In diesen kläglichen Tagen, unkte ein nicht unbedeutender Schriftsteller und Kunstkritiker, ist eine neue Industrie hervorgetreten, die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem Glauben zu bestärken [...], daß die Kunst nichts anderes ist oder sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur [...]. Ein rächender Gott hat die Menge erhört. Daguerre ward sein Messias.
Diese Unkerei zielte nicht auf jene modernen Fotorealisten, die Fotografien ins fremde Medium der Malerei umsetzen. Sie war auch keine Kritik an den planen Widerspiegelungs- bzw. Abbildungstheorien linker Provenienz. 1857 im "Salon" veröffentlicht, formuliert das einleitende Zitat vielmehr grundsätzlichere Bedenken Charles Baudelaires.
Wird es der Photographie erlaubt, fährt nämlich Baudelaire fort, die Kunst in einigen ihrer Funktionen zu ergänzen, so wird diese alsbald völlig von ihr verdrängt sein, dank der natürlichen Bundesgenossenschaft, die aus der Menge ihr erwachsen wird. Sie muß daher zu ihrer eigentlichen Pflicht zurückkehren, die darin besteht, der Wissenschaften und der Künste Dienerin zu sein.
Baudelaires kritischer Vorbehalt markiert in der nun schon fast 150jährigen Diskussion um den ästhetischen Stellenwert der Fotografie eine Position und ist angesichts der geschichtlichen Entwicklung in seiner Formulierung sicherlich nicht mehr zu halten. Zwei Aspekte führen aber direkt zu den als "Fotolithografien" ausgewiesenen Arbeiten Manfred Kärchers.
Negativ der von Baudelaire angeprangerte Aberglaube, daß die Kunst nichts anderes ist oder sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur. Denn genau das sind die Fotolithografien Manfred Kärchers nicht, obwohl sie - in der Großaufnahme wie in der Totalen - Natur erkennen lassen.
Positiv kann man sich den Fotolithografien Manfred Kärchers über das Baudelairsche Diktum nähern, daß es eigentliche Pflicht der Fotografie sei, [der Wissenschaft und] der Künste Dienerin zu sein, wobei man diese Forderung allerdings anders verstehen muß, als Baudelaire sie gedacht hat.
Um von 1857 endgültig den Sprung nach heute zu machen: die Fotolithografien Manfred Kärchers sind keine Abbildungen von Natur. Sie sind auch nicht unter dem Gesichtspunkt der fotografischen "Wahrheit", der Frage, was Fotografie zur Erkenntnis der Wirklichkeit leiste, zu diskutieren - Fragen, die 1981 die öffentliche Podiumsdiskussion der Tagung der Gesellschaft deutscher Lichtbildner bestimmten.
Manfred Kärchers Fotolithografien gehören vielmehr - wie bereits ihr Name signalisiert - in den Kontext der grafischen Künste, und dort in einen Zwischenbereich, für den von Seiten der Fotografie gelegentlich Bezeichnungen wie "Lichtgrafik" oder "Foto-Grafik" vorgeschlagen wurden. Erstere durch den Kunsthistoriker und -kritiker Franz Roh anläßlich der von Otto Steinert angeregten Ausstellung "Subjektive Fotografie" (1951 und 1955) in Saarbrücken, letztere anläßlich einer Sonderausstellung "Sammlung Galerie Clarissa" (1968) im Kestner-Museum in Hannover. Von diesen und anderen Vorschlägen hat die Bezeichnung "Foto-Grafik" inzwischen einen gewissen Konsens erreicht, was sich etwa damit belegen ließe, daß der englische Kamerakünstler und Fachmann für angewandte Fotografie (Stuttgarter Zeitung 4.4.1981) Sam Hawkins seine neuesten Arbeiten "Photo Graphics" nannte.
Zur richtigen Beurteilung der Fotolithografien Manfred Kärchers wird man sich ferner zwei Tatsachen in Erinnerung rufen müssen. Zunächst, daß sich trotz der Bedenken Baudelaires schon recht bald Maler des Fotoapparates als eines Hilfsmittels bedient haben und in zunehmendem Maße bedienen, um eine bestimmte Strecke des Entwurfs abzukürzen. So finden heute Fotografien ebenso als Bildvorlage Verwendung wie als Bildelement in der Collage. Sie können zum Bildträger ebenso werden wie zu Hintergrund oder Ausgangspunkt von Bildereignissen.
Zweitens wird man sich angesichts einer immer weiter ausufernden massenhaften Knipserei in Erinnerung bringen müssen, daß die Aufnahme des Fotografen eigentlich nur das Rohmaterial bereit stellt, daß die eigentliche künstlerische Arbeit erst mit der Entwicklung des Films in der Dunkelkammer, dem 'Atelier' des Fotografen, beginnt. In der Aufnahme allenfalls 'skizziert', wird erst durch Entwicklung, Ausschnitt, Vergrößerung die Bildvorstellung gesteuert, das Bild festgelegt.
