne gehört, "Hörcollagen".

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Bei der Frage nach den Genres oder Hörspielarten standen an erster Stelle "Literarische Hörspiele", die mit 58 Prozent einen auffällig hohen Stimmenanteil erhielten.

Zitat
Auf dem zweiten Platz folgten "Kriminalhörspiele", noch von jedem zweiten Befragten gerne gehört. Weiter - wieder in der Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen - "Science-fiction-Hörspiele", "Kurzhörspiele", "Radiophonische Hörspiele" und "Kinderhörspiele", die noch ungefähr jeder Fünfte gern hörte.

Autor
Für die Auswertung von Bedeutung ist aber auch die Verteilung dieser Präferenzen auf Hörerschichten und Altersgruppen. Bei deren Aufschlüsselung ergab sich,

Zitat
daß "Radiophonische Hörspiele" insbesondere von Jüngeren gewünscht werden, "Kriminalhörspiele" von formal schlechter Gebildeten, "Science-fiction-Hörspiele" von Männern, formal besser Gebildeten und Jüngeren und "Mundart-Hörspiele" vor allem von Älteren. Zwei von drei Befragten äußerten im übrigen generell den Wunsch, Hörspielklassiker, also ältere Produktionen, zu hören oder wiederzuhören, ein Votum, das sich auch in vielen Wiederholungswünschen ständig niederschlägt.

Autor
Schließlich ist noch von Interesse, und die Auswertung der Befragung nimmt dies zurecht als "Indiz für die positive Bewertung des Hörspielangebots durch die Befragten", daß die Länge der gesendeten Hörspiele die Hörbereitschaft praktisch nicht beeinflusse.

Zitat
So meinten z.B. nur 6 Prozent, ein Hörspiel dürfe nicht länger als etwa 30 Minuten dauern, 50 Prozent dagegen meinten, bis zu 60 Minuten, die restlichen 44 Prozent gaben sogar an, es könne ruhig länger sein, - und: In der mittleren Gruppe war die Zahl derer, die bei sie ansprechenden Inhalten gerne auch länger hören würden, überraschend groß.

Autor
So interessant es jetzt wäre, das Hörspielangebot der einzelnen Rundfunkanstalten zu diesen Ergebnissen in Relation zu setzen - eine erste Überblickssendung zum Hörspiel der 80er Jahre kann dies nicht leisten. Sie muß sich stattdessen auf einige Stichproben und das Herausgreifen einzelner Aspekte beschränken.

Von allen Sendern der ARD kommt die Hörspieldramaturgie des Süddeutschen Rundfunks - bei Ausklammerung des Kriminal- und Science-fiction-Hörspiels - den vorrangigen Hörerwünschen nach "Hörspieleinrichtungen von Romanen und Bühnenstücken", nach "Literarischen Hörspielen" und der Wiederholung von Hörspielklassikern am weitesten entgegen. Noch mit seiner Spezialität, den im Winterprogramm jeweils ausgestrahlten sechs "Hörspielen für Kinder von Acht bis Achtzig" erfüllt der Süddeutsche Rundfunk die Hörerwünsche etwa jedes Fünften, auch hier zum Teil mit "Remakes und Reprisen" [Programmheft Winterhalbjahr 1983/84, S. 23], wobei vier Nachkriegshörspiele Günter Eichs zunächst das Maß setzten. Mit großem Gewicht ist Günter Eich auch sonst im Programm als Hörspielklassiker vertreten, 1984/85 sogar mit einer 12teiligen Retrospektive. Dagegen fallen im Sommerhalbjahr 1983 die 6teilige Retrospektive "Sprachspiele und Sprechstücke", im Sommerhalbjahr 1985 die 5teilige Retrospektive "Radiocollagen 1968-1973" auch deshalb geringer ins Gewicht, weil sie über die Südkette, also gemeinsam mit dem Südwestfunk und dem Saarländischen Rundfunk gesendet wurden. Lediglich bei drei von den insgesamt vierzehn in ihnen gesendeten Hörspielen war der Süddeutsche Rundfunk seinerzeit auch als Produzent tätig geworden.

Bezieht man die Tatsache, daß über 50 Prozent der Befragten bei ansprechenden Inhalten Hörspiellängen von bis zu 60 Minuten und mehr durchaus akzeptieren, auf das unter den Hörspielgenres an 5. Stelle rangierende Kurzhörspiel, erübrigt sich die seit den 70er Jahren bereits müßige, da überflüssige Forderung und Diskussion des Kurzhörspiels als einzig hörerfreundlicher Alternative. Wichtiger wäre, nachdem inzwischen auch Radio Bremen als letzte Anstalt in der ARD dem Kurzhörspiel einen Platz eingeräumt, ja sogar eigene Mittel dafür bereit gestellt hat, eine historische und typologische Erfassung dieses Hörspielgenres. Denn gerade das vom Saarländischen Rundfunk begonnene, vom Hessischen besonders propagierte Kurzhörspiel ist trotz seiner kurzen Geschichte in Programmbereiche abgedriftet, in denen es sich der Verantwortung der Hörspieldramaturgien und damit eine entsprechende Entwicklung durchaus entzieht.

Zitat
Aus der Idee des Leiters der Abteilung Unterhaltung/Wort, Klaus Langer, der Hörerschaft von SWF 1 jeden Morgen ein Schmunzelhäppchen in Form eines Fortsetzungsromans (ähnlich "Frauenarzt von Bischofsbrück" des SDR) zu servieren, ist schon ein Dauerbrenner entstanden. Die Adelsserie "Schatten über Herrenstein" hat nicht nur bereits Zustimmung unter den Freundinnen und Freunden von "Gute Laune aus Südwest" gefunden, sondern ist inzwischen auch von ORF, Radio Bremen und dem deutschsprachigen Schweizer Rundfunksenders DRS 1 übernommen worden. Die erste Auflage einer zweibändigen Taschenbuchausgabe ist schon verkauft. [Stgt Ztg 1.3.1985]

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Der schnelle Vertieb einer Kurzhörspiel-Fortsetzungsserie vom Typ "Schatten über Herrenstein" in einem anderen Medium bestätigt, was die hochaufgelegte Taschenbuchausgabe der Kurzhörspiel-Folge "Papa, Charly hat gesagt" (NDR/SR/SWF) bereits andeutete: einen Hör- und einen Lesemarkt für diese Art Literatur. Was heißt: daß diese oft witzig pointierten, nicht einmal immer durchdialogisierten Spielchen und Spielhäppchen einer akustischen Präsentation nur bedingt bedürfen. Anders gesagt: daß sie zwar mediengerecht aufbereitet sind, aber keinesfalls schon einen ans Medium gebundenen Spieltypus vorstellen.

