Innerhalb der Typenvielfalt, die die Radiokunst hervorgebracht hat, sind Grenzen nicht in jedem Fall eindeutig zuzuziehen. Das erklärt sich zum einem aus der Mediengebundenheit dieser Radiokunst und ihrer Entwicklung, also auch aus ihren nichtliterarischen Bedingungen. Andererseits entsprechen solch unscharfe Grenzen einer für das 20. Jahrhundert allgemein festzuhaltenden Tendenz der Grenzverwischung zwischen den einzelnen Künsten, zwischen Literatur und bildender Kunst ebenso wie zwischen Literatur und Musik wie zwischen bildender Kunst und Musik. So daß es nur konsequent war, auf der 8. Documenta 1987 auch eine Audiothek zu installieren, die übrigens von den Besuchern intensiv frequentiert wurde. Drittens ist es, auch das hat diese Audiothek auf der 8. Documenta in ihrer historischen Anlage gezeigt, drittens ist es bei jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit der Radiokunst angezeigt, sich nicht nur ihrer medialen Bedingungen, sondern auch ihrer historischen Entwicklung zu erinnern.
Dies also vorausgesetzt, will ich zunächst versuchen, zum Gegenstand Radiokunst Hörspiel, bei dem ich mich wesentlich auf das deutschsprachige Hörspiel konzentriere, historisch und typologisch hinzuführen. Das wird zum Teil stichwortartig geschehen müssen und soll vor allem einige Thesen zur Diskussion der Hörspielgeschichte und der aktuellen Hörspielsituation aufstellen.
Ich beginne mit einer Jahreszahl - 1924 - und nenne drei Ereignisse, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen und die sich dennoch auf unterschiedliche Weise miteinander verbinden lassen.
1. Im Frühjahr 1924 schrieb Franz Kafka seine Erzählung "Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse", mit der er in distanziert berichtender Form nach der Position und der Funktion des Künstlers in einer Massengesellschaft fragt.
2. Bereits im Januar 1924 hatte die BBC ein erstes Hörspielgesendet: "Danger" von Richard Hughes. Ich zitiere die Eingangssequenz:
Mary: Jack! Jack, was ist denn geschehen?Und ich ergänze aus dem ersten französischen Hörspiel "Maremoto" von Pierre Cusy und Gabriel Germinet:
Jack: Die Lampen sind ausgegangen.
1. Stimme: Verdammt, jetzt ist das Licht ausgegangen.Während 1924 die europäische Hörspielgeschichte mit zunächst einer Flut von Sensations- und Katastrophenstücken begann in einem Medium, dessen Hörer unter anderem auf Katastrophen- und Sensationsnachrichten und -berichte abonniert war und ist, während - sage ich - 1924 die europäische Hörspielgeschichte derart im Dunklen begann. Veröffentlichte 3. Kurt Schwitters im Juni 1924 seine radikalen Thesen einer "Konsequenten Dichtung".
Klangdichtung, heißt es dort, sei nur dann konsequent, wenn sie gleichzeitig beim künstlerischen Vortrag entstehe, und nicht geschrieben werde. Dabei sei es gleichgültig, ob [das] Material Dichtung sei oder nicht. Man könne das Alphabet zum Beispiel so vortragen, daß das Resultat Kunstwerk werde. Da nicht das Wort [...] sondern der Buchstabe das ursprüngliche Material der Dichtung sei, werde konsequente Dichtung aus Buchstaben gebaut. Buchstaben haben keinen Begriff. Buchstaben haben an sich keinen Klang, sie geben nur Möglichkeiten, zum Klanglichen gewertet [zu] werden durch den Vortragenden. Das konsequente Gedicht wertet Buchstaben und Buchstabengruppen gegeneinander.
Und während Richard Kolb acht Jahre später, 1932, sein geschichtlich folgenreiches "Horoskop des Hörspiels" stellt, dem Hörspiel das Immaterielle, das Überpersönliche, das Seelische anempfahl und den Hörspielautor beauftragte, uns mehr die Bewegung im Menschen als den Menschen in Bewegung zu zeigen, wurde im Stuttgarter Sender eine Lesung von Kurt Schwitters aufgezeichnet, die neben dem bekannteren Gedicht "An Anna Blume" auch einen Ausschnitt der "Sonate und Urlauten" umfaßte und damit ein exemplarisches Beispiel jener konsequenten Dichtung, die Schwitters 1924 gefordert hatte.
Ich lasse diese drei Ereignisse zunächst unkommentiert und wende mich der Hörspielgeschichte zu, die - um mit einem Paradox anzufangen - trotz "Danger" und "Maremoto" - eigentlich ohne örspiel beginnt. Ihr Medium, der Rundfunk, war nicht entwickelt worden, weil eine Notwendigkeit dafür bestand. Er war innerhalb der Entwicklung der elektronischen Nachrichtenmittel vielmehr ein Nebenprodukt. Da die Industrie aber daran interessiert war, auch dieses Nebenprodukt gewinnbringend zu vermarkten, mußte sie, da weder Notwendigkeit noch Bedürfnis bestanden, den Markt erst einmal schaffen und erscließen.
Das geschah einmal, indem man die Bastelleidenschaft potentieller Kunden ansprach, also den Reiz eines neuen technischenSpielzeugs nutzte. Diese Bastelwut ist gut belegt. 1928 erinnert sich zum Beispiel Alfred Döblin:
Ich war eine ganze Zeit passionierter Bastler; meine Vierröhrenschaltung, mit der ich höre, habe ich selbst gebaut; aber die Neutrodyne-Schaltung, daran bin ich gescheitert.
