Die heutige Ausstellung zu eröffnen, fällt mir etwas schwer. Denn erstens ist Günther C. Kirchberger 60 Jahre alt geworden. Es ist also auch eine Geburtstagsausstellung. Und dies zweitens von einem Künstler, der seit gut 30 Jahren sein Werk in Gruppen- und vor allem Einzelausstellungen präsentiert hat, ohne sich vom Kunstmarkt beirren und korrumpieren zu lassen. Drittens bin ich mit ihm seit ebenfalls rund 30 Jahren befreundet (das ist für Künstlerfreundschaften ein beachtliches Alter), habe mit ihm zusammen gearbeitet und wir haben nicht nur gemeinsam, daß wir beide schizophrene Stuttgart-Liebhaber sind. Ich denke, das erlaubt mir, die Eröffnung, wenigstens zu Teilen, etwas anekdotisch zu halten.
Als ich Günther C. Kirchberger Ende der 50er Jahre kennen lernte, schloß sich gerade seine tachistische Periode ab, war die inzwischen legendäre Gruppe 11 in heftigen Auflösungserscheinungen begriffen. Das hinderte uns nicht daran, gemeinsame Interessen zu entdecken. Brachte Kirchberger aus seiner tachistischen Phase die informelle Geste mit, konnte ich die Schreibspur beisteuern. Und so kamen wir dann sehr schnell auf eine Folge von heute kaum mehr auffindbaren Text-Grafik-Integrationen und sogenannten Comic strips, in denen wir alles Mögliche verarbeiteten, von Kants Kategorischem Imperativ bis zu erotisch brisanten Krimis, von Sedlmaiers "Verlust der Mitte" (das war gleichzeitig auch unser erster Siebdruck) bis zu automatisch niedergeschriebenen Texten. Das war z.T. écriture und peinture automatique in einem echt dadaistischen Sinne.
Und uns hat's gefallen (im Gegensatz zum Beispiel zum damaligen Leiter der Baden-Badener Kunsthalle, Dietrich Mahlow). Den wiederum hatten wir kennen gelernt in einer Ausstellung in der Deutsch-Französischen Gesellschaft, in der Günther C. Kirchberger zum ersten Mal in umfassender Weise seine nach-tachistischen Bilder präsentierte, wozu ich leichtfertiger Weise einen Vortrag über den "Umgang mit Kunst" beizusteuern hatte. Sedlmaiers These vorn "Verlust der Mitte" in der modernen Kunst war dabei einer unserer Angriffspunkte. Und wir hielten ihm und der damaligen Kunstwissenschaft entgegen, daß, wer die Mitte verloren habe, wenigstens den Rand halten solle.
Unser zweites Angriffsziel war aber und vor allem die Kunstkritik und ihre Sehstörungen, unter denen die jungen avantgardistischen Künstler um 1960 gelegentlich arg zu leiden hatten. Namen erspare ich mir; sie wären z.T. durch heutige Kritiker leicht zu ersetzen. Um den Unfug dieser Kunstkritik und -schriftstellerei zu demonstrieren, hatten wir uns treffliche Zitate zusammengesucht, aus denen der Vortrag z.B. auswählte:
"Mit der Größe der Geste und dem Pathos der Pinselhiebe wuchs die Leinwand. Wobei zu bedenken gibt, daß ein Zug ins Rhetorische bei den Deutschen in der gleichen Richtung kaum anzutreffen ist."
Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen wie die Gleichsetzung eines Bildes mit "reinen Richtflächen des Geistes, fugenlosen Gleichungen des Absoluten" oder einer interpretatorischen Einsicht der Art:
"Seine Eintragungen rühren von einer gelebten Archaik her, er biegt die zeitlichen Enden so zusammen, daß wir verwirrt vor soviel Zeitlosigkeit stehen."
Leider hatten wir versäumt, zu notieren, aus welch trefflichen Quellen wir unsere Anthologie zusammengetragen hatten, hatten also nicht gemerkt, daß einer der derart aufgespießten Kunstschriftsteller und -kritiker unter den Zuhörern saß, so daß wir höchst überrascht waren, als plötzlich ein Herr wutentbrannt den Vortrag verließ.