Manfred Kärcher geht bei seinen Fotolithografien einen entscheidenden Schritt weiter und mit ihm über die Möglichkeiten der Fotografie im engeren Sinne hinaus, wenn er seine Negative nicht vergrößert und abzieht, sondern auf einen Druckträger umkopiert und seiner Bildvorstellung entsprechend aussteuert. Nicht das Negativ sondern die Druckplatte ist also das Medium Manfred Kärchers, nicht der Hoch- oder Mattglanzabzug sondern die Lithografie, genauer: die Zinklithografie sein Ziel. Da Manfred Kärcher vom Schwarzweißfilm ausgeht, kommt der für den Druck gewählten Farbe ein zusätzliches Gewicht zu.
Durch diesen technischen Prozeß entfernen sich Manfred Kärchers Fotolithografien in dem Maße von der Fotografie, wie sie sich einer Grafik nähern, bei deren Entstehen dem Foto als Aufgabe zufiel, eine bestimmte Strecke des Entwurfs abzukürzen. Und sie bleiben von dieser Grafik zugleich dadurch unterschieden, daß das, was auf ihnen zu sehen ist, durch die den künstlerischen Prozeß auslösende Aufnahme inhaltlich determiniert bleibt.
Wie entscheidend dieser technische Schritt Manfred Kärchers ist, was er in seiner Konsequenz bedeutet, kann eigentlich nur der Vergleich mit Fotografien und Grafiken entsprechender Sujets verdeutlichen, den ich in diesem Zusammenhang durch Hinweise ersetzen muß. So ließen sich auf der einen Seite die griechischen und jugoslawischen Landschaften Manfred Kärchers mit den Landschafts-Fotografien seines Kollegen Detlef Orlopp, die 'Steinbilder' aus Wales und der Bretagne mit der bekannter gewordenen Fotoserie der "Sardischen Felsbilder" Otto Baranowskys (1965) instruktiv vergleichen. Und zugleich ließe sich der Hochglanzabzug dort von der taktilen Aufforderung hier unterscheiden, durch deren matt oliv- bis blaugraue Töne sich Manfred Kärcher auch farblich dem Sujet Stein nähert.
Auf der anderen Seite sind die Kärcherschen Fotolithografien den Landschaftsradierungen Ulrich Zehs zum Beispiel durchaus nicht unverwandt und zugleich von dessen Landschaftszeichnungen, von der Freiheit, die auf ihnen der Farbstift sich gegenüber der Fotovorlage nehmen kann, durchaus entfernt. Von den intentionalen Unterschieden ganz zu schweigen.
Manfred Kärchers 'Inhalte' sind, den Titeln der Fotolithografien ablesbar, Landschaften, die Bretagne, Kanada, Jugoslawien, Schottland, Wales, in Ausschnitten, die ein Tourist kaum belichten würde. Sie sind typisch und werden durch den gewählten Ausschnitt zugleich in einer Weise abstrakt, die sich dem Betrachter zu einer Urlandschaft zwischen dem zweiten und dritten Schöpfungstag synthetisiert. Es ist eine Landschaft noch oder schon wieder ohne den Menschen, von dem in ihr nicht einmal eine Spur zu finden ist. Selbst ihr gelegentlicher Pflanzenbestand wirkt ausgesprochen leblos, hat allenfalls eine für das Bildganze strukturelle Funktion.
Dieser Abstraktion entspricht auch die von Manfred Kärcher bevorzugte Reduktion auf Stein und Wasser in ihrer wechselseitigen Bedingtheit. Der Stein (das Ruhende, das Statische) setzt dem Wasser (dem Bewegten, dem Dynamischen) Widerstand entgegen. Das Wasser (das Bewegte, das Dynamische) zerstört den Stein (das Ruhende, das Statische). Zwischendurch wird anderes sichtbar: die scheinbar beruhigte bzw. sich beruhigende Wasserfläche, bizarr gehäufte, bedrohlich gefaltete Felsen, Felswände, an denen Wasser herabstürzt, womit auch in der Vertikalen das Wechselspiel beginnt, das für die Horizontale bereits skizziert wurde.
In diesem Wechselspiel erscheinen (z.B. in der Bretagne-Mappe, der Wales-Serie) die Steine oft in zufälligen Formen, die den Betrachter das eigentlich Materiale immer mehr vergessen, die ihn zunehmend Organisches assoziieren lassen. Die von Manfred Kärcher im Landschaftsausschnitt gezeigten organischen Formen können dabei gelegentlich an Plastiken Hans Arps erinnern, vor allem an jene, die Arp (wieder) in die Natur ausgesetzt hat, überzeugt, sie würden sich natürlich in die Natur einfügen und erst bei genauerem Hinsehen erkennen lassen, daß sie von Menschenhand geformt seien.
Ein kleines Bruchstück einer meiner Plastiken, an der mich eine Rundung, ein Gegensatz reizt, beschrieb Arp ihre Entstehung, ist oft der Keim einer neuen Plastik. Ich verstärke die Rundung oder den Gegensatz. Neue Formen sind dadurch bedingt. Unter den neuen Formen wachsen zwei besonders stark. Ich lasse diese zwei weiterwachsen, bis die ursprünglichen Formen nebensächlich und beinahe ausdruckslos geworden sind. Schließlich unterdrücke ich eine der nebensächlichen ausdruckslosen, damit die übrigen wieder sichtbarer werden.