Geht man das immerhin an vierter Stelle der Beliebtheitsskala stehende Kurzhörspiel in einer medienspezifischen Ausprägung suchen, ist die Ausbeute schmal, wird man kaum im Hessischen Rundfunk, gelegentlich im "Spielfleck" des Westdeutschen Rundfunks, beim "Sonntagshörspiel'' des Südwestfunks oder beim Sender Freies Berlin fündig. Der aber plazierte Anfang 1985 sogar Teile seiner umfangreichen Reihe "Audio Art" als "Hörspiel am Nachmittag", darunter Ernst Jandl/Friederike Mayröckers "Fünf Mann Menschen" (SWF 1968), einen unüberhörbaren Hinweis auf das Neue Hörspiel.

Aus dessen Umfeld stammt schließlich auch, und bereits in den frühen (im WDR3-HörSpielStudio) 70er Jahren entwickelt, der den "Schmunzelhäppchen" am ehesten vergleichbare und kontrastierende "Hörspot".

Einspielung
Hörspot

Autor
Solche leider selten gesendeten Hörspots sind der vielleicht auch instruktivste Beleg dafür, daß es dem Hörspiel durchaus möglich wäre, in sowohl mediengerechter wie ästhetisch anspruchsvoller Form seinen Beitrag auch "zur Profilierung eines Unterhaltungsprogramms zu liefern", seiner Pilotfunktion auch hier gerecht zu werden, ohne sich nach unten anpassen zu müssen. Davon jeden falls zeigt sich Heinz Hostnig in "Die Überlebenschancen des Hörspiels im 'Sekundärmedium' Hörspiel" überzeugt, wenn er schreibt:

Zitat
Die Empfänglichkeit des Hörspiels für innovative Anstöße müßte gerade im Bereich der Unterhaltung äußerst willkommen sein, dessen Lebendigkeit von dem immer rascher voranschreitenden Verschleiß einmal populär gemachter Formen empfindlich tangiert ist. Ich freue mich jedesmal, wenn ein Moderator selbstgefertigte, witzige Hörspots in der Manier der Hörcollagen eines Paul Wühr oder Ferdinand Kriwets ins Programm bringt, für die wir einmal reichlich Schelte haben einstecken müssen. Gerade die Unterhaltungsmacher sollten ein wenig vorsichtig sein mit dem Verdikt "esoterisch". Oft erschien ihnen gestern noch rätselhaft oder unwirksam, was heute nicht selten zu ihrem eigenen Repertoire gehört.

Autor
Ein letzter, bezogen auf die Hörerumfrage des Südwestfunks in unserem Zusammenhang wichtiger Aspekt wäre ihr Vergleich mit in früheren Umfragen ermittelten Hörerwünschen. Hier bietet sich aus mancherlei Gründen eine Befragung von 2330 Hörern an, deren Auswertung der Westdeutsche Rundfunk im zweiten Halbjahr 1963 - veröffentlichte. Zu einem Zeitpunkt also, an dem das literarische Hörspiel der 50er Jahre seinen Zenit längst überschritten hatte und in seine immer deutlicher faßbare Krise geraten war. Auf die Frage, "Welche Gattung von Hörspielen schätzen Sie besonders?", antworteten die Hörer des Westdeutschen Rundfunks damals, aufgeschlüsselt in Prozentzahlen:

Zitat
 
1. Ernste Hörspiele 21.1 %
2. Bühnenstücke 20,6 %
3. Hörspiele nach literarischen Vorlagen 20,1 %
4. Kriminalhörspiele 16,9 %
5. Heitere Hörspiele 15,8 %
6. Mundartliche Hörspiele 5,5 %

Autor
Im Vergleich dazu schätzen, wie bereits zitiert, die Hörer des Südwestfunks 20 Jahre später, allerdings bei Mehrfachvoten, zu 58 % Literarische Hörspiele, zu rund 50 % Kriminalhörspiele, gefolgt von Science-fiction-Hörspielen, Mundart-Hörspielen, Kurzhörspielen, Radiophonischen Hörspielen und Kinderhörspielen. Bei dieser Antwort darf man Literarische Hörspiele weitgehend gleichsetzen mit den Listenplätzen 1, 2 und 3 der Kölner Umfrage. Einem dabei nur geringen Abfall [von 61,8 % auf 5a %] steht aber bei einem zweiten Vergleich der "Bühnenstücke/Hörspiele nach literarischen Vorlagen" [Köln] mit den "Hörspieleinrichtungen von Romanen und Bühnenstücken" [Baden-Baden] eine stark zunehmende Beliebtheit adaptierter Literatur, von Literatur als Hörspiel gegenüber. Diese deutliche Zunahme ist sicherlich nicht nur durch die bessere Qualität von Bearbeitung und Realisation erklärbar, sondern zu gleichen Maßen auch damit, daß Literatur über den Rundfunk, und dies seit seinen Anfängen, Bevölkerungsschichten erreichen kann, die vom Buch noch lange nicht erreicht werden. Ein dritter Grund für die deutliche Zunahme ist in einem allgemeinen Verlust an Lesekultur zu finden, positiv ausgedrückt: in sich radikal verändernden Rezeptionsweisen gegenüber der Literatur. Auch das ist im Prinzip nicht neu, hat sich aber seit Etablierung von Film, Funk und Fernsehen in den letzten Jahrzehnten als Tendenz verstärkt.

Ähnlich bemerkenswert wie die zunehmende Beliebtheit von Literatur als Hörspiel ist das deutlich gestiegene Interesse am Kriminalhörspiel, direkt gefolgt vom Science-fiction-Hörspiel, das in der Umfrage des Westdeutschen Rundfunks noch gar nicht vorgesehen war. Nachdem auch der Norddeutsche Rundfunk seit 1983 sonntags in seinem 2. Programm einmal im Monat Kriminalhörspiele sendet, ist es keine Frage mehr, daß der Hörfunk auf dem Unterhaltungssektor gegenüber dem Fernsehen Boden gut gemacht hat. Eine genauere Überprüfung der Sendetermine und Sendezeiten zeigt aber zugleich, daß diese Zunahme an Unterhaltung nicht umsonst, sondern nur auf Kosten des eigentlichen Hörspiels zu haben war, das bei dieser Entwicklung gleichzeitig Boden verlor, was letztlich, soweit nicht schon geschehen, zu einer weiteren
Umstrukturierung des Hörspielprogramms fuhren dürfte. Daß in vielen Fällen die Hörspieldramaturgien noch das Kriminal-, das Science-fiction- und das Kurzhörspiel betreuen oder betreuen dürfen, verdeckt kaum das schon in Zusammenhang des Kurzhörspiels diskutierte zunehmende Abdriften in eine zunehmende Abhängigkeit von und Bedingtheit durch Programmumfeld, Programmcharakter und -struktur.