Aber Leopold Zahn war nicht der einzige, den wir in die Flucht geschlagen haben in der Konfrontation mit Kunst und dem, was uns mit ihr und zu ihr einfiel. In Darmstadt schafften wir sogar, einen Bürgermeister mit der Verlesung eines "siebenminutenromans", der damals in Günther C. Kirchbergers Atelier entstanden war, undzwar mit der Passage:
"wer fürchtet sich vorm schwarzen mann und bilder sind gemalt und übermalt weil sie nicht gelten gehn wir wir können nicht warum nicht wir warten auf na was schon ei papa die magd den hirten den kanzler den knappen den schildknapp den ludwig den frommen o fallada der du hangest zwischen bonn und gomorrha treten spuren auf die das bild beeinträchtigen der zerstörung in farben mit farben zusammen durch sie hindurch werden vertuscht mit huschhuschbonnselaimbam."
Damit war der Bürgermeister draußen. Ich lese den Roman nach den eher negativen Erfahrungen, die ich mit der Lesung älterer Texte anläßlich der Dahmen-Ausstellung in diesen Räumen gemacht habe, zu Ihrer Beruhigung und meiner Entlastung nicht zu Ende. Wie ich überhaupt das Anekdotische hier abbreche und lediglich noch summiere, daß wir auch fürderhin, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre dann mit Hansjörg Mayer, zusammen gemnalt, gedruckt und gedichtet haben, wobei Günter C. Kirchberger, was die wenigsten wissen, auch zu einem bemerkenswerten konkreten Autor avancierte. Was sich mit seinem immer strenger ausgerichteten bildnerischen Werk der damaligen Zeit nicht nur gut vertrug, sondern es bemerkenswert ergänzte. Diese strenge Phase wurde eingeleitet bzw. vorbereitet durch Bilder, die wir zum Teil in diese Ausstellung mit aufgenommen haben. Ja nicht nur das, wir haben sie gezielt mit Bildern Günther C. Kirchbergens aus der letzten Zeit kombiniert und konfrontiert. Diese Kombination und Konfrontation ist also das, was im Rahmen der Ausstellung am ehesten der Klärung bedarf.
Zuvor aber muß ich, die anekdotisch-biographische Skizze endgültig abschließend, ergänzen, daß Kirchberger seit kurzem wieder einer Künstlergruppe angehört, undzwar der parteilichen, abhängigen und regionalen Künstlervereinigung "Das schwarze Loch", vulgo locus niger, zu denen außer Manfred Kärcher und mir die in dieser Galerie nicht unbekannten Wolfgang Ehehalt, Uwe Ernst, Robert Steiger und Ulrich Zeh gehören, in deren Namen ich Kirchberger hiermit zum Geburtstag nachträglich noch eine Mappe zu überreichen habe.
Als ich von drei Jahren an dieser Stelle über die Skizzen Günther C. Kirchbergers zu seinen Ägyptenserien sprach, wobei mir anschließend vorgeworfen wurde, ich hätte, statt zu den Arbeiten hinzuführen, mich zwischen die Skizzen und den Betrachter gestellt, vermutlich, weil ich vergaß, von reinen Richtflächen des Geistes zu sprechen, und die zeitlichen Enden nicht zur Zeitlosigkeit zusammenbog -
Als ich vor drei Jahren über die Skizzen Kirchbergers sprach, vermutete ich, Kirchberger habe seine Ägyptenserien weitgehend abgeschlossen und kehre auf einer anderen künstlerischen und Bewußtseinsstufe zu seiner früheren Malerei zurück. Diese Vermutung stützte sich einmal, für den Ausstellungsbesucher leicht nachprüfbar, auf Freiheiten, die sich Kirchberger innerhalb seiner bis dahin eher strengen Bildsyntax leistete, auf das Verwischen der Kontur, des Rasters, und auf die gestischen Konter. Meine Vermutung stützte sich zweitens auf eine Interpretation der Ägypten-Serien als bildnerischen Ausdrucks einer Reise durch die eigene Gegenwelt (wie ich damals ebenfalls etwas ausführlicher darstellte). Und sie stützte sich drittens auf eine Serie von Bildern, die Kirchberger damals noch nicht zeigen wollte, die sogenannte Chaat-Serie.