Eine solche Kunst nannte Arp konkrete, gelegentlich auch elementare Kunst, und er verstand darunter eine Kunst, die nicht abbilden sondern bilden wollte. Die nicht die Natur nachahmen, sondern wie die Natur bilden sollte. Und dies nicht mittelbar sondern unmittelbar.
Das aber ist zugleich der zentrale Unterschied zwischen den von Kärcher in der Natur vorgefundenen Steinformen und den in die Natur ausgesetzten geformten Steinen Arps. Waren letztere unmittelbar wie die Natur gebildet, zeigen Manfred Kärchers Fotolithografien, welche Steinformen die Natur unmittelbar formt. Handelt es sich bei Arp trotz ihres Entstehungsprozesses um in der Natur ausgesetzte definite Formen, sind die von Manfred Kärcher in der Natur gefundenen Formen indefinite Zustände eines Prozesses, aus dem die Kamera einen augenblicklichen Moment herausgelöst, dem die Fotolithografie ästhetische Dauer verliehen hat. Wobei sich der gezeigte Gegenstand und seine Präsentation gleichsam tautologisch entsprechen, wenn Manfred Kärcher die gefundenen Steinformen mit Hilfe der Zinklithografie abbildet, die im Grunde nichts weiter ist als eine technische Varietät der klassischen Lithographie, des Steindrucks.
Ein derartiges Zusammentreten von Stein und Steindruck, von Kunstgegenstand und Kunstmittel ist kein Zufall, wenn man die Biographie des Fotolithografen in Anschlag bringt. Manfred Kärcher ist nämlich zunächst als Reproduktionsfotograf ausgebildet worden und lehrt heute nach einem Studium an der Ingenieurschule für Druck in Stuttgart als Dozent für Satz, Druck und Reproduktion an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. In welchem Maße dieses Fach nicht nur kunsthandwerkliche sondern zugleich kunstsoziologische und ästhetische Fragen einschließt, hat Walter Benjamin in seiner "Kleinen Geschichte der Fotographie" (1931) und dem berühmteren Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" zum ersten Mal angedeutet. Benjamins Uberlegungen ordnen die Fotografle dabei ein in die Geschichte der Reproduktionstechniken, in der mit der Lithografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundsätzlich neue Stufe [...] erreicht werde.
Ihr viel bündigeres Verfahren, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheide, habe der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem), sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Grafik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum erstenmal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte.
Die Degeneration vom Landschaftsbild zum -stich, von der lithografierten Landschaft der Illustrierten über die zuerst schwarzweiße, dann farbige Ansichtskarte zu Ferienfoto und -film belegen für einen Fall Benjamins historische Skizze. Zu dieser Entwicklung verhalten sich die Fotolithografien Manfred Kärchers praktisch rückläufig: in der Verbannung des Menschen aus der Ferienlandschaft, in der unüblichen Aufnahme der Landschaft und schließlich in einer historisch noch älteren Reproduktionstechnik.
Zugleich öffnen sie die Perspektive auf einen von Walter Benjamin übersehenen oder nicht weiter beachteten Berührungspunkt zwischen Steindruck und Lichtbild in der Geschichte der Fotografie. 1816 begann nämlich Joseph Nicéphore Niepce in der Absicht, Lithographien mechanisch herzustellen [...], mit fotographischen Versuchen auf Chlorsilberpapier. Ich darf mich im folgenden einer neueren Enzyklopädie anschließen und fortsetzen, daß Niepce nach Scheitern dieser Versuche dazu überging, dünne Bitumenschichten zu verwenden, die durch Licht erhärten und deren unbelichtete Teile in Terpentinöl löslich sind. 1822 gelang ihm auf Glas eine heliographische Reproduktion eines Stiches im Kontaktverfahren. In den folgenden Jahren machte er heliographische Versuche auf lithographischem Stein und auf Metall (Zinn, Zink und versilberte Kupferplatten); für den Papierabzug benötigte Niepce Metallplatten, die sich ätzen ließen und von gewisser Härte waren. 1826 gelang ihm die erste befriedigende Kameraaufnahme (der Hof seines Landhauses) auf Zinn bei etwa acht bis zehnstündiger Belichtung. Im gleichen Jahr entstand im Kopierverfahren die einzige Heliographie, die er von Augustin François Lemaître ätzen ließ und von der zwei Drucke gezogen wurden. Niepce wurde somit 1826 zum Erfinder der Photographie und des ersten photomechanischen Reproduktionsverfahrens.