Praktisch unmöglich ist ein Vergleich bei den Mundart-Hörspielen, die bei den Hörern des Südwestfunks immerhin an vierter, bei den Hörern des Westdeutschen Rundfunks 20 Jahre zuvor an sechster Stelle rangieren. Denn hier sind statistisch nur schwer meßbare regionale Besonderheiten, wie zum Beispiel die Zahl der Dialekte eines Sendegebiets, aber auch Plazierungsfragen zu berücksichtigen.

Im Vergleich aber wieder wichtig wird, daß bei der Befragung des Südwestfunks mit den Radiophonischen Hörspielen praktisch ein neues Genre erscheint, dem als Spielarten die Hörcollagen, die Sprachspiele und die Originalton-Hörspiele zuzuordnen wären. Mit ihrem Erscheinen in der Statistik einer Hörer-Befragung wird nämlich zweierlei evident.

1. Daß sich, bedingt auch durch einen selbstverständlicheren Umgang mit dem Medium, so etwas wie ein Generationenwechsel bei den Hörspielhörern anbahnt. Daß "jeder Vierte" der Befragten "gerne" Hörcollagen hört, deutet in Verbindung mit der Tatsache, daß Radiophonische Hörspiele "insbesondere von Jüngeren" gewünscht werden, nachdrücklich in diese Richtung.

2. Werden im Umfeld von Radiophonischem Hörspiel, von Hörcollage, Sprachspiel und Originalton-Hörspiel Wirkspuren des Neuen Hörspiels sichtbar, ist seine Pilot- und Impulsfunktion für die Gattungsgenese auch praktisch unüberhörbar. So verstanden, lesen sich die Ergebnisse der Befragung des Südwestfunks gleichsam auch als statistischer Beleg für die etwa gleichzeitige und schon zitierte Überlegung Heinrich Vormwegs, daß es darauf ankomme,

Einspielung
mit dem Neuen als prinzipiell Bekanntem umzugehen, als einem Bekannten, das alle tradierten literarischen Sprech- und Darstellungsweisen beeinflußt, verändert hat, aber z.B. auch, weil es selbst schon Tradition ansetzt, den älteren Sprech- und Darstellungsweisen in verändertem Kontext erneut wieder Funktion einräumt.

Autor
Diese Überlegung Heinrich Vormwegs stellt, wie sich bereits mehrfach andeutete, zugleich so etwas wie ein erstes Kriterium für das Hörspielangebot der 80er Jahre dar, wobei man bei dessen weiterer Skizze und angesichts der immer noch vielfältigen Spielformen und -möglichkeiten durchaus von dem etwas groben Baden-Badener Raster ausgehen darf.

Danach würde das Hörspielangebot von einer durch das Radio vermittelten Literatur, dem literarischen Hörspiel auf der einen, zu Radiophonischen Spielen, also einer eigentlichen Radioliteratur auf der anderen Seite, fächern. Allerdings müßte bereits für die Literatur als Hörspiel differenziert werden, daß bei ihr in den letzten Jahren die Bühnenliteratur noch weiter zurückgegangen ist, dagegen zunehmend neben dem Epischen auch Lyrisches in Form längerer bis langer Gedichte ins Hörspiel hereingekommen bzw. als Hörspiel umgesetzt wird. Diese Tendenz nicht mehr zum Dramatischen, sondern bevorzugt zum Epischen aber auch Lyrischen ist auch generell im Hörspielangebot zu beobachten, zum Beispiel in der bereits genannten Hörspiel-Trilogie Hubert Wiedfelds, deren zweiter Teil, "Kolorit oder die Rückkehr ins Mondgebirge" (WDR/NDR 1980), nicht von ungefähr auf die sogenannte Stuttgarter Trilogie Wilhelm Raubes zielt, speziell auf den "Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge".

Diese Tendenz zum Epischen ist aber auch abhörbar dem langsam sich entfaltenden Dorfpanorama des Hörspiels "Eigentlich bin ich stumm" (WDR 1982) Jürgen Beckers oder, wie schon gezeigt, den Erzählerpartien von Peter Steinbachs "Hell genug - und trotzdem stockfinster", einem Hörspiel, dem aufschlußreich der spätere Fernsehfilm in Fortsetzungen, "Heimat", zu vergleichen wäre. Wobei ein Rückblick auf Mauricio Kagels "episches Hörspiel" "Die Umkehrung Amerikas" (WDR/KRO 1976) zusätzlich verdeutlichen könnte, was Vormweg meinte, als er festhielt, daß das tradierte Neue jetzt "älteren Sprech- und Darstellungsweisen in verändertem Kontext erneut wieder Funktion" einräume.

Die zweite Tendenz, zum Lyrischen, ließe sich beispielsweise Christian Linders "Noten an den Rand des Lebens" (WDR 1982) abhören, die vom Autor selbst als "Hörspiel-Gedicht" ausgewiesen wurden. Während die Funkeinrichtung von Aras Örens Hör-Gedicht "Die Fremde ist auch nur ein Haus" (Rias 1982) durch Götz Naleppa zugleich zurückweist auf den Ausgangspunkt: die Hörspieleinrichtungen, bei denen diese Tendenz zum Lyrischen vielleicht auch deshalb am auffälligsten ist, weil die Adaption von Gedichtvorlagen in der Geschichte der Gattung zunächst nicht so recht gelingen wollte. Vor allem einige Funkbearbeitungen Heinz von Cramers sind hier in den 80er Jahren zurecht beachtet worden, zumal sie - gemessen an einem inzwischen doch recht eingeschliffenen Cramer-Ton - durchaus neue Nuancen ins Spiel brachten.

