Den Zeitraum, den vorzustellen ich leichtsinniger weise übernommen habe, sind die sechziger Jahre in Stuttgart. Und seine Vorstellung wäre, würde ich mich auf all das einlassen, was damals die Stuttgarter Szene konturierte, mehr als semesterfüllend. Ich beschränke mich deshalb, zumal die Vorträge HansJürgen Müllers und Anton Stankowskis die 60er Jahre bereits angesprochen haben, auf einige, auch andere Akzente und mir bedeutend scheinende Verbindungslinien, indem ich mein Augenmerk vor allem auf jene Kunstproduktion richte, die Günther Wirth in seiner Bestandsaufnahme der "Kunst im deutschen Südwesten" die "materialen und formalen Grenzbereiche" genannt hat, mich also neben der bildenden Kunst für die Grenzverwischungen zwischen bildender Kunst und Literatur, Literatur und Musik, Musik und bildender Kunst interessiere. Und dies nicht zuletzt aus dem leicht nachprüfbaren Grund, daß es gerade diese "materialen und formalen Grenzbereiche", diese Grenzüberschreitungen waren, die aus Stuttgart damals international hinausgewirkt haben.
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Wie kaum anders zu erwarten, muß
ich dabei in den 50er Jahren beginnen, die Fäden aufzunehmen, die
sich in den 60er Jahren in Stuttgart dann miteinander verknüpften
und verwirrten. Und der erste dieser Fäden ist sogar eher literarischer
Natur. 1955 erschienen zwei Zeitschriften geringer Auflage, aber umso größerer
Bedeutung. Das war erstens die "literarische Zeitschrift" "Texte und Zeichen",
die von Alfred Andersch herausgegeben wurde, der damals Leiter des Radio-Essays
am Süddeutschen Rundfunk war. Das war zweitens der von Max Bense,
Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Technischen
Hochschule Stuttgart, herausgegebene "Augenblick", eine Zeitschrift, deren
Untertitel zunächst "Aesthetica, Philosophica, Polemica", dann "Zeitschrift
für aktuelle Philosophie, Ästhetik, Polemik" und schließlich
"Zeitschrift für Tendenz und Experiment" lautete. Beide Zeitschriften
waren nicht langlebig. "Texte und Zeichen" erschienen von 1955 bis 1957
und brachten es auf insgesamt 16 Hefte. Der "Augenblick" erschien mit Unterbrechungen
von 1955 bis 1961 und brachte es auf insgesamt 22 Hefte.
Es geht mir hier nicht um eine Analyse ihres Programms, sondern eher um signifikante Äußerlichkeiten. Und zu ihnen rechne ich erstens, daß beide Zeitschriften zwar in Stuttgart redigiert wurden aber außerhalb Stuttgarts erschienen: "Texte und Zeichen" im Luchterhand-Verlag in Berlin/Neuwied der "Augenblick" zunächst im Agis-Verlag in Krefeld, der auch die damals wichtige Zeitschrift "Das Kunstwerk" herausgab, dann im Bläschke-Verlag, Darmstadt, schließlich im Eigenverlag in Siegen.
Ein Zweites, das festgehalten werden muß, war dem Programm von "Texte und Zeichen" implizit, dem Zweittitel des "Augenblick" bereits explizit und programmatisch abzulesen: die Einbindung der ästhetischen Diskussion in einen philosophischen Zusammenhang und die Verbindung von Tendenz und Experiment.
Was beide Zeitschriften drittens schon äußerlich verband, war die Gemeinsamkeit einiger ihrer Autoren. So schrieb Andersch im "Augenblick", Bense in "Texte und Zeichen", veröffentlichten Helmut Heißenbüttel, der 1957 nach Stuttgart kam, Arno Schmidt und andere in beiden Organen.
Aber es gab auch Korrespondenzen im Bereich der bildenden Kunst, die von beiden Zeitschriften auffällig berücksichtigt wurde. So bildete "Texte und Zeichen" 1956 vier Arbeiten Alberto Giacommettis ab, nachdem der "Augenblick" sein erstes Heft mit der Abbildung einer Giacommetti-Skulptur eröffnet hatte, der ein Aufsatz Francis Ponges und eine Replik Benses folgten. 1955 gaben "Texte und Zeichen" zwei Holzschnitte Hans Arps wieder, während der "Augenblick" ein Gedicht Arps über Josef Albers abdruckte. Max Bill, der von 1950 bis 1957 Direktor der Ulmer "Hochschule für Gestaltung" war, zwischen der und Stuttgart eine Reihe nicht zu unterschätzender Wechselbeziehungen spielten, war in beiden Zeitschriften vertreten. Abbildung, zumindest mehrfache Erwähnung fanden ferner K.R.H. Sonderborg in "Texte und Zeichen", mit einem begleitenden Text von Heißenbüttel, im "Augenblick" Henri Michaux, Pablo Picasso, Fridel Vordemberge-Gildewart, Georges Braque, Reinhold Koehler, Eugene de Kermadec, Emil Schumacher und Georg Karl Pfahler.