1974, also knapp 150 Jahre später, beginnt Manfred Kärcher mit seinen ersten Fotolithografien zu experimentieren, treten Foto- und Lithografie, deren Wege sich nach den Versuchen Niepce's getrennt hatten, wieder zusammen, bekommen ein Produktionsschritt und ein Produktionsvorgang, die in der Entwicklungsgeschichte der Fotografie lediglich experimentellen Wert hatten, ihren ästhetischen Sinn. Indem er die Entwicklung der Reproduktionstechniken praktisch umkehrt, gelingt ihm der produktive Schritt
2. Manfred Kärchers Fotolithographien in Horb (1987)
Ausstellungen bestimmen das Gesicht einer Galerie. Und es sieht so aus, als ob sich das Kunstkabinett Bacher mit der Zeit vor allem auf das Thema der Landschaft konzentrieren, seinen Freunden anschaulich demonstrieren will, in welcher Breite ein scheinbar unaktuell gewordenes Thema nicht nur modern, sondern höchst aktuell ist. Beginnend mit der Ausstellung der "Farblandschaften & -ereignisse" Ulrich Zehs, über die Landschaftsprojektionen Hans Schreiners, die sublimierten Landschaften Helmut Schusters zu den Landschaftsausschnitten Manfred Kärchers hat das Kunstkabinett Bacher innerhalb eines knappen Jahres eine Vielfalt dessen angeboten, was die künstlerische Auseinandersetzung mit Landschaft gerade heute wieder spannend macht.
Aus dem sinnlichen Erleben der Natur, hatte Wilhelm Gall im März dieses Jahres pointiert, komme Helmut Schusters Landschaftsmalerei, die sich - so Gall - weder mit der realistischen Wiedergabe der Landschaft noch mit einer impressionistischen Fixierung des stimmungsvollen Augenblicks begnüge, sondern den äußeren optischen Eindruck durch das innere Gefühl und durch die Kontrolle der Reflexion zum Typischen verdichte. Kann man - wie Gall - die Landschaftsbilder und -gouachen Helmut Schusters als Inbilder von Landschaft bezeichnen, entfernen sich die Arbeiten Ulrich Zehs von ihrem Ausgangspunkt, entwerfen die Arbeiten Hans Schreiners ideelle Landschaften. Geht Ulrich Zeh, hatte ich anläßlich der Schreiner-Ausstellung im Oktober letzten Jahres zu unterscheiden versucht, geht Ulrich Zeh (fotografierten) realen Landschaften aus, die sich im Atelier zu Farblandschaften abstrahieren, schreibt Ulrich Zeh seinen Farblandschaften und -ereignissen Strudel und Untiefen ein, um das Trügerische vermeintlicher Idyllik zu signalisieren, verfährt Hans Schreiner praktisch umgekehrt. Denn seine Landschaften entstehen ausschließlich im Atelier aus abstrakt-materialen Malvorgängen. Und sind als Ergebnis dieser Malvorgänge eher landschaftliche Ideation.
Wiederum ganz anders erscheint Landschaft auf den Fotolithografien Manfred Kärchers, die den Landschaftradierungen Ulrich Zehs durchaus nicht unverwandt sind, sich jedoch von Ulrich Zehs Landschaftszeichnungen und -bildern entschieden entfernen durch die - gemessen an der Freiheit von Farbstift und Malpinsel - eingeschränkten technischen Bedingungen.
Manfred Kärchers Inhalte sind, den Titeln der hier ausgestellten Arbeiten ablesbar, Landschaften der Bretagne, Kanadas, Jugoslawiens, Schottlands, Wales', der Türkei oder Spaniens. Und es sind Landschaften in Ausschnitten, die ein Tourist so nie wählen und belichten würde. Sie sind typisch und werden im gewählten Ausschnitt zugleich in einer Weise abstrakt, die sich dem Betrachter zu einer Urlandschaft zwischen dem zweiten und dritten Schöpfungstag synthetisiert. Man kann es aber auch anders ausdrücken und sagen: es sind Landschaften noch oder schon wieder ohne den Menschen, von dem in ihnen nicht einmal die Spur zu finden ist. Selbst ihr gelegentlicher Pflanzenbestand wirkt ausgesprochen leblos, hat allenfalls eine für das Bildganze strukturelle Funktion.
Dieser Abstraktion entspricht die von Manfred Kärcher bevorzugte Reduktion auf Stein und Wasser in ihrer wechselseitigen Bedingtheit. Der Stein (das Ruhende, das Statische) setzt dem Wasser (dem Bewegten, dem Dynanischen) Widerstand entgegen. Das Wasser (das Bewegte, das Dynamische) zerstört den Stein (das Ruhende, das Statische). Aber auch anderes wird sichtbar: unruhige oder sich beruhigende, scheinbar beruhigte Wasserfläche; bizarr gehäufte, bedrohlich gefaltete Felsen, Felswände, von denen Wasser herabstürzt, womit auch in der Vertikalen das Wechselspiel beginnt, das ich für die Horizontale bereits skizziert habe.
In diesem Wechselspiel erscheinen die Steine oft in zufälligen Formen oder Formausschnitten, die den Betrachter das eigentlich Materiale immer mehr vergessen lassen, die ihn zunehmend Organisches, Körperliches assoziieren lassen. Und diese organischen Formen erinnern gelegentlich sogar an Plastiken Hans Arps, vor allem an jene, die Hans Arp wieder in die Natur aussetzen wollte, überzeugt, sie würden sich natürlich in die Natur einfügen und erst bei genauerem Hinsehen erkennen lassen, daß sie von Menschenhand geformt seien.