An einem solchen Bastler, der sich auf seine Weise produktiv mit dem neuen Medium auseinandersetzte, konnte eine Geräte produzierende Industrie auf die Dauer nicht interessiert sein. Ihr lag am Gerätekäufer. Das Rundfunkprogramm mußte ihm also so wichtig gemacht werden, daß er den für den Empfang notwendige, immer perfekteren Apparat, weil er ihn nicht mehr bauen konnte, kaufen mußte. Die Berliner Funkausstellungen haben hier seit 1924 ihren Stellenwert. Und aus der Sicht der Firma Telefunken liest sich das, ebenfalls bereits 1924, wie folgt:
Empfängerseitig werden dann nur Apparate letzter Vollendung zur Verwendung kommen können, bei denen der Hörer den Apparat - weil es selbstverständlich ist, daß dieser vollendet zu sein hat - völlig vergißt und nur an die wichtigen Dinge denkt, die er erlauscht. [...] Und allmählich werden aus den fröhlichen Bastlern von heute sachkundige, kritische Käufer des Allerbesten werden, was auf dem Markt an Apparaten vorhanden ist.
Nicht auf Wunsch des Hörers also - ließe sich dies überspitzen - wurden der Rundfunk und sein Programm erfunden und entwickelt. Sondern mit immer perfekteren Apparaten, einem immer besseren Programm erzogen sich Rundfunkindustrie und Rundfunk den Hörer als Kunden und Konsumenten.
Entsprechend hat der Reflex auf den Hörer auch die Hörspielgeschichte bis auf den heutigen Tag begleitet, sei es theoretisch, sei es als fiktive Hörspielstimme, sei es bei Versuchen, den Hörer in die Produktion mit einzubinden. Nicht zuletzt Hörerumfragen haben die Geschichte des Rundfunks und seiner Programme von Anfang an begleitet. Und sie registrieren für das Programmjahr 1924 als Hörerwünsche die Operette mit 83,3%, Tagesneuigkeiten mit 72,8%, die Zeitansage mit 71,3%, Kammermusik mit 63,8%. An 8. Stelle folgt die Oper mit immerhin noch 48,2% und an 24. Stelle das Schauspiel mit nur noch 15%, unterboten lediglich von Predigten, die lediglich 9% der Hörer wünschten.
Wenn in der Frühgeschichte des Hörspiels zunächst also Operette, Oper und Schauspiel (in genau dieser Abfolge) vom Rundfunk adaptiert werden, läßt sich das unter anderem auch als Konsequenz aus dieser Umfrage deuten. Solche "Sendespiele", die auch "Hörspiele" genannt wurden, sind jedoch nichts weiter als Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln. Die Hörspielgeschichte verdankt ihnen lediglich einige wichtige Regieerfahrungen.
Anders die Theatergeschichte. Denn für sie bot der Rundfunk die Möglichkeit, Theaterstücke außerhalb der großen Häuser und ihres Spielplans einem größeren Publikum wenigstens als ein Theater für Blinde zugänglich zu machen. Diese Möglichkeit, Theaterstücke außerhalb der großen Häuser zu spielen, dabei auch auf vergessene oder wenig gespielte 'Klassiker' aufmerksam zu machen, wurde in exemplarischen Inszenierungen vor allem von Friedrich Bischoff in Breslau, der von Haus aus Schriftsteller war, und von Ernst Hardt in Köln, der vom Theater herkam, genutzt, wobei in den 20er Jahren die "Woyzeck"-Inszenierungen Bischoffs und Hardts die damalige Büchner-Renaissance wesentlich multiziplierten. Auch die Horvath-Renaissance nach dem zweiten Weltkrieg nahm im Rundfunk ihren Anfang, dessen Sendungen schon deshalb besonderes Gewicht zukam, weil fast alle Theaterhäuser zerstört waren.
Daneben verdankt die Theatergeschichte dem Rundfunk die Sendung von Theaterstücken, die zunächst kein Theater aufführen konnte oder zu spielen bereit war, darunter zum Beispiel Bertolt Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe".
Es wird einmal - notierte der Kritiker des "Berliner BörsenCourier" am 12. April 1932 - zu den denkwürdigsten, aber unrühmlichsten Merkmalen in der Kulturgeschichte unserer Zeit gehören, daß das Theater die Vermittlung eines der größten und bedeutendsten Dramen der Epoche dem Rundfunk überlassen mußte. Der "Berliner Funkstunde" ist es zu danken, sie hat das Verdienst, die Öffentlichkeit mit Teilen und Auszügen aus Brechts neuem Schauspiel "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" bekannt gemacht zu haben.
Diese Rundfunkfassung, die Brecht selbst mit verbindenden Zwischentexten erstellt hat, ist als Tondokument unter anderem mit den Stimmen von Fritz Kortner, Carola Neher, Helene Weigel, Ernst Busch und Peter Lorre erhalten. Ich gebe zunächst eine Inhaltsübersicht anhand der Brechtschen Zwischentexte.
In ähnlicher Dialektik benennt Brecht den Vers als Sprache des Helden, wenn er erklärt:
Diese "Helden" will ich in Shakespeareschen Versen sprechen lassen. Das Verse-Sprechen steht ihnen von Rechts wegen zu, denn die Unternehmungen der Händler und Wechsler sind nicht weniger folgenschwer - Leben oder Tod Zehntausender bestimmend - als die Schlachten der Heerführer in den Kriegen [...] bei Shakespeare.