Diese Serie von 1981 hat Günther C. Kirchberger 1986 noch einmal aufgegriffen und in einer Art und Weise zu lösen versucht, deren bildnerische Ergebnisse verblüffend an die Tàvola-Bilder der frühen sechziger Jahre erinnerten. Ja diese Annäherung in - wohlverstanden - einer neuen bildnerischen Qualität ging soweit, daß Kirchberger plötzlich entdecken konnte oder mußte, daß sich in einem seiner letzten Bilder dasselbe Problem stellte wie in einem Bild der frühen sechziger Jahre. Es handelt sich um die beiden Bilder, vor denen ich hier stehe.
Um mich nicht wiederum dem Vorwurf des Dazwischentretens auszusetzen, werde ich mich keiner weitergehenden Analyse befleißigen, sondern überlasse es dem Betrachter, die Parallelität und den qualitativen Unterschied selbst zu entdecken. Was mich vielmehr interessiert, ist das Phänomen des zunächst unbewußten Wiederanknüpfens an entwicklungsgeschichtlich längst Abgeschlossenes: ein Phänomen, das sich notabene nicht nur im Werk Günther C. Kirchbergers beobachten läßt. Ich verweise, um einen Ihnen vertrauten Beleg zu nennen, zum Beispiel auf die Sportbilder Ulrich Zehs.
Ist man bei Kirchberger erst einmal auf der Spur, finden sich in den Arbeiten der letzten Zeit solche Rückbindungen mehrfach, und zwar sowohl kurz- als auch langfristigerer Art. Als ein Beispiel kurzfristigen Rückbindung nenne ich die Fensterbilder dieser Ausstellung und erinnere an Arbeiten zu Anfang der siebziger Jahre, mit denen Kirchbergers Malerei nicht nur im Formenbestand, sondern auch in der Farbe wieder zunehmend komplexer wurde. Bei ihnen schuf die Abschattierung der Farbflächen wechselnde Körperformen und unterstützte eine beabsichtigte Scheinräumlichkeit. Dabei überspielte eine dreimalige Drehspiegelung derart anschattierter Farbflächen das zunächst fast brutal eingezeichnete (Fenster)Kreuz, das seinerseits im Gegenzug notwendig war, um eine durchaus denkbare Illusionierung von vornherein zu brechen.
Das alles war, wenn man so will, eine ästhetische Versuchsanordnung um ihrer selbst willen, Experiment in einem wohlverstandenen und richtigen Sinne. Was diesem Experiment noch fehlte, war seine inhaltliche Durchdringung. Kirchberger, der sich auf dem Kärrnerweg seiner künstlerischen Entwicklung jede Form metaphysischer Ausflüchte versagt hatte, hatte damals zwar schon Arbeiten skizziert, auf denen das eingezeichnete Kreuz die Illusionsbrechung kaum mehr zu leisten vermochte, aber sie blieben Grenzerkundungen, die als Bild durchzuführen der Maler mit Recht zögerte.
Erst zehn Jahre später, unter dem Einfluß mehrerer Ägyptenreisen und der durch sie ausgelösten (nicht nur) ästhetischen Erfahrungsreise durch die eigene Gegenwelt, wird es Kirchberger möglich, die seinerzeit abgebrochenen Grenzerkundungen wieder aufzunehmen und zur Lösung zu führen, zu den Fensterbildern dieser Ausstellung, deren Titel bereits auffällig genug lauten: "Fensterbild: Fenster/Kreuz". Was den Betrachter, wenn er diesem Hinweis folgen will, auf eine eher meditative bzw. kontemplative Bildbetrachtung verpflichtet.
