Ludwig Boerne
Aus den Briefen an Jeanette Strauss-Wohl, 1825
 
Stuttgart, d. 28. Febr. 1825


 Nachdem ich gefrühstückt, geraucht, Italienisch gelernt und alle andern Pflichten erfüllt, die mir als Menschen, Christen und Staatsbürger obliegen, will ich anfangen, meinem lieben Bärbelchen zu schreiben, in Erwartung Ihres Briefes, der bald kommen wird, nämlich um halb 10. Sollten Sie glauben, daß in dem elenden kleinen Stuttgart es einen Unterschied von zwei bis drei Stunden macht, welche man die Briefe früher oder später erhält, je nach der Straße, in der man wohnt? Ich wollte wetten, daß dieses in Paris nicht der Fall ist. Als ich in der Nähe der Post wohnte, erhielt ich meine Briefe um 7 Uhr, und jetzt bekomme ich sie erst um halb 10. Aber was lache ich ins Fäustchen, wenn ich an Ihre Briefe denke. Oh das dumme Bärbelchen, wie läßt sie sich zum besten haben! Ich hatte nicht mein gehofft als auf wöchentlich zwei Briefe und wäre dabei ganz vergnügt gewesen, und jetzt schreiben Sie mir einen Tag um den andern, und es ist nur abgeschmackte Großmut von mir, daß ich die Sache nicht weitertreibe. Ich bin doch ein feiner, politischer Kopf. Ich habe jetzt schon 25 Briefe von Ihnen, und 46 Tage bin ich von Ihnen entfernt. Es lebe Maximilian, Kaiser von Östreich! Wundern Sie sich nicht, daß ich den leben lassen? Erstens schadet es nichts, denn er ist schon 300 Jahre tot; zweitens hat er die Briefpost eingeführt, um seinen Nachfolgern das Vergnügen zu verschaffen, anderer Leute Briefe auf der Post öffenen zu lassen und ihren Inhalt zu erfahren. Sie werden wohl ebenso viele Briefe von mir haben, vielleicht noch mehr. Der Fürst von Taxis hat gute Kunden an uns. - 0 weh, o weh! heute ist der Brief ausgeblieben. Gott hat mich gewiß strafen wollen, wegen meines Spottes. Es geschieht mir recht. ich hätte mein Glück bescheidener ertragen sollen. Ach, es ist eine gar traurige Lage. Von 9 bis halb 10, solange ich hoffe und fürchte, habe ich das hitzige Fieber und später das kalte. Aber warum haben Sie mir nicht geschrieben? Das muß eine besondere Ursache haben, da ich doch, wie ich mich erinnere, in meinem vorletzten Briefe sehr verdrießlich gewesen und Sie, ohne Verhinderung, gewiß bedacht gewesen wären, mich zu erheitern. Ich bin nicht ängstlich, aber neugierig. Mein Übermut hat sich bald gelegt Eins vergessen Sie nicht, daß, wenn auch unsere wechselseitige Freundschaft bei uns beiden gleich groß ist, unsere Verhältnisse aber verschieden sind. Ich bin ganz allein, habe gar keine Zerstreuung und niemand, mit dem ich von Ihren sprechen könnte. Ich habe nichts als Ihre Briefe und meine Einbildungskraft. Sie aber sind unter hundert guten Freunden und können, wenn Sie Lust haben, den ganzen Tag von mir sprechen. --- Triumph! Triumph! Da kömmt der Brief noch! Um halb 11. Jetzt bin ich wieder übermütig. Ich habe mein Bärbelchen gut erzogen, es schreibt so oft ich will und muckst nicht. Auch hier ist seit einigen Tagen wieder strenger Winter, und diesen Morgen liegt viel Schnee. Verlassen Sie sich darauf, daß ich bei solchem Wetter nicht reise. Aber mit Ihrem 4ten März sind Sie ganz toll. Ich habe gestern gelesen, was Olbers bekannt gemacht, und gefunden, was ich vermutet, daß sich die Sache nicht so schrecklich verhält, als es euch dummen Frankfurtern vorkam. Olbers machte aufmerksam, daß sich am 4ten März der Mond in der größten Erdnähe befände, was alle Jahre einmal geschieht und was auf die Meeresflut immer Einfluß hat, denn die tägliche Ebbe und Flut, mein dummes Bärbelchen, wird durch den Mond bewirkt. Dieser Umstand, meint 0., kann bei der Wassersucht woran jetzt die Erde leidet, einen Einfluß haben, und Überschwemmungen könnten sich erneuern. Aber das kann nur an den Seeküsten Einfluß haben und geht uns Binnenländer gar nichts an. Da sehen Sie aber wieder, was wir für ein elendes Vaterland haben, selbst unser Jammer ist abgeschmackt. Andere Länder haben Erdbeben, feuerspeiende Berge, Peste, Revolutionen und andere hitzige Krankheiten, wie sie die Jugend und die Gesunden befallen; wir alten siechen Deutschen haben nichts als die dumme Wassersucht.