Konsequenterweise hatte ja Graham am Anfang des Zitatzs angekündigt, den Hergang einer Schlacht erläutern zu wollen. [Wobei vielleicht noch zu ergänzen wäre, daß Brecht auch Shakespeare-Dramen, den "Hamlet" und den "Macbeth" für die "Berliner Funkstunde" eingerichtet hatte].
Das mag an Kommentar reichen, deutlich zu machen, daß derartige Adaptionen mehr der Theater- als der Hörspielgeschichte angehören. Dennoch haben sie die Geschichte des Hörspiels im Anfang wesentlich mit geprägt und bis weit in die 50er Jahre begleitet, vor allem in der Tradition der "Klassischen Bühne im Westdeutschen Rundfunk", die noch in den 60er Jahren 'Spielzeit' hatte und dabei durchaus Hörerwünschen entsprach.
Gehören also diese Adaptionen mehr der Theater- als der Hörspielgeschichte an, hat sich die Adaption epischer Vorlagen durchaus einen Platz in der Hörspielgeschichte gesichert. Allerdings wird man hier genauer differenzieren müssen, als dies bisher geschehen ist.
Daß man, in Ermanglung originärer Hörspiele, neben der Adaption von Bühnenstücken auch auf die Adaption geeigneter epischer Vorlagen verfiel, war naheliegend. Meist ist und bleibt dies Literaturvermittlung durch den Rundfunk: Literatur als Hörspiel.
Ich beschränke mich auf die Nennung weniger Belege, zu denen ich Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" in der Bearbeitung durch Arnolt Bronnen, Theodor Fontanes "Unterm Birnbaum" in der Bearbeitung durch Günter Eich ebenso zähle wie die Hörspielfassungen der Monolognovellen "Leutnant Gustl" von Arthur Schnitzler oder "Schwester Henriette" von Hermann Kesser. Solche Novellen- oder auch mehrteilige Romanadaptionen sind notdürftiger Leseersatz und interessant nur dort, wo sie - nach dem 2. Weltkrieg zum Beispiel - lange Zeit nicht mehr oder nur schwer zugängliche (Welt)Literatur vermitteln.
Von solchen Adaptionen deutlich zu unterscheiden sind vom Autor selbst vorgenommene Hörspielbearbeitungen, wie Alfred Döblins "Geschichte vom Franz Biberkopf" nach dem Roman "Berlin Alexanderplatz". Bereits der Titel der Adaption ("Die Geschichte vom Franz Biberkopf") hatte ja, wie wir gesehen haben, signalisiert, unter welchem Aspekt Döblin seinen komplexen Großstadtroman vereinfacht hatte.
Dieses Hörspiel ist wie seine Geschichte für die Forschung von mehrfachem Interesse. Mediengeschichtlich ist es interessant, weil es neben der Hörspiel- auch eine filmische Adaption gibt, wobei in beiden Fällen der Schauspieler Heinrich George die Hauptrolle spricht bzw. spielt. Daß der Roman ferner zunächst als Fortsetzungsroman in einer Tageszeitung erschien, bündelt praktisch ein ganzes Medienpaket. Hörspielgeschichtlich ist die Adaption interessant, weil die 1930 vorgesehene und auch angekündigte Sendung wegen Einspruches der Zensur nicht zustande kam. Regisseur, Sprecher und die Verantwortlichen der Berliner Funkstunde haben sich damals entschieden, die Einstudierung wenigstens auf Platten aufzuzeichnen, so daß sich dieses Hörspiel als Tondokument erhalten hat. Bevor ich daraus zitiere, gebe ich zum besseren Verständnis einen Hinweis auf den Inhalt. Wie Hiob von Gott, wird auch Biberkopf in seiner "Geschichte", die im Zuhälter- und Verbrechermilieu um den Alexanderplatz spielt, dreimal vom Schicksal geprüft. Das Zitat findet sich zu Beginn des letzten Hörspiel-Drittels. Mieze, die gegenwärtige Freundin Biberkopfs, versucht einen ehemaligen Kumpanen über die Vorgeschichte auszufragen und wird von diesem, da sie sich seinen Annäherungen widersetzt, ermordet. Biberkopf wartet vergeblich auf sie.
O-Ton: Döblin: Die Geschichte vom Franz Biberkopf (ca 8'40)
Reinhold: Und dat ist also Freienwalde [...]Da ich an späterer Stelle noch einmal von Döblins Hörspielverständnis und in diesem Zusammenhang ein weiteres mal von der "Geschichte des Franz Biberkopf" zu sprechen habe, möchte ich im augenblicklichen Zusammenhang lediglich herausstellen, daß die Inszenierung versucht, das im Roman angewandte Prinzip der Montage/Collage auch für das Hörspiel zu nutzen. z.B. im Zusammenfügen von Dialogsequenz und Bericht sowie im strukturierend eingesetzten Zitat von Volkslied (Es ist ein Schnitter), Schlager (Du bist das süßeste Mädel) und alttestamentarischem Spruch (Jegliches hat seine Zeit).
[...] Franz: Komisch ist det, komisch is det.