Handelt es sich bei den Fensterbildern um eine werkgeschichtlich eher kurzfristige Rückbindung, schließt Kirchbergers zweite Chaat-Serie von 1986 an die Tàvola-Serie der frühen 60er Jahre an, deren erste Belege sogar bereits mit 1959 datieren, überbrücken Kirchbergers neueste Arbeiten derart fast den Zeitraum einer Generation.
Was Kirchberger seinerzeit in einem Wechselspiel von Bildordnung und gestischem Zufall, von klarer Flächenaufteilung und ausgelöschten Spuren und Flächen beschäftigte, war, wie bei den frühen Fensterbildern, vorrangig ein ästhetisches Problem: die Suche nach einem abstrakten Tafelbild im durchaus traditionellen Verständnis dieses Begriffs.
Spannung gewannen diese Arbeiten, soweit sich dies überhaupt inhaltlich fixieren läßt, zwischen der in der Bildmitte angeordneten Tafel, also der Bildtafel und der traditionellen Erwartung an das Tafelbild. Auch hier kam Kirchberger über das ausschließlich ästhetische Experiment zunächst nicht hinaus, was der Qualität der gefundene Lösungen keinerlei Abbruch tut.
Als Kirchberger 1964 nach Krefeld an die damalige Werkkunstschule berufen wird und dort seine Visitenkarte in Form einer Ausstellung abgibt, stellte mein Katalogtext zwar die Affinität zu vergleichsweise interessanten Arbeiten Mondrians, Arps, Sophie Taeubers fest, die - im Sinne ihrer Künstler - Sinnbilder für das göttlich gebaute Geschäft sein sollten, geistige Übungen, Exerzitien, Meditationstafeln, Mandalas, Wegweiser in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit. Aber ich hielt dagegen, daß es Kirchberger ausgerechnet darum nicht gehe, daß seine Bilder nichts außerhalb ihrer selbst bedeuten, daß sie ausschließlich zeigen wollen, was auf ihnen drauf sei: Konstellationen ästhetischer Welten, die nur um ihrer selbst willen da sind: Gegenstände zum geistigen Gebrauch, Anregung zum ästhetischen Spiel, intellektuelle Herausforderung des Betrachters.
Auch dies hat sich infolge der Ägypten-Serien grundlegend gewandelt. Die Freiheit, mit der Kirchberger heute das italienische Wort tàvola resp. tàvolo übersetzt, wäre das erste Indiz. Es bezeichnet nicht mehr nur das dialektische Wechselspiel von Bildtafel und Tafelbild, es wird auch gezielt mißverstanden als Tafel, assoziiert sogar die Schultafel herbei, deren Aufschriebe ausgewischt werden.
Rechnet man die Form der ägyptischen Hieroglyphe für Tisch ebenso wie die umgangssprachliche Redewendungen, etwas liege auf dem Tisch bzw. etwas müsse auf den Tisch gelegt werden, aber auch: etwas vom Tisch wischen hinzu, nähert man sich bereits der Komplexität der neuesten Arbeiten Kirchbergers und der Frage, welcher Art denn die Spuren, die Flächen sind, die auf diesen zugestrichen beziehungsweise ausgelöscht werden.
Es ist dies eine Frage, deren ästhetische Antwort zwar vom Maler gegeben, deren inhaltliche Beantwortung jedoch zunehmend dem Betrachter überlassen wird. Anders als die zumeist oberflächlichen Übermalungen eines Arnulf Rainer, signalisieren die von Kirchberger gelöschten Bild- und Schreibspuren dem Betrachter die Bedeutungslosigkeit scheinbar genauen Wissens, verweisen sie ihn auf einen hinter dem postulierten Sinn und seiner Vordergründigkeit verborgenen Hintersinn, der sich nicht einfach ablesen, entziffern sondern allenfalls meditativ erfahren läßt.
[Galerie Geiger Kornwestheim,
27.8.1988]
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