Ein kleines Bruchstück einer meiner Plastiken, an der mich eine Rundung, ein Gegensatz reizt, beschrieb Arp ihre Entstehung, ist oft der Keim einer neuen Plastik. Ich verstärke die Rundung oder den Gegensatz. Neue Formen sind dadurch bedingt. Unter den neuen Formen wachsen zwei besonders stark. Ich lasse diese zwei weiterwachsen, bis die ursprünglichen Formen nebensächlich und beinahe ausdruckslos geworden sind. Schließlich unterdrücke ich eine der nebensächlichen ausdruckslosen, damit die übrigen wieder sichtbarer werden.
Eine solche Kunst nannte Arp konkrete, gelegentlich auch elementare Kunst, und er verstand darunter eine Kunst, die nicht abbilden sondern bilden wollte. Die nicht die Natur nachahmen, sondern wie die Natur bilden sollte. Und dies nicht mittelbar sondern unmittelbar.
Das aber ist zugleich der zentrale Unterschied zwischen den von Kärcher in der Natur vorgefundenen Steinformen und den in die Natur ausgesetzten geformten Steinen Arps. Waren letztere unmittelbar wie die Natur gebildet, zeigen Manfred Kärchers Fotolithografien, welche Steinformen die Natur unmittelbar bildet. Handelt es sich im Falle Hans Arps um in der Natur ausgesetzte definite Formen, sind die von Manfred Kärcher in der Natur gefundenen Formen indefinite Zustände eines Prozesses, aus dem die Kamera einen augenblicklichen Moment herausgelöst hat, dem jetzt die Fotolithografie Dauer verleiht, wobei sich der gezeigte Gegenstand und seine Präsentation gleichsam tautologisch entsprechen. Denn Manfred Kärcher präsentiert die gefundenen Steinformen mit Hilfe der Zinklithografie, die im Grunde nichts weiter ist als eine Varietät der klassischen Lithographie, des Steindrucks.
Ein derartiges Zusammentreten von Gegenstand und Präsentation, von Stein und Steindruck, von Kunstgegenstand und Kunstmittel ist kein Zufall, wenn man die Biographie Manfred Kärchers in Anschlag bringt. Manfred Kärcher ist nämlich zunächst als Reproduktionsfotograf ausgebildet worden und lehrt heute - nach einem Studium an der Ingenieurschule für Druck in Stuttgart - als Dozent für Satz, Druck und Reproduktion an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. Und dieses Fach schließt einige ästhetische Fragen ein, auf die Walter Benjamin in seiner "Kleinen Geschichte der Fotografie" (1931) und dem berühmteren Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936) als erster nachgedacht hat. Benjamins Überlegungen ordnen die Fotografie dabei ein in die Geschichte der Reproduktionstechniken, in der mit der Lithografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundsätzlich neue Stufe [...] erreicht werde.
Ihr viel bündigeres Verfahren, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheide, habe der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem), sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Grafik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum erstenmal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte.
Die Degeneration vom Landschaftsbild zum -stich, von der lithografierten Landschaft der Illustrierten, dann der Ansichtskarte, dem Ferienfoto und -film illustrieren für einen Fall Benjamins historische Skizze. Zugleich verhalten sich die Fotolithografien Manfred Kärchers hier gleichsam rückläufig: 1. in der Verbannung des Menschen aus der Ferienlandschaft, 2. in der unüblichen Präsentation von Landschaft und 3. in der historisch älteren Reproduktionstechnik.
Zugleich öffnen sie die Perspektive auf einen von Walter Benjamin übersehenen oder nicht weiter beachteten Berührungspunkt zwischen Steindruck und Lichtbild in der Geschichte der Fotografie. 1816 begann nämlich Joseph Nicéphore Niepce in der Absicht, Lithografien mechanisch herzustellen [...], mit fotografischen Versuchen auf Chlorsilberpapier.
Ich darf im folgenden einer neueren Enzyklopädie folgen und fortsetzen, daß Niepce nach Scheitern dieser Versuche dazu überging, dünne Bitumenschichten zu verwenden, die durch Licht erhärten und deren unbelichtete Teile in Terpentinöl löslich sind. 1822 gelang ihm auf Glas eine heliografische Reproduktion eines Stiches im Kontaktverfahren. In den folgenden Jahren machte er heliografische Versuche auf lithografischem Stein und auf Metall (Zinn, Zink und versilberte Kupferplatten); für den Papierabzug benötigte Niepce Metallplatten, die sich ätzen ließen und von gewisser Härte waren. 1826 gelang ihm die erste befriedigende Kameraaufnahme (der Hof seines Landhauses) auf Zinn bei etwa acht bis zehnstündiger Belichtung. Im gleichen Jahr entstand im Kopierverfahren die einzige Heliografie, die er von Augustin François Lemaître ätzen ließ und von der zwei Drucke gezogen wurden. Niepce wurde somit 1826 zum Erfinder der Fotografie und des ersten fotomechanischen Reproduktionsverfahrens.