Innerhalb dieses Adaptionstypus, den ich als literarisches Hörspiel kennzeichnen möchte, hat sich als Sonderform ein Hörspiel entwickelt, das in seiner Realisation die adaptierte Vorlage gleichsam subjektiviert, wobei es vor allem zwei Regisseure sind, die hier zu nennen wären. Der von Theater und Film herkommende Max Ophüls mit seinen inzwischen nahezu klassischen Adaptionen von Schnitzlers "Berta Garlan" und Goethes "Novelle", aus der ich einen kurzen Beleg für eine im linearen Erzählen nicht, im Hörspiel dagegen sehr wohl möglichen Simultaneität wenigstens anspielen möchte.
Ein infolge eines Brandes auf einem Jahrmarkt ausgebrochener Tiger ist erschossen worden. Verzweifelt wirft sich die Schaustellerin über das getötete Tier. Ihr Schmerzausbruch und die Stimme des Erzählers/Vorlesers überlagern sich zunehmend, wobei der Erzähler/Vorleser z.T. fast eine Übersetzerfunktion wahrnimmt.
O-Ton: Ophüls/Goethe: Novelle (ca 2'20)
Erzähler/Vorleser: Hastig den Berg herauf kam eine Frau [...]Als zweiter Regisseur wäre der von der Musik herkommende Heinz von Cramer zu nennen, dessen zahlreiche Bearbeitungen literarischer Vorlagen sich im Laufe der Jahre zu einem eigenständigen Kapitel der Hörspielgeschichte summiert haben. Ich wähle als Beispiel eine Produktion aus dem Jahre 1985, Cramers Adaption von Franz Kafkas "Josefine, die Sängerin", und zitiere den Anfang des Hörspiels, um zu zeigen, wie Cramer den Erzähltext umformt zu einem akustischen Ereignis von Arien, Sprechgesängen und Flüstereien, wodurch es ihm gelingt, das Thema der Erzählung, die Musik als Paradigma für die Kunst schlechthin, Laut werden zu lassen und zugleich als Medium der Darstellung selbst zu nutzen.
[...] sie hatte nicht ausgeklagt, als über die Höhe des Berges [...] Reiter heransprengten.
O-Ton: Cramer/Kafka: Josefine die Sängerin (6'30)
Gesangsszene. Josefine: Ich liebe die Musik [...]In welchen extremen Ausprägungen das literarische Hörspiel auftreten kann, werde ich später erörtern, weshalb ich mich für den Moment auf das Nennen von zwei Beispielen beschränken kann. Undzwar André Almuros dem Club d'Essai des französischen Rundfunks und der dort entwickelten musique concrète verpflichtete "Nadja Etoilée" (nach Andre Breton). Und Paul Pörtners, der elektronischen Musik verpflichtetes akustisches Spiel "Alea", von dem ja schon ausführlicher die Rede war.
[...] Interview. Josefine: Auch das noch, Migräne! Hinaus!
Neben dieser Position des Literatur adaptierenden Hörspiels wird bereits in den frühen theoretischen Auseinandersetzungen eine Position des Hörspiels als eines Sprach- und Wortkunstwerks besetzt, des Hörspiels als Literatur.
Der Weg des Hörspiels im Rundfunk weist auf die intensivste Verinnerlichung des Wortes, der Sprache und ihres Inhalts, bringt es 1925 Julius Witte vom Mitteldeutschen Rundfunk auf die Formel. Und Ernst Hardt sekundiert ihm noch 1929:
Das Urelement der dramatischen Partitur scheint mir das Wort, scheint mir die Sprache zu sein, und der Rundfunk bedeutet die Re-Inthronisierung ihrer ursprünglichen Macht, die wir fast vergessen hatten. Der Hörspieler [...] ist für seine Wirkung einzig und allein gestellt auf die seelische und gedankliche Erfülltheit seines Innern, das sich nicht anders als in den tausendfachen Tönungen des gemeisterten Wortklanges offenbaren kann. Vertiefung in die Dichtung heißt für ihn also Leben und Sterben.
Diese Auffassung vom Wortkunstwerk, dieses Verständnis vom Hörspiel als Literatur (einen dahinter sich verbergenden fraglichen Literaturbegriff einmal außen vorgelassen) konnte sich zunächst durchsetzen und die Geschichte der Gattung bis in die 60er Jahre wesentlich prägen. Diese Vorstellung vom Hörspiel erfuhr ihre erste theoretische Ausformulierung in Aufsätzen Richard Kolbs, die er 1932 zum "Horoskop des Hörspiels" zusammenfaßte. Und sie hatte ihren ersten Höhepunkt 1930 in Eduard Reinachers laienspielnahem "Der Narr mit der Hacke", der in einer für diese Hörspielposition modellhaften Inszenierung durch Hardt als Tondokument erhalten ist. Noch 1964 versichert der damalige Leiter der Hamburger Hörspieldramaturgie, Heinz Schwitzke, in stillschweigendem Einverständnis mit Kolbs "Horoskop des Hörspiels":
Man sei sich damals schon einig gewesen, daß Reinacher der Idee des Hörspiels näher gekommen sei, als irgend ein anderer bis dahin, und daß man dem heute nur beipflichten könne. Schon 1962 hatte sich Schwitzke festgelegt, daß erst eigentlich mit Reinacher und diesem Stück [...] die Geschichte des modernen Hörspiels anfange, zur Erfüllung zu gelangen. Denn Reinacher habe in diesem Werk zum erstenmal verwirklicht, was später Günter Eich in seinen Stücken zur voller Reife entwickelt habe: ein lyrisches Sprachwerk, bei dem alle Sichtbarkeit irrelevant sei, das vor uns heruntermusiziert werde wie ein Musikwerk aus Sprache, und das direkt [...] in die Seele des Lauschers aufgenommen werden könne.