Im Rückblick ließe sich für sie sogar eine Steigerung konstatieren, beginnend mit dem auf Texten Wladimir Majakowskis und Wladimir Iljitsch Lenins fußenden "Oktober-Poem" (WDR 1979) über die Adaption der "Menschenlandschaften" Nazim Hikmets (SDR 1981), die das "Kreuzzugslied" Guillaume de Tudèles sowie Verse katharerfreundlicher Troubadoure verwendende zweiteilige "Ketzer-Chronik" (SFB/BR/HR 1981) bis zu "Maldoror, den alten Ozean grüßend...", nach einem Text Lautréamonts (WDR 1982) und der leztjährigen heiter-melancholischen "Ausfahrt nach Cythera" (WDR 1984).

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Heinz von Cramer: Ausfahrt nach Cythera.

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Der Unterschied zwischen Heinz von Cramers "Madrigal" oder "Divertimento", zwischen Dieter Schönbachs "Hörspielkomposition für Sprecher, Sänger, konkrete und synthetische Klänge", "Dantes Göttliche Komödie"
(WDR 1982) und John Cages "Roaratorio - Ein irischer Circus über Finnegans Wake" (WDR/SDR/KRO/IRCAM 1979/1981) oder Pierre Henrys "La Ville/Die Stadt" (WDR 1984) ist allenfalls graduell, keinesfalls jedoch prinzipiell. Obwohl alle letztgenannten Autoren von Haus aus eigentlich Komponisten und damit einer seit dem Neuen Hörspiel sich herschreibenden Tradition und Reihe der "Komponisten als Hörspielmacher" zuzurechnen sind, die zusammen mit dem offenen Projekt "Acustica International" in einer zweiten Sendung zum Hörspiel der 80er Jahre behandelt werden wird, sind Dieter Schönbach und Pierre Henry schon in dieser ersten Überblickssendung zu nennen, weil sich ihre Hörspiele Tendenzen zuordnen lassen, die allgemein für die 80er Jahre charakteristisch sind.

Im Falle Dieter Schönbachs ist bereits die Vorgeschichte aufschlußreich, die schließlich zu zwei unterschiedlichen Aufführungen der "Göttlichen Komödie Dantes" in und außerhalb des Funks führte. Im Gespräch mit Mechthild Zschau hat Dieter Schönbach den Weg vom ersten Plan einer "großen Barockoper" zur Funkrealisation skizziert.

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Während dieser Arbeit, es war in der Urplanung eine Zusammenarbeit mit Wolfgang Hildesheimer, da passierte es, daß ich mich in den Dante verliebte, ganz einfach. Endlich mal Musik, die man gar nicht mehr komponieren brauchte, sondern Wort, das man zum Klingen bringen mußte. Und [ich] hab gedacht, das muß man irgendwie mit Leben füllen, das muß aufs Theater. Es gibt viele, viele Versuche und es ist eigentlich jeder daran gescheitert, weil man auch daran scheitern mußte. Man kann das nicht aufs Theater bringen. Mit dem Medium Film kann man das schon machen, aber auf der Bühne, wie will man das alles darstellen, das ist kaum möglich. In der Zeit, als ich mir das immer wieder überlegte, kam eine andere Beschäftigung dazu, nämlich Wiedergabe von vorgefertigten klanglichen Ereignissen über 16 und 32 Kanal-Träger. Bei dieser Beschäftigung mit verschiedenen Raumtonqualitäten kam sofort die Verbindung mit Dante zustande. Das könnte eine Möglichkeit sein, das mal auf der Bühne zu machen, indem man all die vielen Personen, 140 an der Zahl, mit Chören und mit musikalischen Dingen wie Orchester und elektronischen Klängen und konkreten Klängen das so zu produzieren, daß das Dantesche Environment, also das, was er erlebt und um ihn herum geht, daß das schon vorbereitet auf Bändern sitzt, während Dante live erzählt, was ihm passiert ist. Und dann macht man die zeitlichen Einschnitte. Die Intention des sich Zurückerinnern[s] ist so stark, daß er plötzlich zum jungen Dante wird, zu einer neuen Person, die das dann im Präsens erlebt. Dazu kommt Virgil, dann Beatrice. Und so sind vier Personen auf der Bühne, die alles auslösen können, was drum herum passiert. Da braucht es keinen Bühnenaufbau, sondern nur eine sehr starke akustische Technologie, durch die das Publikum im Raum regelrecht nicht nur umkreist, sondern auch durchdrungen wird.

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Natürlich ließe sich dies alles auch historisch einordnen. Die Beschäftigung mit Dante ist im Hörspiel nicht neu, sei es, daß wie in Ingeborg Bachmanns "Der gute Gott von Manhattan" (BR/SWF/NDR 1958) auf die tragische Liebesgeschichte von Paolo und Francesca und mit ihr auf den zweiten Höllenkreis der "Commedia" angespielt wird, sei es, daß Hans Rehberg 1933 als bewußtes Gegenstück zur "Göttlichen" eine "Preußische Komödie" konzipiert, die eine Höllenwanderung durch die preußische Geschichte in die nationalsozialistische Gegenwart in elf Tagen umfaßt. [Vgl VGTHL 21 (zu Hans Rehberg: Preußische Komödie). WDR 1.3.1974].

Auch die Vorstellungen von Raumton, Raumklang und Klangraum lassen sich in ihrer Tradition bis Schönberg und über ihn zurück verfolgen. Die konkrete und elektronische Musik wurden im Rundfunk (z.B. im "Studio", später im "Club d'Essai" der ORF) entwickelt, dann allerdings eher stiefmütterlich behandelt und kaum gefördert. Eine akustische Umkreisung des Publikums ist ebenfalls mehrfach, und nicht nur in Konzerten, praktiziert worden, hörspielgeschichtlich interessant zum Beispiel bei öffentlichen Aufführungen von Michael Buttons "6.810.000 Liter Wasser pro Sekunde" anläßlich der Olympischen Winterspiele in Grenoble 1968.

Was die Schäfersche "Hörspielkomposition" dennoch bedeutsam macht, ist erstens, daß in ihr diese verschiedenen Traditionen auf eine sehr eigene Weise zusammentreten. Zweitens, daß sie belegt, daß wichtige Hörspielarbeit heute nicht notwendigerweise in den Funkhäusern, sondern sehr wohl auch außerhalb von ihnen im Auftrag oder sogar selbständig geleistet wird. Wobei dann die Funkhäuser die Multiplikatoren oder öffentlichen Anbieter darstellen.