1974 - also knapp 150 Jahre später, beginnt Manfred Kärcher mit seinen ersten Fotolithografien zu experimentieren, treten Foto- und Lithografie, deren Wege sich nach den Versuchen Niepce's getrennt hatten, wieder zusammen, bekommen ein Produktionsschritt und ein Produktionsvorgang, die in der Entwicklungsgeschichte der Fotografie lediglich experimentellen Wert hatten, ihren ästhetischen Sinn. Indem er die Entwicklung der Reproduktionstechniken praktisch umkehrt, gelingt Manfred Kärcher der produktive Schritt von einer Reproduktionstechnik, der Fotografie zur Grafik.
Wie konsequent dieser Schritt, wie ernst Manfred Kärcher diese Experimente waren, belegen eindrucksvoll die diesjährigen Arbeiten. Denn sie erheben in ihrer Verbindung von lithografisch umgesetztem Fotofragment und fast tachistisch anmutenden Farbflächen und -flecken, von Realitätszitat und ästhetischer Realität so eindeutig grafischen Anspruch, daß ein früheres Mißverständnis sich jetzt völlig ausschließt: Manfred Kärchers Fotolithografien seien immer noch mehr Foto als Grafik. Daß sie dieses nie waren, sondern ein erster konsequenter Schritt vom Foto zur Graphik, habe ich mit meiner Einführung deutlich machen wollen. Wie konsequent dieser Schritt war und in welche Richtung er zielte, lassen, sagte ich, die neuen Arbeiten jetzt unmißverständlich ablesen. Wichtig dabei ist, daß es auch bei diesen Lithografien, also Steindrucken wiederum der Stein ist, der Manfred Kärcher als Gegenstand interessiert. Diesmal nicht mehr der von der Natur geformte Stein, sondern der von Menschenhand gestaltete, nicht Landschaft, sondern Architektur. Daß auch er, wenn auch nicht der natürlichen, so doch der zivilisatorischen Erosion ausgesetzt ist, wird im fragmentarischen Zitat deutlich. So bestätigen die neuen Arbeiten, was bereits die frühen Fotolithografien enthielten, eine Melancholie, die allen Arbeiten Manfred Kärchers eigen ist, gleichgültig, ob es sich um eine Landschaft noch oder schon wieder ohne Menschen handelt, um ein altes lykisches Grab oder einen romanischen Flötenbläser, an dem Auspuffgase und saurer Regen nagen. Es ist das Moment der Vergänglichkeit, dem Manfred Kärchers Arbeiten Dauer zu verleihen versuchen.
3. Manfred Kärcher in Schornbach-Mühle (1990)
Friedrich Glück - so sagt es die "Mühlenchronik" - habe als Pfarrer und Komponist in Schornbach Eichendorffs "Zerbrochenes Ringlein" vertont: In einem kühlem Grunde sozusagen.
Ich wollte das etwas genauer wissen und habe deshalb in Ernst Klusens "Deutsche Lieder. Texte und Melodien" nachgeschlagen und dort gefunden, daß das Lied vor allem durch Silchers Männerchorfassung bekannt geworden sei, daß seine letzten drei Strophen die nervöse Kränklichkeit der modernen Welt ausdrücken, und daß die Vorsteherin eines Mädchenpensionats [...] die dritte Zeile der ersten Strophe [= Mein Liebchen ist verschwunden] in "Mein Onkel ist verschwunden" geändert habe. Das ist ganz lustig; weniger lustig dagegen ein weiterer Eintrag, nach dem die Musik Glücks aus dem Jahre 1814; der Text Eichendorffs dagegen aus dem Jahre 1870 stamme, obwohl Eichendorff bereits 1857 starb. Nun gut: das ist ein Druckfehler. Denn erstmals wurde Eichendorffs Gedicht im Jahre 1815 in seinem Roman "Ahnung und Gegenwart" publiziert.
Die Melodie wäre demnach in jedem Fall vor dem Text, den sie vertont, dagewesen. Wobei das Verhältnis noch avantgardistischer ist im Falle eines zweiten Mühlenliedes, ebenfalls aus dem Ländle, das gleichfalls nach Glücks Tönen gesungen wird: im Falle von Justinus Kerners "Dort unten in der Mühle" aus dem Jahre 1830. In diesem Text bleibt das Mühlrad stehen, nachdem die Sägemühle vier Sargbretter geschnitten hat, während bei Eichendorff lediglich das Liebchen verschwunden ist und der Verfasser als Spielmann in die weite Welt reisen möchte. Eigentlich wäre es angebracht, auch über "Pfisters [...]" und die anderen einschlägigen Mühlen bei Wilhelm Raabe ein paar Vorbemerkungen zu machen. Aber da August Ferdinand Alexander Schnezlers Mühlenromanze auf seine Weise nicht gesungen wurde, komme ich vom avantgardistischen Tonsetzer Glück jetzt endlich auf den hier und heute in der Friedrich-Glück-Straße in der alten Mühle ausstellenden Bildkünstler Manfred Kärcher zu sprechen.