Der Inhalt des Hörspiels ist schnell erzählt. Ein schmaler Gebirgspfad fordert immer wieder Opfer unter den Lastträgern. Eines Tages kommt ein Mönch und beginnt, mit einer Hacke einen Tunnel durch den Granitberg zu schlagen und versucht damit, einen Mord zu sühnen, den er als ehemaliger Bannerherr aus Rachsucht begangen hat. Nach dreißigjähriger Arbeit am Tunnel, verspottet von den Einwohnern des Dorfes, kommt ein zweiter Fremder als Rächer des Ermordeten. Der Mönch erbittet die Gnade, sein Werk noch vollenden zu dürfen. Der Rächer hilft ihm dabei und verbeugt sich, als der Tunnel durchgebrochen ist, schließlich vor dem Büßer. Angesichts der himmlischen Gnade stirbt der Mönch vor Glück.
Ein solches Laienspielmelodram vom büßenden Samurai ist kaum geeignet, heute, nach "Rashomon", "Mono-no-aware" und anderen japanischen Filmen, noch Interesse zu wecken. Die Hochschätzung Schwitzkes ist kaum mehr verständlich. Was das Hörspiel dennoch als historisches Dokument anhörenswert macht, ist seine Inszenierung. Ich zitiere eine Sequenz ziemlich zu Anfang des Hörspiels. Der Büßermönch hat seine Arbeit begonnen. Die Bauern des abgeschiedenen Bergdorfs entdecken ihn und kommentieren ihre Entdeckung.
O-Ton: Reinacher: Der Narr mit der Hacke (4'20)
Musik. Hacke. Erzähler: Es wird Morgen [...]Weniger der Text, der übrigens alles andere ist als das lyrische Sprachwerk, das Schwitzke hier zu hören glaubte, - nicht der Text, vielmehr seine akustische Präsentation: die Frauenstimmen, das rhythmisierte Lachen, der Hackenschlag, machen diese Sequenz heute noch anhörenswert. Zugleich ist sie ein guter Beleg für die akustischen Vorstellungen der Hörspielverantwortlichen des Weimarer Rundfunks, speziell Fritz Walter Bischoffs und Ernst Hardts, die ich in der letzten Vorlesung bereits referiert habe.
[...] Das ist die Expedition gegen den Roßkäfer. Stimmen. Hacke.
Gemessen an seiner Präsentation ist die literarische Qualität aber nicht nur des Reinacherschen Hörspiels als Literatur zunächst zweitrangig. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Der erste: Von Ausnahmen wie Brecht, Döblin und wenigen anderen abgesehen, mochten sich zunächst die führenden Dichter und Schriftsteller nicht auf das akustische Medium Rundfunk einlassen. Das wurde in den Funkhäusern durchaus erkannt und zu ändern gesucht, etwa 1929 mit einer Kasseler Tagung, die unter dem Motto "Dichtung und Rundfunk" stand.
Ein zweiter Grund lag im Literaturverständnis der einzelnen Hörspielabteilungen, und das ließ - aus historischen Abstand gesehen - durchaus zu wünschen übrig. Zusätzlich spielten ferner die gemutmaßten aber auch realen Erwartungen der Rundfunkbenutzer, wie sie sich der Hörerpost ablesen ließen, eine Rolle. Dabei waren sich einzelne Hörspielverantwortliche wie Hans Flesch (in Frankfurt, dann in Berlin), Autoren wie Alfred Döblin oder Musiker wie Kurt Weill durchaus im Klaren, daß sich ein künftiges Hörspiel nur aus und unter den Bedingungen des neuen Mediums entwickeln konnte. Ich habe das bereits angedeutet und werde darauf auch noch mehrfach zu sprechen kommen.
Hier und jetzt wichtig ist mir ausschließlich die Feststellung, daß mit Reinachers "Der Narr mit der Hacke", mit der theoretischen Festlegung in Kolbs Hörspiel-Horoskop die Weichen für ein Hörspiel als Literatur gestellt waren, und damit für eine Hörspielerwartung, die die Geschichte der Gattung bis heute mit konturiert hat, besonders in den 50er Jahren, in denen es zu der bisher engsten Zusammenarbeit von Dichtung und Rundfunk kam. Namen wie Günter Eich, Wolfgang Hildesheimer, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger seien für diesen Zeitraum stellvertretend genannt, in den 60er Jahren gefolgt von Autoren aus dem experimentellen Lager, die sich zum Teil sehr gründlich mit den Möglichkeiten des Hörspiels auseinandersetzten. Ich nenne stellvertretend Franz Mon, Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Ludwig Harig und Jürgen Becker, Gerhard Rühm und Reinhard Döhl.
Für manche dieser Autoren ist die Zusammenarbeit mit dem Rundfunk nur eine wenn auch intensive Werkphase, so für Friedrich Dürrenmatt oder Helmut Heißenbüttel. Andere dieser Autoren haben dem Hörspiel stets die Treue gehalten, Günther Eich zum Beispiel von den frühen 30er bis Anfang der 70er Jahre, aber auch Jürgen Becker, der zunächst im Umfeld eines sogenannten Neuen Hörspiels bekannt wurde, sich dann aber einem Hörspieltypus zuwandte, den man panoramatisch nennen könnte. Diese Tendenz zum Epischen mit filmischen Methoden ist Anfang der 80er Jahre kein Einzelfall. Heinz von Cramers Entwurf eines ethnographischen Panoramas in "Verlorene Spuren" (nach Alejo Carpentier), eines mythologischen Panoramas in "Popul Vuh" (nach dem Schöpfungsmythos der Mayas) entspricht Jürgen Beckers Entwurf eines Dorfpanoramas in "Eigentlich bin ich stumm" aus dem Jahre 1982.