Das war zum Beispiel der Fall bei Ronald Steckels "Erinnerung an die Erde", die zunächst als "Klangraum" für die Berliner Ausstellung "Wahrnehmungsräume" in einem elektronischen Privatstudio produziert, nach der Ausstellung dem Sender Freies Berlin angeboten und von ihm auch angekauft, gesendet und damit im traditionellen Verständnis erst eigentlich als Hörspiel 'nobilitiert' wurde.

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Ronald Steckel: Erinnerung an die Erde.

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Im Falle Dieter Schönbachs trat der Westdeutsche Rundfunk bereits in der Planungsphase als Auftraggeber in Erscheinung. Danach wurden arbeitsteilig nur die Sprechertexte zunächst im Funkstudio aufgenommen, das akustische Environment dagegen als 16 Spur-Tonband in elektronischen Privatstudios produziert. Die Mischung von Sprechertext und akustischen Environment im Funk ergab schließlich eine erste Hörspielfassung, die Ostern 1982 gesendet wurde mit Ankündigung einer szenischen Aufführung, die der WDR zunächst in Zusammenarbeit mit den Städtischen Bühnen Münster plante.

Die öffentliche Uraufführung fand allerdings in Düsseldorf statt, am 13.2.1983. über den Raum verteilte Lautsprecher spielten den Sprecherspielern den Soundtrack zu; 12 Diaprojektoren sorgten für eine visuelle Entspannung der Ohren. Auch diese öffentliche Uraufführung wurde vom Westdeutschen Rundfunk mit dem Kunstkopf aufgenommen und stellt damit gewissermaßen den Zwitter einer Aufzeichnung und einer zweiten Hörspielfassung vor.

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Dieter Schönbach : Dantes Göttliche Komödie.

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Zwar entspricht diese öffentliche Aufführung den ursprünglichen Intentionen Dieter Schönbachs, sie ist aber auch Beleg für eine immer intensivere Öffentlichkeitsarbeit vor allem des Westdeutschen Rundfunks. Sie begann in den 60er Jahren mit öffentlichen Diskussionen über "damals sehr schwierige Stücke" in der Reihe "Hörspiel in der Diskussion" (Klaus Schöning im Gespräch mit Jutta Duhm-Heitzmann, epd. Nr. 3, 14.1.1981). Setzte sich fort im Angebot an den Hörer, bei Originalton-Produktionen mitzuwirken; in den 70er gefolgt von Diskussionen mit Zielgruppen, die, wie die Diskussionen der 60er Jahre, häufiger integrierter Bestandteil von Wiederholungssendungen wurden in der WDR3-HörSpielStudio-Reihe: "Was haben wir gehört". Idealtypisch gesprochen erfahren heute die Aufforderung des Hörers als eines Co-Autors, die Produktion von Hörerspielen (NDR/WDR), aber auch die Sendung von Hörer-Hörspielen (SR), schließlich der von Michael Scharang und anderen geforderte Auszug des Hörspiels aus den Funkhäusern ihr Feed back in Autoren-Produktionen, die oft außerhalb der Funkhäuser, allerdings unter profihaften Bedingungen, in elektronischen Privatstudios entstehen. Dieter Schönbach oder Ronald Steckel zum Beispiel wären zwei von ihnen, und ihre Hörspiele bedürften nicht notwendigerweise des Rundfunks als ihres Verteilers.

Die Diskussionen mit den Hörern aus den 60er und 70er Jahren setzen sich in den 80er Jahren fort in der aus einer gemeinsamen Initiative der Kölner Zentralbibliothek und des Westdeutschen Rundfunks hervorgegangene "Hörspielgalerie", die unter Leitung Wolfgang Schiffers steht, und der sich inzwischen auch die Städte Bonn, Düsseldorf, Münster, Gladbeck, Bocholt, Bielefeld angeschlossen haben. Anläßlich der Planung für 1985 formulierte Wolfgang Schiffer als "Allgemeine Überlegungen zur Zielsetzung" dieser "Hörspielgalerie" unter anderem:

Zitat
Der Stellenwert des Hörspiels findet [...] in der Wertschätzung durch die Öffentlichkeit oft keine Entsprechung. Die Bedingungen dieser Kunstform selbst, der Auftrag der Rundfunkanstalten, geeignete Vorlagen zu entwickeln, zu produzieren und zu senden, führen dazu, daß das Produkt in der Regel nur punktuell zum Sendetermin verfügbar ist und der Öffentlichkeit danach unzugänglich bleibt. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Gehörten ist auf Grund seiner "Flüchtigkeit" nur unter erschwerten Bedingungen möglich; die Auseinandersetzung mit dem Autor über sein Produkt so gut wie völlig ausgeschlossen. Vielen erscheint das Hörspiel deshalb als eine Art "Wegwerf-Kunst"; seine Autoren bleiben, da unbekannt, auch unbeachtet und werden oftmals als Medienautoren geringgeschätzt.

Diese Einschätzung zu korrigieren und die Hörspielautoren stärker in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu rücken, kann und sollte im Rahmen der jeweiligen Autorenförderung und -pflege auch Aufgabe der Kommunen und des Landes sein. Als geeignetes Mittel bietet sich die öffentliche Vorführung und Diskussion von Hörspielen an, die das literarisch-akustische Werk den Bedingungen des Sendevorganges enthebt und den direkten Kontakt zwischen Hörer und Autor ermöglicht. -

Eine Zusammenarbeit zwischen produzierenden Rundfunkanstalten [...] und den einzelnen Kommunen erscheint inhaltlich wie organisatorisch ideal.

Autor
Da diese "Hörspielgalerie" neben der Profilierung des Hörspielautors vor allem auf die Diskussion zwischen Autoren, Kritikern, Pädagogen, Spezialisten (je nach Thema) und den Hörern zielt, ergebe sich "ein Kriterium der Stückwahl schon aus der Konzeption", hält im November 1984 die FUNK-Korrespondenz fest und charakterisiert die in der "Hörspielgalerie" herausgestellten Arbeiten vorrangig als Stücke,

Zitat
zu denen die Hörer unmittelbar im Anschluß an das Hören Stellung nehmen können, sei es, weil ein allgemein interessierendes oder gar aktuelles Thema im Hörspiel aufbereitet wird, sei es, weil die akustische Präsentation von den konventionellen Hör- und Verständnisgewohnheiten nicht allzuweit absticht, sei es schließlich, weil beide Momente eine symbiotische Verbindung eingehen - was häufig der Fall ist.