Auf der Einladungskarte sind Sie zu der Besichtigung von Reiseskizzen / Fotolithografien / Druckgrafiken eingeladen. In eben dieser Reihenfolge. Auf dem Plakat steht es ein bißchen anders: Foto-Lithografien / Druckgrafiken / Reiseskizzen - was eher der Werkentwicklung Kärchers entspricht, von der vor allem ich sprechen möchte. Genauer, ich möchte von einer Werkentwicklung sprechen, die sich von der Lithografie über die Radierung und ihre Spielformen der Aquatinta und Vernis mou zu den Ölpastellen und Aquarellen der letzten Jahre hinbewegt hat und dabei sogar einiges von der früheren inhaltlichen Radikalität eingebüßt zu haben scheint. Scheint, sage ich, denn die exemplarischen Arbeiten der letzten Jahre deuten anderes an.
Auf den ersten Blick läßt sich das hier in der Mühle versammelte Werk des reiselustigen Kärcher aus den letzten 16 Jahren als gegenständlich und unter dem Thema Landschaft zusammenfassen. Wobei die Ausstellung eine Vielzahl von Landschaften versammelt: aus Norwegen und den USA, aus Wales und der Türkei, aus Spanien, Frankreich und vom Niederrhein. Die Fülle dieses Landschaftsangebots einerseits und die jeweilige Kärchersche Selektion oder auch Kombination von Landschaftsstücken könnte man jetzt benutzen, Manfred Kärcher seinen Platz im aktuellen künstlerischen Umgang mit Landschaft zuzuweisen. Man könnte und müßte dann die Landschaftsauffassung Kärchers von der Ulrich Zehs, der hier ja schon ausstellte, oder Günther C. Kirchbergers unterscheiden.
Ich finde es aber nicht sonderlich spannend, zu erklären, was jeder mit seinen eigenen Augen selbst sehen kann (auch bedarf es dazu der einen oder anderen Arbeit zum Vergleich); ich möchte stattdessen etwas anderes versuchen. Ich möchte erklären, warum die Entwicklung des Künstlers Kärcher ästhetisch so spannend ist: für mich jedenfalls. Und dazu beginne ich bei den Arbeiten der Mappe "Stein" aus dem Jahre 1974.
Diese Steine oder besser Steinformationen hat Kärcher in der Bretagne gefunden und zunächst fotografiert. Er hat die Fotos dann zu Hause auf Zinkplatten übertragen und als Zinklithografie farbig gedruckt. Es handelt sich also nicht um Fotoabzüge (wie man sie in letzter Zeit in zahlreichen Jubelausstellungen zu Ehren der Fotografie besichtigen konnte).
Interessant bei Manfred Kärchers "Steinen" ist einmal, daß sie in ihrer zufälligen Form oder dem Formausschnitt ihr eigentlich Materiales immer mehr vergessen machen und dem Betrachter zunehmend Organisches, Körperliches assozieren.
Zweitens: Kärchers 'Modelle' sind nicht nur in der Natur gefunden, sondern sie repräsentieren auch jeweilige Zustände eines natürlichen Entwicklungs- oder Verwitterungsprozesses, Augenblicke, die die Kamera festhält und denen die Fotolithografie ästhetische Dauer verleiht. Wobei sich der gezeigte Gegenstand und seine Präsentation gleichsam tautologisch entsprechen, denn die von Kärcher praktizierte Zinklithografie ist im Grunde nichts weiter als eine Varietät der klassischen Lithografie, eben des Steindrucks.
Ein solches Zusammentreten von Gegenstand und Präsentation, von Stein und Steindruck ist kein Zufall, wenn man die Biographie Kärchers in Anschlag bringt, ist er doch zunächst als Reproduktionsfotograf in Stuttgart ausgebildet und lehrt heute - nach seinem Studium an der Stuttgarter Höheren Grafischen Fachschule - als Dozent für Satz, Druck und Reproduktion an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. Ein Fach also, das einige ästhetische Probleme einschließt, auf die Walter Benjamin erstmals in seiner "Kleinen Geschichte der Fotografie" (1931) und dem noch berühmteren Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936) aufmerksam gemacht hat. Benjamins Überlegungen ordnen dabei die Fotografie ein in die Geschichte der Reproduktionstechniken, in der mit der Lithografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundsätzlich neue Stufe [...] erreicht werde.
Ihr viel bündigeres Verfahren, schreibt Walter Benjamin, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheide, habe der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem), sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Grafik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum erstenmal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte.
Die Degeneration vom Landschaftsbild zum Landschaftsstich (vgl. z.B. die Produktion Habersaats in Kellers "Grünem Heinrich"), von der lithografierten Landschaft zur Illustrierten, dann der Ansichtskarte, dem Ferienfoto und -film (Tante Emma in der Sandburg) illustrieren vortrefflich Benjamins These vom Verkommen des Kunstwerks zur massenhaften Knipserei. (Siehe die vielbelächelten japanischen Touristen, aber nicht nur sie).