Das Programmheft des Westdeutschen Rundfunks für das zweite Halbjahr 1985 skizziert anläßlich einer Wiederholung den Inhalt des Hörspiels und die Intention des Autors wie folgt:
Agnes, meist am Fenster sitzend und fotografierend, kämpft mit Schreiben und schnellen Polaroidbildern gegen das Vergessen an. "Ich nehme die Spur auf", sagt sie, "bewege mich hinter den Dingen her, im Bereiche des Verschwindens." Die Aufzeichnungen über ihr Leben im Dorf, wohin sie nach langjähriger Abwesenheit zurückgekehrt ist, sind an ihren Mann gerichtet, der sie verlassen hat und wieder in die Stadt gegangen ist. Noch in der Rolle der Wartenden verhaftet, betätigt sie sich bereits als Sammlerin, Entdeckerin und Archivarin von alten und neuen Geschichten, Menschen und Beziehungen. Jürgen Becker entwirft in seinem Hörspiel das dichte Portrait eines deutschen Dorfes und einer Frau, die ihre Identität nur aus der Konfrontation mit diesem Dorf beziehen kann. Doch er zeigt Agnes nicht nur als neugierige Beobachterin und poetische Ethnologin des Dorflebens, sondern ebenso als dessen Gefangene. Denn es ist auch ein Hörspiel über die Abhängigkeit aller voneinander. In kurzen Szenen und knappen Charakterisierungen, in denen viele soziale und psychologische Motive zusammengefügt sind, erhellt es den Zusammenhang von Umwelt, Erziehung, Psyche, Fremdbestimmung und Rollensucht und macht vor allem die enge Verbindung von Kindheit und Heimat, Geschichten und Geschichte deutlich.
In der Tradition des Typus Hörspiel als Literatur und auch, um den Abstand zu den Anfängen zu dokumentieren, zitiere ich den Anfang des Hörspiels, der wie die zitierte Reinachersequenz morgens in einem Dorf einsetzt:
O-Ton: Becker: Eigentlich bin ich stumm (9'20)
Eichelhäher. Agnes: Der Morgen hat angefangen [...]Der historische Abstand zu Reinachers "Der Narr mit der Hacke" ist ohrenfällig: sowohl in der Sprache wie im den Text verifizierenden Einsatz der Geräusche, dem Ratschen des Eichelhähers, den Geräuschen eines Düsenjägers und eines Mofas. So daß ich mir einen weiteren Kommentar ersparen kann. Statt seiner möchte ich vielmehr noch ein weiteres Zitat anschließend, diesmal, um zu belegen, wie wenig exotisch und märchenfern sich Japan heute im Hörspiel eines deutschsprachigen Autors, des österreichischen Malers und Schriftstellers Fritz Mikesch. darstellt. Das Hörspiel läßt sich nicht auf eine einfache Fabel reduzieren. Es thematisiert unter anderem das Zusammentreffen von traditionellem und modernem, westlich orientiertem Japan. Zentraler Ort ist der Faito-Konzern, dessen Name sich erschließt, wenn man weiß, daß sich die Japaner bei vielen Gelegenheiten, beim Sport aber auch im Betrieb, mit dem Wort faito anfeuern und daß dieses Wort die japanisierte Form des englischen fight ist.
[...] Agnes: Bloß hat er Lesen nie gelernt. Mofageräusche.
In der 15. Sequenz, die ich im folgenden zitiere, werden krisenhafte Vorgänge im Betrieb am Schluß konfrontiert mit Zitaten aus "Gorin no sho", dem "Buch der fünf Ringe", einer Darstellung der Schwert-Kunst und des Schwert-Weges, die im 16. Jahrhundert von einem der bekanntesten Samurai, Miyamoto Musashi, verfaßt wurde.
Wie schon bei den genannten und zitierten Hörspiel-Adaptionen und Hörspielen von Heinz von Cramer und Jürgen Becker, sind auch bei Fritz Mikesch filmische Vorstellungen bzw. Bezüge intendiert, wenn er zum Beispiel die beiden Wörter ki und no (die wörtlich übersetzt Baum, aber auch Holz [= ki], und Geist, Stimmung, Gefühl, Sinn, aber auch Gedanke und Sorge) zum Namen Kino zusammenzieht, was gestern (auch Funktion?) bedeutet, oder einfach auch nur Kino in unserem Sinne. Vor allem aber, wenn er sich in einer Nachbemerkung zu seinem Hörspiel wünscht, daß bei der Realisation aus dem vorliegenden Manuskript [...] ein Hör-Film" werde.
O-Ton: Mikesch: Faito. Japanische Schritte. (7'30)
Ton. Kenso: Diagnose Dystonie [...]Die Tendenz zum Epischen mit filmischen Methoden, das Spiel, das Mikesch mit den Wörtern ki und no treibt. sein Wunsch schließlich nach einer Realisation seines Manuskripts als Hör-Film sind hörspielgeschichtlich nicht überraschend. Sie verweisen vielmehr auf die Bedeutung des Films und seiner Ästhetik für die Genese des Hörspiels und dabei in die Anfänge der Gattungsgeschichte zurück.