Autor
Bereits dies rückt, was auch die weitere Charakterisierung durch Michael Schäfermeyer bestätigt, das Angebot der "Hörspielgalerie", von Ausnahmen abgesehen, in das Umfeld jener "realistischen Hörspiele", jener "szenischen Darstellungen von Alltagsthemen", die sich die vom Südwestfunk befragten Hörer am zweitmeisten wünschten. Aber auch ins Umfeld jener Spiele,- für die die Süddeutsche Zeitung im Rückblick auf das Hörspieljahr 1984 kritisierte:

Zitat
Da wird geredet, problematisiert, diskutiert und differenziert, als ginge es den Autoren und Regisseuren ans Fell, wenn sie nicht ganz schnell noch 'n Problem aufarbeiten. Es scheint, als bliebe gar keine Zeit mehr, das Medium ihrer Mitteilung zu bedenken.

Autor
Kein Wunder, daß sich bereits Michael Schäfermeyer als Frage stellt, was die Süddeutsche Zeitung dann als Zitat: "Tendenz zum (ausgesprochenen) Mittelmaß" diagnostiziert.

Zitat
Wird die akustische Literatur also eingesetzt als Transportunternehmen für Themen, Ideen, Gedanken - als Kunsthandwerk mithin, welches der seit Beginn der künstlerischen Moderne im 20. Jahrhundert immer auffälligeren Schere zwischen avancierter ästhetischer Produktion und 'sozialer Akzeptanz' Rechnung trägt? Das Hörspiel als Volkshochschule mit anderen Mitteln? - Vielleicht; sicher aber nicht in verächtlicher Herablassung, vielmehr als didaktisches Konzept, welches dem Faktum Rechnung trägt, daß angesichts fortschreitender realer Ertaubung der Bundesbürger und der Nivellierung differenzierten, nicht sofort pragmatisch verkürzten Denkens genaues Hinhören als Voraussetzung für gründliche Reflexion erst gelernt werden muß. Die "Hörspielgalerie" als Einladung zum Hören, Denken und Reden, als Propädeutik ästhetischer Reflexion und Erkenntnis.

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In einem recht verstandenen Sinne von Propädeutik als einer Hinführung, die ohne hierarchische Qualifizierung "bereits wesentlich zur Sache" gehört, "in die sie führt", sieht Michael Schäfermeyer die "Hörspielgalerie" mit einer zweiten, seit 1982 etablierten Öffentlichkeitsinitiative der Kölner Hörspieldramaturgie verbunden: mit den öffentlichen Veranstaltungen des WDR3-HörSpielStudios unter Leitung Klaus Schönings. Wobei Schäfermeyer völlig im Gegensatz zu Christoph Buggerts Verdikt vom "Utopieverzicht" in der Tradition des Neuen Hörspiels, Schöning seit "etwa 15 Jahren" an "der Realisierung des Utopischen, des 'Scheiterns in höherer Etage' - wie Robert Musil" sage - arbeiten sieht. Schönings öffentliche Veranstaltungen, vor allem außerhalb des Kölner Senderaumes, lassen sich, obwohl unterschiedlich angekündigt, zunehmend als Teile einer ideell zu denkenden "Acustica International" verstehen.

Diese, gemessen an der eher regionalen Orientierung der "Hörspielgalerie", von Anfang an internationale Tendenz der "Acustica" wird zum Beispiel deutlich an Pierre Henrys "La Ville/Die Stadt", die am 17.3.1985 in der Alten Oper in Frankfurt zur Diskussion stand, nachdem sie als Auftragsarbeit am 10.4.1984 zum ersten Mal im HörSpielStudio des Westdeutschen Rundfunks gesendet wurde.

"La Ville/Die Stadt" muß in einer ersten Hörschicht durchaus als Komposition gehört werden, ist Musik in dem Maße sein Hersteller konkreter Komponist ist. Aber im Einsatz des Klang- und Geräuschmaterials gewinnt die Komposition in einer zweiten Hörschicht - wie bereits Helmut Heißenbüttel herausgestellt hat - "schildernde, ja erzählerische Züge" .

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Pierre Henry: La Ville/Die Stadt

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Diese "schildernden, ja erzählerischen Züge", die sich aus einer der filmischen Montage vergleichbaren Kompositionstechnik vor allem ergeben, machen Pierre Henrys Hörspiel bereits für eine Überblickssendung über das Hörspiel der 80er Jahre interessant. Denn mit ihnen rückt Henrys Hörspiel, wenn auch als Grenzfall, in die Nähe jener Arbeiten, bei denen die Tendenz zum Epischen nicht zu trennen ist von einer ebenfalls für die 80er Jahre auffälligen Tendenz zum Filmischen.

Keinesfalls zufällig sind in den letzten Jahren manche Fernsehfilme zum Beispiel der Tatort-Serie zunächst als Hörspiel über die Sender gegangen, läßt sich, wie schon erwähnt, die vielbeachtete Fernseh-Serie "Heimat" von Edgar Reitz/Peter Steinbach nicht ohne Berücksichtigung des Steinbachschen Hörspiels "Hell genug - und trotz dem stockfinster" analysieren (Vgl. auch: Neues von Ihrem Sender. Hör zu 19.10.1984). Auch an Dieter Schönbachs Hinweis auf den Film als denkbaren Umschlagplatz des Danteschen Epos wäre noch einmal zu erinnern. Und natürlich ließe sich das auch umkehren in die Frage, wieweit neue erzählerische Tendenzen im Film hier auf das Medium Rundfunk zurückgewirkt haben, zumal derartige Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Medien, zu denen natürlich auch das Buch zu rechnen wäre, häufiger sind, als eine zumeist spezialisierte Kritik wahrnimmt.

Diese Tendenz zum Epischen mit filmischen Methoden wirkt sich natürlich auch bei den Produktionen aus, erklärt ihre oft erstaunlichen Längen. Ließen sich die zweiteiligen Adaptionen der "Verlorenen Spuren" Alejo Carpentiers (64'51/ 71'33; WDR 1982), des Schöpfungsmythos der Mayas, "Popol Vuh" (ca. 90' / 105'; WDR 1983/1984), beide durch Heinz von Cramer, noch mit der komplexen Vorlage begründen - die Länge der Trilogie nebst Satyrspiel von Hubert Wiedfeld von insgesamt 5 1/2 Stunden erklärt sich fraglos aus dieser Tendenz zum Epischen mit filmischen Mitteln. Damit bezieht Wiedfelds Trilogie nebst Satyrspiel, beziehen zahlreiche deutlich die Stundenmarke überschreitende Einzelarbeiten durchaus so etwas wie eine radikale Gegenposition zu einem zum "Schmunzelhäppchen" degenerierten Kurzhörspiel, allerdings oft um den Preis einer abseitigen Plazierung und zunehmenden Gettoisierung im Tagesprogramm. Diesen Tribut noch nicht entrichten mußte Jürgen Becker 1982 mit "Eigentlich bin ich stumm", einem Hörspiel, das im Hörspielforum im WDR 1 um 20 Uhr 15 relativ günstig plaziert war.