Zu dieser Skizze - und deshalb mußte ich sie zitieren - verhält sich Kärchers künstlerische Entwicklung praktisch rückläufig, 1. indem er den Menschen aus seiner Landschaft verbannt (da finden sich weder der Wanderer über dem Nebelmeer noch Reinhold Messmer am Südpol noch Tante Emma auf dem Gipfel der Geschmacklosigkeit). 2. wird Landschaft von Kärcher von Anfang an in Ausschnitt oder Kombination unüblich präsentiert (auch und noch in den späteren Radierungen). 3. greift Kärcher bei der lithografischen Umsetzung seiner Fotos zu einer historisch älteren Reproduktionstechnik und öffnet damit die Perspektive auf einen von Walter Benjamin übersehenen oder nicht weiter beachteten Berührungspunkt zwischen Steindruck und Lichtbild in der Geschichte der Fotografie, auf den kurioser Weise auch keine der letztjährigen Fotojubelausstellungen verwiesen hat.
Ich meine Joseph Nicèphore Niepce's Versuche, Lithografien mechanisch herzustellen, seine heliographischen Versuche auf lithografischem Stein, dann auf Metall, Zinn, Zink[!, R.D.] und versilberten Kupferplatten in den Jahren 1816-1826.
Genau an diesem Punkt setzt 1974, also rund 150 Jahre später, Manfred Kärchers Werkentwicklung ein, indem er Fotografie und Lithografie - deren Wege sich nach den Versuchen Niepce's getrennt hatten - wieder miteinander verbindet und so die Entwicklung der Reproduktionstechniken praktisch umkehrt, Fotografie in Grafik rückübersetzt und damit ästhetisch produktiv macht was im allgemeinen reproduktiv gebraucht wird.
Wie konsequent Manfred Kärchers damaliger Schritt war, zeigt nun die heutige Ausstellung. Zunächst mit Arbeiten nach 1985, die lithografisch umgesetztes Fotofragment mit fast tachistisch anmutenden Farbflächen und Farbflecken, Realitätszitat und ästhetische Realität verbinden. Interessant dabei ist, daß es auch bei diesen Lithografien noch der Stein ist, der Manfred Kärcher als Gegenstand interessiert. Allerdings nicht der von der Natur geformte, sondern der von Menschenhand gestaltete, nicht Landschaft sondern Architektur. Daß auch diese - wenn auch nicht der natürlichen, so doch der zivilisatorischen Erosion ausgesetzt ist, wird im fragmentarischen Zitat deutlich, das zugleich etwas von der Melancholie ablesen läßt, die vielen Arbeiten Kärchers durchaus eigen sein kann.
Manfred Kärcher hat sich in den letzten Jahren, und er hat damit Benjamins Theorie von der "Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" praktisch auf den Kopf gestellt, aber um noch ältere Drucktechniken, um Vernis mou, Aquatinta und Radierung bemüht, wobei er seinem Thema Landschaft treu blieb, ihm aber immer jeweils neue Ansichten abgewann.
Technisch gesprochen - also in der Geschichte der Radierung - wären wir damit im frühen 16. Jahrhundert angekommen, wo der in Kaufbeuren geborene spätere Augsburger Bürger Daniel Hopfer erstmals das Ätzverfahren auf die Druckgraphik übertrug. Und auch für die letztjährigen Aquarelle Kärchers müßten wir, wollten wir die Geschichte des Aquarells in Anschlag bringen, über seine Hochblüte im 18. Jahrhundert zurück bis Dürer gehen, der seinerzeit - völlig alleinstehend - zum Vorläufer des Landschaftsaquarells und seiner Entwicklung bis zur Gegenwart wurde. Dürer war ein Zeitgenosse Hopfers oder umgekehrt.
Das heißt - um damit auch zum Ende zu kommen - Manfred Kärcher hat auf seinem künstlerischen Krebsgang (ich meine Krebs hier im Sinne Schönbergs) dorthin bewegt, wo Benjamin für das Kunstwerk, dem Kunstwerk noch eine Aura attestierte, der es auf dem Wege seiner immer verbesserten technischen Reproduzierbarkeit verlustig ging. Daß dies kein künstlerischer Rück- sondern Fortschritt ist, bei dem Kärcher jede neu aufgegriffene Technik sich erst erarbeiten, also auch Lehrgeld zahlen mußte, belegt die heutige Ausstellung ebenso wie sie in ihren besten Beispielen, z.B. den Radierungen "Göreme" und "Erin II", den Aquatinten "Wolken I, II, III" oder dem Aquarell "Montherme III", aber auch anderen zugleich zeigt, wie schnell es Kärcher inzwischen gelingt, sich eine neu aufgegriffene Technik für seine Intentionen, die gelegentlich melancholischen Landschaftsausschnitte und -einsichten verfügbar zu machen. Dann aber ist seine Handschrift unverwechselbar in einem Wechselspiel von sinnlicher Wahrnehmung und ästhetischer Abstraktion.