Mein Thesenreferat ist "Hörspieldidaktik" überschrieben und diese mit einem Fragezeichen versehen. Denn wenn ich den Veranstalter recht verstanden habe, soll ich hier Auskunft darüber gehen, ob und in welcher Form auch das Hörspiel Gegenstand von Lehre und Forschung am Institut für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart ist. Dazu ist Einiges, wenn auch wenig Erfreuliches zu sagen. Doch habe ich dazu ein wenig auszuholen, weil das Hörspiel in der Literaturwissenschaft in größeren Zusammenhang zu behandeln ist.
Zunächst: Wie wahrscheinlich auch in anderen Bundesländern sieht die Prüfungsordnung des Landes Baden-Württemberg für den Studenten des Faches Deutsch vor: Vertrautheit mit theoretischen Grundlagen der Literaturwissenschaft, Kenntnis in der Literaturgeschichte, die Fähigkeit der Interpretation und 4. - gleichrangig - eine Vertrautheit mit Literatur als Medium der Kommunikation und in den Medien. Diese letzte Forderung wird untergliedert in den Nachweis der Fähigkeit, Aspekte und Formen der literarischen Kommunikation zu beschreiben und der Fähigkeit, Funktionen der Literatur im Bereich der Medien zu erörtern.
Damit trägt Punkt 4 dieser Prüfungsordnung einer Tatsache Rechnung, an der nur noch hartgesottene Literaturwissenschaftler vorbeisehen können, daß nämlich eine immer breitere Öffentlichkeit vom gegenwärtigen literarischen Leben, aber ebenso von Theodor Fontanes "Effi Briest" oder Goethes "Werther" weit eher und nachhaltiger durch die Medien als durch unmittelbare Lektüre angesprochen wird. (1)
Trotz dieses Hinweises Eberhard Lämmerts aus dem Jahre 1976, der für viele andere, auch frühere steht, wird Literaturwissenschaft in den seltensten Fällen auch als Medienwissenschaft begriffen. Und wo dies wider Erwarten dennoch der Fall ist, beschränkt sich der Umgang mit den Medien zumeist auf den Film. Bezeichnenderweise nannte auch Lämmert mit "Effi Briest" und "Werther" zwei Werke der Weltliteratur, die durch den Film, nicht durch den Rundfunk popularisiert wurden. Obwohl es zur "Effi Briest" eine, allerdings nur dem Spezialisten bekannte Hörspieladaption gibt.
Wie wichtig aber gerade auch der Rundfunk bei der Popularisierung von Literatur, wie oft er sogar einen ersten Kontakt zu ihr herstellt, belegen drei willkürlich herausgegriffene Beispiele.
Das hat als einer der ersten Alfred Döblin in seinem legendären Kasseler Referat "Literatur und Rundfunk" ganz deutlich ausgesprochen. Die lebende Sprache, sagte Döblin dort, sei "in ungenügender Weise in die geschriebene eingedrungen, (...) die Buchdruckerkunst habe bei uns offenbar eine Anämie und
Vertrocknung der Sprache im Gefolge gehabt. Da biete nun der Rundfunk uns wieder das akustische Medium, den eigentlichen Mutterboden jeder Literatur, allerdings unter Preisgabe der die mündliche Literatur ursprünglich begleitenden Publikumskontakte. Aber auch sonst sei der Rundfunk, der für die Musik und die Journalistik (...) im Wesentlichen kein Novum bedeute, sondern lediglich ein neues technisches Mittel der Verbreitung für die Literatur ein verändertes [veränderndes? R.D.] Medium: Formenveränderung muß oder müßte die Literatur annehmen, um rundfunkgermäß zu werden. (3)
Diese Formenveränderungen hat die Literatur in den Medien Film und Funk, für die Medien Film und Funk und durch die Medien Film und Funk längst angenommen. Eine Wissenschaft von der Literatur muß, will sie nicht eine Wissenschaft vom Buch bleiben und damit zusehends ein weiteres Orchideenfach der Universitäten werden, diesem Transformationsprozeß und einer sich dadurch verändernden Rezeption von Literatur Rechnung fragen. An der Universität Stuttgart tut sie dies nicht.
Für die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL vorrangiger als die Frage allgemein nach der medialen Adaption von Literatur ist allerdings die Frage nach einer akustischen Eigenliteratur des Rundfunks. Diese Frage ist auch von Literaturwissenschaftlern, für ihr Fach folgenlos, schon gestellt worden, als das Hörspiel noch in seinen Kinderschuhen steckte. Ich nenne stellvertretend Arno Schirokauer (4), Werner Milch (5), Richard Thieberger (6), oder für Stuttgart Hermann Pongs (7). Und als Beleg für die Folgenlosigkeit: daß, obwohl Pongs an der damals noch Technischen Hochschule Stuttgart 1930 in seiner Antrittsvorlesung über das Hörspiel auch den technischen Aspekt von Literatur nachdrücklich ins Blickfeld rückte, bis heute in Stuttgart die Voraussetzungen praktischer Medienforschung für Literatur(und Kunst)wissenschaftler, etwa im Bereich des Films, nicht gegeben sind. ja, daß manche Gesamt- und Höhere Schule des Landes im Bereich der Medien besser ausgerüstet ist als das literaturwissenschaftliche Institut, das nicht einmal über einen schallisolierten Raum verfügt, geschweige denn über ein kleines Studio für die auch bei literaturwissenschaflicher Beschäftigung mit den technischen Medien unerläßlichen Schnitt- und Montagearbeiten, von Desidera der Institutsbibliothek will ich gar nicht erst reden.