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Jürgen Becker: Eigentlich bin ich stumm.

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Einem solchen von Jürgen Becker entfalteten Dorfpanorama entspricht auf einer anderen Seite das mythologische Panorama von "Popol Vuh", das ethnographische Panorama der "Verlorenen Spuren". Doch wäre in diesem Zusammenhang auch auf Hubert Fichte zu verweisen, der jahrelang dieses Themenumfeld alleine besetzte; ferner an Malcolm Goldsteins "Marin's Lied, illuminiert" oder Jerome Rothenbergs "Hörspiel des Bibers" zu erinnern, wie allgemein an eine Tendenz amerikanischer Text-Sound-Poeten zum ethnographischen Hörspiel, die auch von der Kritik herausgestellt wurde.

Einem Dorfpanorama also auf der einen, einem ethnographischen Panorama auf einer zweiten entspricht auf einer dritten Seite das Großstadtpanorama. Nicht von ungefähr war Pierre Henrys "La Ville/Die Stadt" in eine Reihe des WDR3-HörSpielStudios mit dem Titel "Metropolis" eingeordnet, die wiederum nicht von ungefähr von zwei frühen Musterbeispielen der Gattung eingeleitet wurde, von Alfred Döblins "Geschichte vom Franz Biberkopf" und Walter Ruttmanns "Weekend". Damit deutet sich zugleich eine hörspielgeschichtliche Traditionslinie an, die erst jetzt eigentlich zum Tragen kommt.

Bereits kurz nach Erscheinen als (verkürzter) Fortsetzungsroman in der Frankfurter Zeitung (Vorabdruck) und als Buch wird Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" als Hörspiel und als Film adaptiert. Wie kein zweites Beispiel des 20. Jahrhunderts sind diese verschiedenen Fassungen geeignet, auf die Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen der konkurrierenden Medien aufmerksam zu machen. Interessant ist dabei, daß man bereits den Roman Döblins als "filmische Schreibweise" (Ekkehard Kaemmerling) charakterisieren darf. Durch sie lud er zu einer Adaption geradezu ein, was heißt: das sowohl das Hörspiel wie der Film naheliegende Konsequenzen sind. Zumal auch das Hörspiel in seiner Entwicklung, was lediglich zeitweise in Vergessenheit geraten war, dem Film zentrale Anregungen verdankte, am deutlichsten in den leider nicht als Tondokument belegten "akustischen Filmen".

Zitat
1 Minute Straße mit der ganzen lauten Musik des Leipziger Platzes,
1 Minute Demonstrationszug,
1 Minute Börse am schwarzen Tag,
1 Minute Maschinensymphonie,
1 Minute Bahnhofshalle,
1 Minute Zug in Fahrt

Autor
skizziert Alfred Braun den Sequenzenwechsel eines solchen akustischen Films, der gelegentlich auch als "Hörfilm" bezeichnet wurde. Was entgegen diesem noch sehr ungelenken Experiment einer Transformation schon um 1930 machbar war, führte auf eindrucksvolle Weise der Filmemacher Walter Ruttmann mit seiner Tonmontage "Weekend" vor, indem er die Schnittechnik des Films konsequent für das Hörspiel übertrug.

Genau aber in dieser Tradition des "akustischen Films" und seiner von Döblin und Ruttmann abgesteckten Grenzen trifft der Hörer Mitte der 80er Jahre unter den inzwischen weiterentwickelten Bedingungen und Möglichkeiten des Mediums auf ein Angebot, dessen Grenzen auf der einen Seite vom Dorfpanorama Jürgen Beckers, auf der anderen Seite von Pierre Henrys Großstadtpanorama erneut abgesteckt werden. Zwischen beidem ließe sich ein ganzer Fächer der Möglichkeiten aufschlagen und auch mit zum Teil schon älteren Arbeiten besetzen, den Experimenten mit James Joyce "Ulysses" zum Beispiel auf der einen und Walter Adlers "Centropolis" auf der anderen Seite, mit dem in der Geschichte der elektronischen und konkreten Musik berühmt gewordene "Ritratto di Città" Luciano Berios (von dem nicht zufällig auch eine "Omaggio a Joyce" stammt) hier und dem finnischen Experiment "Erwachen einer Stadt" von Jyrki Mäntylä und einer Gruppe von Studenten dort, mit Herbert Sax' "Tonfilm Hamburg" im Norddeutschen Rundfunk und der episch breiten Kunstkopfproduktion "Berlin - Hören" der beiden Berliner Sender. Aber auch eine mit Walter Ruttmanns "Weekend" intonierte "Reihe Hörfilm" ließe sich, 1985 vom Norddeutschen Rundfunk ins Programm gesetzt, als Beleg für meine These einer neuen Aktualität des akustischen Films heranziehen.

Ein Überblick über das Hörspiel der 80er Jahre bliebe unvollständig ohne Hinweis auf neue Hörspielautoren und eventuell neue Hörspieltechniken. Natürlich gibt es auch in den 80er Jahren wiederum eine Reihe Autoren, die auf unterschiedlichen Wegen in die Programme ein- und nachrücken. Eher der Tendenz zur Regionalisierung zuzurechnen ist wahrscheinlich das verstärkte Bemühen des Bayerischen Rundfunks um Autoren aus dem eigenen Senderaum, ohne daß es bisher zu entscheidenden Entdeckungen gekommen wäre. Von den schon genannten Autoren nähert sich Peter Steinbach in seinen zahlreichen Arbeiten am weitesten einem realistischen Hörspiel, während der ausschließlich in den Programmen des Westdeutschen Rundfunks präsente Christian Linder recht konsequent und in der Tradition einer sogenannten Neuen Sensibilität einen literarischen Hörspieltypus vertritt.