Mein letzter Brief wird Sie darüber beruhigt haben, daß ich die Kapital-Dummheit nicht begehe. So einfältig war auch mein Plan gar nicht. Aber noch besser ist es freilich, gar nicht davon zu sprechen. - Mit meinem Logis werde ich es schon einzurichten wissen, und ich hoffe, es auf unbestimmte Zeit tageweise mieten zu können.

Heute vor 8 Tage wurde hier ein Mörder hingerichtet*), der für Sie ein eignes Interesse haben muß. Oh Bärbelchen, nehme Dir ein Exempel und bessere Dich! Reinlichkeit ist aller Laster Anfang! Reinlichkeit führt zum Morde und auf das Blutgerüst! Jener arme Mensch beging einen Totschlag und starb von Henkers Schwert, weil er zu sehr auf Reinlichkeit gesehen und zuviel Wasser zum Waschen gebraucht. Das ist kein Scherz, das ist fürchterlicher Ernst. Oh Sünderin, bekehre Dich! Er war früher Soldat. Im vorigen Sommer suchte er vergebens ein Unterkommen. Um nicht brotlos zu sein, ging er in das hiesige Arbeitshaus und blieb dort als freiwilliger Arbeiter, wie mehrere andere. Von Jugend an (wie er vor Gericht erklärte) Reinlichkeit liebend, hatte er mit seinen Stubenkameraden die Verabredung getroffen, daß abwechselnd jeden Tag ein anderer einen Zuber Wasser tragen sollte, um das Zimmer anfzuwaschen. Es geschah. Nur einer, als die Reihe an ihn kam, weigert sich dessen. Der Soldat klagte deswegen beim Verwalter des Arbeitshauses. Dieser lachte und sagte: ich habe es nicht geheißen. Das kränkte den Soldaten, daß er durch diese Entscheidung sein bei seinen Kameraden erworbenes Ansehen verloren. Er nahm sich vor, an dem Verwalter Rache zu üben, ob ihm zwar (wie er gestand) seine Strafe auf dem Blutgerüste deutlich vorschwebte. Wie nun der Verwalter eines Tags in das Zimmer tritt, stieß er ihm sein Brotmesser in den Leib und die Brust und tötete ihn. Ganz ohne Heimtücke, in Gegenwart zweier Zuschauer, die zu erschrocken waren, ihm abzuwehren. Auch ließ er sich von einem herbeigekommenen Polizeidiener ruhig arretieren und gestand sogleich sein Verbrechen. Der arme Teufel wurde bei der Hinrichtung schrecklich gemetzelt. Dreimal wurde gehauen, ehe der Kopf abging. Der sonst geschickte Scharfrichter hatte die Geistesgegenwart verloren, weil er im Augenblick der Hinrichtung in dem Delinquenten, den er früher nicht gesehen, einen Jugendfreund erkannte. Der Hinrichtung habe ich nicht beigewohnt, aber ich war bei dem armen Teufel im Zimmer, ehe er abgeführt wurde, bei dem sogenannten peinlichen Halsgericht, welches öffentlich gehalten wird. Die Zeremonie dauerte eine Stunde, und ich will ihnen ein anderes Mal davon erzählen. Aber seit der Zeit habe ich einen Abscheu gegen das Wasser und wasche mich selten.

Adieu Bärbelchen, schreiben Sie mir nicht so selten und liebe mich wie ich Dich.

Ihr B.

*) Vgl. die Kurze / aktenmäßige Beschreibung / des - von / Johann Georg Philipp Datpheus / von Stuttgart, / den 29. September 1824 / an dem Spinnhaus-Aufseher / Heinrich Gebhard Grempenfort / daselbst / verübten Mords. / [2 Zierleisten] / Stuttgart 1825. - Philipp Ulrich Schartenmayer [30.6.1807-14.9.1887] tritt mit seinem Lied auf die Mordtat des Datpheus und ihre blutige Strafe, Wie Johann Georg Philipp Datpheus von Stuttgart den 29. September 1824 daselbst den Spinnhausaufseher Heinrich Gebhard Grempenfort ermordete und hierauf den 21. Februar 1825 hingerichtet wurde, erstmal an die Öffentlichkeit. Reinhard Döhl erwähnt die Hinrichtung in der 2. seiner Stuttgarter Ansichtssachen, Am nördlichen Rand der Feuerbacher Heide.Die Herausgeber
 
 





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