Das bedeutet zum Beispiel für meine Forschung(en), daß ich ernst zu nehmende Projekte wie meinen "Versuch einer Geschichte und Typologie des Höspiels" (WDR 1970-1986) gleichsam außer Hauses, nämlich mit dem Westdeutschen Rundfunk, durchführen mußte. Und für die Lehre, daß ich eine für das Wintersemester angekündigte Vorlesung "Akustische Literatur: Rundfunk" ohne akustische Zitate, also Tondokumente halten werde. In Seminaren sieht dies nicht anders aus, muß auf gedruckte Hörspieltexte zurückgegriffen werden, so daß beim Studenten durchaus der Eindruck entstehen mag, als handele es sich bei rundfunkeigener Literatur um eine Literatur, die man hören, aber auch lesen, mit der man analytisch/interpretatorisch ebenso umgehen könne wie mit dem gedruckten Dichterwort.
Wenn in Stuttgart aber schon
nicht die Möglichkeiten sinnvoller Medien-, Rundfunk- und Hörspielforschung
gegeben sind, so nehme ich mir wenigstens die Freiheit, ein paar Vorschläge
zu machen, wie so etwas - bezogen aufs Hörspiel - aussehen könnte
oder zumindest aussehen müßte. Zum Teil habe ich diese
Vorschläge in meinem
Aufsatz über "Hörspielphilologie?"
(8), dessen Titel ich mit einem Fragezeichen versehen hatte, bereits gemacht,
kann mir für diesen Teil also eine Wiederholung ersparen. Ergänzend
käme es mir heute vor allem auf 7 Punkte oder Konsequenzen an:
1. dem vagabundierenden Kind des Rundfunks, wie Klaus Schöning das Hörspiel einmal genannt hat, endlich seinen ihm gemäßen Platz im Felde der literaturwissenschaftlichen Gegenstände zuzuweisen. Denn bei ihm handelt es sich weder, wie zahlreichen Hörspielseminaren und Publikationen folgend, die Stuttgarter Zeitung zum Beispiel ihren hörigen Lesern weismachen will, um einen Gegenstand der Literatur, den man hören und lesen kann. Auch ist das Hörspiel als Rundfunkeigenkunstwerk keinesfalls so irrelevant und rückständig, wie Helmut Schanze in einer vielbenutzten "Medienkunde für Literaturwissenschaftler" - offensichtlich in Unkenntnis von Hörspielen - behauptet:
Fragt man, konstatiert dort Schanze, nach den funkspezifischen ("funkischen") Mitteln, verbindet sich diese Frage zumeist mit der Frage nach der Kunstform des "Hörspiels", dessen kurzlebige Geschichte mit einer Fülle von Publikationen bedacht wird. Daß sich daneben eine Fülle neuer "Formen", die nicht unbedingt von vorneherein als Kunstform zu betrachten waren, entwickelt haben und heute von weitaus größerer Relevanz für das Programm sein dürften, ist in der Diskussion meist übersehen worden. Zu nennen wären hier die Reportagen, die Features und die aktuellen Magazinsendungen mit ihrer spezifischen Mischung von Unterhaltung und Journalismus. Diese Formen können weitaus weniger mit den entsprechenden älteren Formen im Bereich der Presse und des Theaters in Beziehung gesetzt werden, als dies beispielsweise noch für das Hörspiel der Fall war. (9)
Daraus folgt 2. für mich die Forderung, daß die Hörspielforschung in ihrem historischen und systematischen Bereich zugleich in die etabliertere Rundfunkwissenschaft übergreifen muß. Ich verweise zum Beispiel auf den Arbeitskreis "Rundfunk und Geschichte". Ein solch übergreifendes Arbeiten ist vor allem dort wichtig, wo es um Fragen der Programmbedingungen, um Ansätze einer Programmanalyse geht. Denn das Hörspiel ist, in einem laufenden Programm plaziert, von den Bedingungen dieses Programms durchaus abhängig, seine Rezeption durch den Programmrahmen z.B. durchaus mitbestimmt. Hörspiele, die auf die Medienwirklichkeit und Rundfunkpraxis an- und mit Ihnen spielen, sind hier einsichtiger als ihre wissenschaftlichen Interpreten.