Auch die mit dem letztjährigen Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnete Friederike Roth bevorzugt bei den wenigen direkt für eine Realisation im Funk geschriebenen Arbeiten ("Der Kopf, das Seil, die Wirklichkeit", 1981; "Nachtschatten", 1984) einen Hörspieltypus, der sich im Sinne der Stuttgarter Hörspielkritik sowohl hören als auch lesen läßt. Noch nicht genannt wurde in dieser Sendung Erwin Ortmann ("Phönix", 1983 (nach einer Erzählung von 1981); "Die rundeste Geschichte von der Welt", 1984; "Alaska: Land unter der Haut"), der zu den jungen, vom Norddeutschen Rundfunk geförderten Autoren gehört, deren Produktionen die Hörspielkritik der Süddeutschen Zeitung bescheinigte: sie klängen "frisch und innovativ"; auch stünden sie "qualitativ häufig über den Stücken gestandener" Kollegen. Die bereits in einer Sendung zum Hörspiel der 70er Jahre erwähnte, als Hörspiel des Monats ausgezeichnete "Kunstkopfproduktion auf dem aktuellen Stand der Technik", Peter Jacobis Verwirrspiel "Mordende Worte" (WDR 1983), verbindet abschließend die Frage nach neuen Autoren mit der Frage nach neuen Techniken.

Denn mit den schon erwähnten Dieter Schnebel und Ronald Steckel, mit Fritz Mikesch und Ursula Weck, mit Michael Gaida und Thomas Schulz tauchen in den 80er Jahren Autorennamen in den Programmen auf, zunächst des Senders Freies Berlin, dann zunehmend auch im Norddeutschen und Westdeutschen Rundfunk, die in mehrfacher Hinsicht interessant sind.

Zunächst einmal kommen sie überwiegend von der Musik her oder weisen ihr in ihren Arbeiten einen wichtigen Stellenwert zu, überzeugt,

Zitat
daß das Ohr im Kommen ist, beziehungsweise das Hören oder die Bereitschaft, sich wieder dem Hören und dem, was man durch das Ohr erfährt, hinzugeben. (Fritz Mikesch)

Autor
Dabei verstehen sie Musik weniger in einem traditionellen Sinne, sondern als akustische Ereignisse, als die Erfahrung und Vermittlung von Klangraum und Raumklang. Als "akustische Ionisation einiger Ereignisse" haben Thomas Schulz und Ronald Steckel zum Beispiel die ersten Arbeitsschritte zu ihrem WDR-Hörspiel "Das Haus spricht" bezeichnet. Und Ronald Steckels erstes Hörspiel war, wie schon erwähnt, bezeichnend genug zunächst der Klangraum einer Ausstellung, bevor es der Sender Freies Berlin ankaufte.

Auffällig ist auch die Unbekümmertheit, mit der diese Autoren, oft gemeinsam (Mikesch/Weck oder Mikesch/Steckel oder Schulz/Steckel lauten unter anderem die Paarungen), an ihre Projekte heran- und mit den Mitteln des Hörspiels umgehen. Diese Mißachtung tradierter Normen ist durchaus gewollt, wenn auch zum Teil schlicht daraus zu erklären, daß die Autoren, wie Fritz Mikesch in einem Gespräch selbst eingeräumt hat, kaum theoretische und praktische Hörspielerfahrung hatten, als sie begannen, sich eines sie interessierenden Mediums zu bedienen. Dabei ist es durchaus faszinierend, zu sehen, wie schnell es ihnen gelingt, innerhalb auch hörspielgeschichtlicher Zusammenhänge eigene Positionen zu beziehen, zum Beispiel, wenn sie die Expedition- und Pionierhörspiele des Weimarer Rundfunks mit "Hoffnung, dieser fade Hering" konterkarieren, was künftige unkommentierte Reprisen dieser frühen Gattungsbelege kaum mehr zuläßt. Dem Pioniergeist der Rundfunkverantwortlichen der Weimarer Republik setzen sie eine gesunde Skepsis entgegen, indem ihnen Captain Scotts freiwilliger Gang ins ewige Eis des Südpols "wie eine Metapher" erscheint

Zitat
für den Gang ins Eis der Unmenschlichkeit, den Zynismus der Wirtschaftsimperien und für eine Unverantwortlichkeit, die in der bekannten Geschichte ohne Beispiel ist.

Autor
Die bisher hörspielgeschichtlich wohl wichtigste Arbeit aus dieser Gruppe von Autoren ist Ronald Steckels "Ohrenlicht", eine Gemeinschaftsproduktion des Senders Freies Berlin mit dem Norddeutschen Rundfunk unter der Regie von Ulrich Gerhardt. Was die Hörspiele anderer Autoren dieser Gruppe charakterisiert, Unbekümmertheit im Umgang mit den Mitteln und Stoffen, Interesse an der Musik, an Klang und Geräusch, Produktion außer Hauses, gilt auch hier, aber in komplexerer Form. Denn die Produktion war in diesem Fall schon deshalb außerhalb des Funks zu machen, weil der Funk gar nicht über die technischen Voraussetzungen verfügt hätte.

Für Musik und elektronische Realisation verantwortlich zeichnet Walter Bachauer, der, bis er sich selbständig und sein eigenes elektronisches Studio mit modernster Computertechnologie aufmachte, Hauptabteilungsleiter Musik im RIAS war. Der experimentelle Wert dieses Hörspiels begründet sich aus der bisher kaum eingesetzten Mikrophontechnik der Jecklin-Scheibe, eines stereophonen Aufnahmesystems, mit dem eine besonders genaue räumliche Klangwiedergabe erreicht werden kann. An ihr aber mußte den Produzenten bei diesem "akustischen Essay über die Genauigkeit des Hörens", bei diesem "musikalischen Versuch über die Wahrnehmung von Sprache und Geräusch" gelegen sein. Denn nicht mehr nur um reales, auch um irreales und subreales Hören geht es in diesem Spiel, in dem einem jungen Musiker nicht nur Konkretes, sondern auch Vergangenheit, Träume, Gedanken, das Un- und Unterbewußte akustisch erfahrbar werden. Komplexer ist schließlich aber auch der unbekümmerte Umgang mit dem Stoff geworden, denn anders als in anderen Hörspielen dieser Autorengruppe sind die surrealistischen und Science-fiction-Elemente durch ein Zitat des sizilianischen Komödiendichters und angeblichen Pythagoras-Schülers Epimarchos in einen eher philosophischen Kontext gestellt: "Nur der Geist hört und sieht, alles andere ist blind und taub."

O-Ton
Ronald Steckel: Ohrenlicht

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