[...] Sato: Herr Kino, bitte zur Besprechung.
Bereits 1925 hatte ja, wie schon dargestellt, der Komponist und Rundfunkkritiker Kurt Weill parallel zu einer absoluten Radiokunst an eine Filmkunst (ohne) Handlung, Thema oder auch nur inneren Zusammenhang gedacht und geschrieben: der absolute Film sei eine 'melodische' Kunst, die nach musikalischen Gesetzen erarbeitet sei, die absolute Radiokunst dagegen eine Erweiterung der Musik.
Mich interessiert hier zunächst noch nicht der Bezug auf die Musik, sondern die Berücksichtigung des Films. Denn nicht nur Weill, auch Bischoff, Flesch, Alfred Braun und andere haben sich in ihren Überlegungen zu einer rundfunkeigenen, einer Radiokunst immer wieder auf den Film bezogen, und dies sowohl theoretisch als auch praktisch.
1929 unterscheidet Braun in einem Vortrag zwischen S e n d e-spiel und einer funkgeborenen dramatischen Literatur, dem Hörspiel. Dieses besondere Hörspiel des Rundfunks sei einzig für die Aufnahme durch das Ohr geschaffen, aus den Gegebenheiten des Mikrophons und allein für die Möglichkeiten des Mikrophons.
Braun bezieht sich dabei auf die Aufführung eines akustischen Film im zweiten Jahr der deutschen Sendespieltätigkeit. Akustischer Film - fährt Braun dann fort - so nannten wir in Berlin in einer Zeit, in der ein Funkregisseur nicht nur das Regiebuch zu besorgen hatte, sondern sich auch seine Manuskripte mehr schlecht als recht schreiben mußte, ein Funkspiel, das in schnellster Folge traummäßig bunt und schnell vorübergleitender und springender Bilder, in Verkürzungen, in Überschneidungen - im Tempo - im Wechsel von Großaufnahmen und Gesamtbild mit Aufblendungen, Abblendungen, Überblendungen bewußt die Technik des Films auf den Funk übertrug. Jedes der kurzen Bilder stand auf einer besonderen akustischen Fläche, in einer besonderen akustischen Dekoration, zwischen besonderen akustischen Kulissen, wie man damals so gern sagte:
Eine Minute Straße mit der ganz lauten Musik des Leipziger Platzes, 1 Minute Demonstrationszug, eine Minute Börse am schwarzen Tag, 1 Minute Maschinensymphonie, 1 Minute Sportplatz, 1 Minute Bahnhofshalle, 1 Minute Zug in Fahrt usw.
Das Decrescendo, das Abblenden oder, um ins Akustische zu übersetzen, das Abdämpfen, das Abklingen einer Szene leitet über in das Aufklingen, das Crescendo der nächsten Szene. Eine einfache, typisch primitive Kientopphandlung (sic, R.D.) mit Verfolgungen, mit Irrungen, Wirrungen und all den unbegrenzten Möglichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, die wir aus den ersten Filmen her kennen, ging durch das Spiel. Warum nicht, - uns handelte es sich ja nur um die Form; füllen sollten und sollen sie andere, nämlich die Herren von der Dichterakademie und ihre Herren Kollegen.
Und das Ergebnis dieses ersten gewiß nicht vollkommenen Versuches. Unser Publikum hat uns mit größter Begeisterung länger als zwei Stunden zugehört. [...]
Auf die dem Film entlehnte Technik gründet sich seit unserem ersten Versuch mit dem "akustischen Film" die größe Zahl aller bisher dagewesenen Hörspielversuche [Hervorhebung von mir, R.D.]: keine Szene breit ausspielen; sowie der Fortgang der Handlung erfaßt ist: fertig abblenden, keine Pause, kein Zwischenspiel; sowie die neue Situation genügend bezeichnet ist: fertig, überblenden! Welche Ausdrucksmöglichkeiten bieten sich einem dramatischen Dichter in einem solchen Spiel! Die der größten Unbegrenztheit, wie sie nicht einmal der Film hat; Zeit und Raum sind aufgehoben.
Neben der Blende als Verknüpfungsmöglichkeit von akustischen Sequenzen, wie Braun sie beschreibt, dachte man im Zusammenhang der Suche nach geeigneten Aufzeichnungsmöglichkeiten sehr früh auch schon an den Schnitt. 1928 bereits zeigte sich Flesch überzeugt, daß bei einer künftigen Entwicklung des
Hörspiels aus dem Mikrophon heraus [...] nur der Tonfilm [...] in der Lage sein werde, den Willen des Regisseurs bis ins letzte auszuführen.
Bei einem auf Tonfilm aufgenommenen Hörspiel kann nach Abhören durch Schneiden, Überblenden, Absetzen usw. ein Gebilde geschaffen werden, das der Regisseur als vollständig gelungen betrachtet und nunmehr abends dem Hörer darbietet.
Dieses Experimentieren mit Tonfilmstreifen war durchaus erfolgreich. Zwei Produktionen von 1930 sind bekannter geworden:
Bischoffs "Hallo! Hier Welle Erdball!!" und Walter Ruttmanns "Weekend", wobei letzteres schon deshalb gewichtig ist, weil Ruttmann als Filmemacher einschlägige Erfahrungen mit Schnitt und Montage in seine Realisation und damit in die Hörspielgeschichte einbringen konnte, auch wenn die Hörspielgeschichtsschreibung dieses wichtige Experiment bis heute nicht wahrgenommen hat.