3. Zur Hörspielpraxis gehören zum Beispiel das Manuskript, seine Arbeitsstufen, die Partitur, Notation und Renotation. Sie können aus vielerlei Gründen für die Analyse bedeutend werden und müßten beim Umgang mit dem akustischen Endergebnis stets einsehbar und vergleichbar sein, gerade dort, wo Druckfassungen vorliegen. Was zur Folge hat, daß die einschlägigen Instituts- und/oder Universitätsbibliotheken sich um den Auf- und Ausbau sowie die bibliographische Erschließung solcher Manuskriptsammlungen vorrangig bemühen müßten.
4. Diese Sammlungen primärer Hörspielliteratur in Manuskriptform bedürfen ihrer dringlichen Ergänzung durch Sammlung oder wenigstens bibliographisch vollständige Erfassung der Manuskripte aller hörspielbegleitenden Sendungen, Kommentare, Gespräche, Statements etcetera. Denn letzte sind - zumal sie selten das Licht des Buches erblicken - als eine erste Sekundärliteratur zum Hörspiel eine bisher viel zuwenig genutzte Quelle. Wie ihre Erschließung aussehen könnte, hat die Bibliothek des Westdeutschen Rundfunks beispielhaft vorgeführt. Auch der Süddeutsche Rundfunk leistet sich seit einiger Zeit ein Archiv für Funkmanuskripte, mit Archivar. Nur - wo bleiben die Universitäten und Institute? Oder als Forderung: wir brauchen ein Marbach für Hörspiele.
5. Daß die Bibliotheken für die Zukunft ihre Erweiterung um Mediotheken, speziell Audiotheken erfahren müßten, sollte sich beim Hörspiel eigentlich von selbst verstehen, um so mehr, als nur die wenigsten Rundfunkhörer mehr als das Hörspielprogramm eines einzelnen Sendern empfangen können. Was im Stuttgarter Fall konkret bedeutet, daß man hörend und mitschneidend auf ein Hörspielprogramm angewiesen ist, bei denn Forschung und Lehre sehr schnell an ihrem traurigen Ende wären.
6. Ich bin aber auch am Ende. Denn im Falle des Mitschnitts der Hörspielprogramme anderer Sender, im Falle der Gefälligkeitskopie für wissenschaftliche Zwecke stößt der daran Interessierte bei den einschlägigen Rundfunkanstalten auch im Falle des Hörspiels auf taube Ohren. Mit anderen Worten: dem vagabundierenden Kind des Rundfunks gesellt sich zwischen Literatur-, Musik- und Rundfunkwissenschaft sein zwischen den Rundfunkanstalten hin- und her irrender Liebhaber. Statt hier von den Schleichwegen zu sprechen, auf denen er sich eventuell dennoch seine Unterrichtsmaterialien besorgen kann, und da die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL schon durch das heutige Forum vor immer geringerem Publikum eine künftige Kooperation zwischen Hörspiel und seiner wissenschaftlichen Vermittlung und Befragung ausdrücklich betont,
schlage ich 7. vor, daß sich die Interessierten beider Seiten endlich einmal zusammensetzen und diese Fragen diskutieren, bis weißer Rauch signalisiert: habemus hörspiel. Im Moment liegt der schwarze Peter, scheint mir, ausnahmsweise heim Rundfunk.
WDR. Komponisten als Hörspielmacher. 1. Acustica International. Forum III: Hörspiel - Unterricht - Radio. Musikhochschule Köln, 30.9.1985. Druck in: 1. Acustica International. Komponisten als Hörspielmacher. Eine Dokumentation. Köln: WDR 1990. S. 133-35.
Anmerkungen
1) Eberhard Lämmert.
Literaturwissenschaft - Medienwissenschaft. Hrsg. von Helmut Kreuzer. Heidelberg:
Quelle und Meyer 1977, S. V.
2) Klaus Peter Lischka:
Hörspiele und wie sie entstehen. In: Rufer und Hörer. Jg 7. 1952/53,
S. 334-338, Zitat S. 336.
3) Alfred Döblin: Literatur
und Rundfunk (1929). In: Hans Bredow: Aus meinem Archiv. Heidelberg: Vowinckel
1950, S. 311-317, Zitat S. 313.
4) Z.B.: Die Theorie des
Hörspiels. Einige Kunstmittel des Hörspiels. In: Schirokauer:
Frühe Hörspiele. Kronberg/Ts.: Scriptor 1976, S. 9-14 und S 151-155.
5) Z.B.: Das Hörspiel
als Lehrstück. Ergebnisse und Forderungen. In: Rufer und Hörer.
Jg 1. 1931, S. 124-129.
6) Z.B: Das deutsche Hörspiel.
Wien: Phil. Diss. 1935.
7) Z.B.: Das Hörspiel.
Stuttgart: Frommanns o.J. (1939).
8) Hörspielphilologie?
In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1982, S. 489-511.
9) Medienkunde für
Literaturwissenschafter. München: Fink 1974, S.72f.