O-Ton: Walter Ruttman: Weekend
In meiner Typologie möchte ich diesen Hörspieltypus akustisches Spiel nennen, ihm allerdings zunächst noch nicht eines der vielen hier denkbaren Hörspiele seit Ende der 60er Jahre gegenüberstellen, sondern ein Zitat. Es gehört zu den Kuriosa der Hörspielgeschichte, daß der kompositorische Einsatz des Schnitts, wie in Ruttmann vorgeführt hatte, in Vergessenheit geriet. Noch 1963 galt Schwitzke die Blende als das "modernste Kunstmittel", als "ein neues Ordnungsprinzip". So daß die kompositorischen Möglichkeiten des (harten) Schnitts erst wiederentdeckt werden mußten. Undzwar von Heinz von Cramer, der mir in einem Brief schrieb:
Das war 1965, glaube ich, bei der Endfertigung des Hörspiels von Konrad Wünsche, "Gegendemonstration". Wir hatten da eine Szene mit Passanten, die durch eine Straße flüchten sollten, in der geschossen wird, bis sie schließlich in Hauseingängen notdürftig Deckung finden. Die Ausrufe und Kurzdialoge waren bereits mit Schauspielern aufgenommen worden, nun sollten sie auf gewohnte Weise mit den entsprechenden Geräuschen untermischt werden: Laufschritten, Einzelschüssen, MP-Salven. Dabei stellte sich zwar eine gewisse und auch glaubwürdige Pseudorealität ein, wie sie im Hörspiel ja üblich war - aber alles wirkte zu gemütlich, der Hörer wurde nicht einbezogen, er blieb gleichsam unbeteiligter Zeuge. Ich wollte aber - und vor allem das Stück wollte es! - daß er sozusagen mitflüchtete, zumindest in den Sog der Szene geriet. Also versuchte ich, die Geräusche, statt sie zu unterlegen, zwischen die Sätze der Passanten zu schneiden. Sogar zwischen einzelne Worte und Silben der jeweiligen Sätze. Ganz nach den rhythmischen Gegebenheiten, die da entstanden. Denn es waren vor allem Rhythmen, die sich ergaben, sofort, gleich nach den ersten, noch schüchternen Schnitt-Versuchen. Länge oder Kürze der Zwischenschnitte bestimmten Verzögerung oder Vorwärtsdrängen der Szene. Während die Klangkulisse den Hörer beruhigt, ja geradezu abstumpft in manchen Fällen - setzen akustische Signale die Phantasie des Hörers in Bewegung, er muß sie ergänzen, weiterführen, aus ihnen erst seine Wirklichkeit machen.
Als Beispiel eines neueren Hörspiels, für das der Schnitt das zentrale Kompositionsmittel ist, lasse ich Cramers Ausführungen jetzt - wenn auch nicht mit harten Schnitt so doch ohne weiteren Kommentar - Ludwig Harigs Collage "Das Staatsbegräbnis" folgen.
O-Ton: Ludwig Harig: Das Staatsbegräbnis (4'20)
Da von Harigs Hörspiel-Collage aaO [R.D.: Noten, O-Ton, Dokumente] ausführlicher die Rede sein wird, darf ich es für heute bei dem Zitat belassen und zum Schluß dieses Kapitels kommen.
Ich habe versucht, zur Radiokunst Hörspiel in Stichworten und -proben historisch und typologisch hinzuführen. Dabei ging es mir vor allem um die These, daß die synchronisch in der Hörspielgeschichte angelegten Grundpositionen die Entwicklung der Gattung auch diachronisch bestimmt haben. Daß der Phase des Sendespiels eine Phase des literarischen Hörspiels, daß dem Hörspiel als Literatur, dem Wortkunstwerk das akustische Spiel folgen. Daß die Annäherung an das Hörspiel über die literarische Vorlage abgelöst wird durch den zeitweilig dominierenden Versuch, das Hörspiel als literarische Gattung des Rundfunks zu etablieren, Und daß dieser Versuch wiederum abgelöst wird durch die Rückbesinnung auf ein rundfunkeigenes Spiel mit und aus den Mitteln wie zu den Bedingungen des Mediums. Ein auffällig starker, auch inhaltlicher Medienbezug des Hörspiels seit Ende der 60er Jahre wäre hier ein zusätzliches Indiz. Das alles ist so natürlich überspitzt und verkürzt, zeichnet aber dennoch die große Kontur eines zunächst theoretisch breit gefächerten Ansatzes, seiner immer mediengerechteren Erprobung und Entwicklung bis zu dem heutigen, aktuellen Angebot, das in der Praxis zu realisieren fähig ist, was die Verantwortlichen und Interessenten zunächst oft nur träumen konnten.
*) Dejiny a typologie nemecké rozhlasové hry / Geschichte und Typologie des deutschsprachigen Hörspiels, Vortrag auf dem Symposium Hra se slystelným. Aspekty nemecké rozlasové hry / Spiel mit Hörbarem. Aspekte des deutschsprachigen Hörspiels. Goethe-Institut Prag in Zusammenarbeit mit dem Tschechischen und den Westdeutschen Rundfunk, 22.2 - 24.2.1994. Ebd. ferner: Teorie a praxe rozhasový her / Hörspieltheorie und -praxis und Notý, O-tón, dokumenty / Noten - O-Ton - Tokumente.