Diese Liste ist unvollständig, aber durchaus schon geeignet, das Panorama anzudeuten, vor dem die ästhetische Diskussion Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre geführt wurde. Und zwar unter zwei Aspekten. Erstens einem historischen, indem man sich zentraler Tendenzen und Traditionen des Kubismus, Konstruktivismus, Dadaismus zu vergewissern versuchte, den durch den Nationalsozialismus unterbrochenen Anschluß wiederherstellen wollte an die Errungenschaften der Kulturrevolution zu Beginn des Jahrhunderts. Wobei es sicherlich kein Zufall war, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dadaismus, mit den Werken Arps und Schwitters' wesentlich zunächst von Stuttgart ausging.
Zweitens war die ästhetische Auseinandersetzung mit der aktuellen Kunst nicht einseitig, wie gelegentlich zu lesen ist, sondern umfassend. Denn zur Diskussion standen nicht nur die Tendenzen der Hochschule für Gestaltung, also die konkrete Kunst, sondern in gleichem Maße, wie die Namen Schumacher, Sonderborg, Pfahler belegen, der Tachismus, die Kunst des Informel. So daß sich neben "Tendenz und Experiment" als zweites Begriffspaar konkret und informell stellte und, in der weiteren Entwicklung, das Dokumentarische neben das Gegenstandlos- Konstruktive, der Neue Realismus neben das Hard edge, die Collage neben den Purismus traten.
Und noch ein Drittes ist bereits bei oberflächlicher Musterung der beiden genannten Zeitschriften auffällig: daß nämlich die den Abbildungen zugesetzten Texte von Francis Ponge, Bense, Heißenbüttel, mir und anderen den Künstler oder eine seiner Arbeiten oft nicht diskursiv beschrieben, sondern daß sie zum Teil versuchten, sich ihnen ästhetisch zu nähern. Arps Text zu Albers war ein Gedicht, mein Text zu Pfahler nannte sich gezielt "Context", was heißen sollte, daß der Text in seinen Strukturen etwas dem Bild, seiner Malerei Adäquates an die Seite stellen wollte.
Wie Kunst stets aus Kunst und Bücher aus Büchern entstehen, war auch dies in der Kunstrevolution vorbereitet in Texturen der Dadaisten oder - und dies speziell - Gertrude Steins, deren "Vollendetes Portrait von Picasso" bekanntlich schließt:
Schlösser schliessen und öffnen sich wie Königinnen es tun. Schlösser schliessen und Schlösser und so schliessen Schlösser und Schlösser und so und so Schlösser, und so schliessen Schlösser und so schliessen Schlösser und Schlösser und so. Und so schliessen Schlösser und so und also. Und also und so und so und also. Lassen Sie mich erzählen was Geschichte lehrt, Geschichte lehrt.
[Vgl. auch Döhl: Gertrude Stein und Stuttgart]
Wer sich für solche Kontexte interessiert, sei unter anderem auf Helmut Heißenbüttels "Gelegenheitsgedichte und Klappentexte" (1973) oder meine "Prosa zum Beispiel" (1965) verwiesen, die eine größere Menge hier einschlägiger Beispiele versammeln. Im Rahmen eines Vortrags muß das Gesagte und Zitierte ausreichen als Beleg für eine erneute Annäherung von Literatur und bildender Kunst Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre.
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Mit Pfahler ist zugleich der Name
eines Künstlers gefallen, der zu einem zweiten Ansatzpunkt führt.
1954 mieteten die Stuttgarter Maler Günther C. Kirchberger, Pfahler,
Hans Schreiner und Friedrich Sieber gemeinsam eine Lithografie- Werkstatt
in der Olgastraße 70A. Zu ihnen gesellte sich kurze Zeit später
der Architekt und Maler Atila Biro und kurzfristig auch der Grafiker Günter
Schöllkopf. 1955 zog die Werkstatt in die Dillmannstraße 11
um. Im gleichen Jahr kam es zur Gründung der Gruppe 11, der nurmehr
Atila Biro, Kirchberger, Pfahler und Sieber angehörten. Diese Gruppe
11 stellte 1957 gemeinsam in London, Brüssel, Rom und dann erstmals
auch in Stuttgart in der Galerie Rauls aus. Eröffner der Ausstellung
war Heißenbüttel, der seine Ausführungen mit dem Hinweis
begann, es ginge nicht nur darum, diese Maler ganz allgemein vorzustellen,
es käme vielmehr darauf an, sie in Stuttgart und für Stuttgart
vorzustellen.
Damit soll nicht irgendeiner Art von Lokalpatriotismus gedient werden, sondern es soll denjenigen, die sich für die Kunst unserer Zeit interessieren, gezeigt werden, wo hier, in unmittelbarer Nähe, lebendige Impulse gegeben werden. Es soll einer Meinung entgegengetreten werden, die allzu leicht geneigt ist, als repräsentativ für das Stuttgarter Kunstleben die Auktionen des Hauses Ketterer anzusehen. Ist Stuttgart konservativ? Wohl nicht mehr als andere westdeutsche Städte auch. Es muß jedoch gesagt werden, daß das öffentliche Echo, auf die Versuche, Neues und Unerprobtes vorzuweisen, immer wieder durch die Berichterstattung in höchst eigentümlicher Weise gedämpft wird. Dabei wird weniger etwas angegriffen, als vielmehr das, was versucht wird, mit achselzuckender Ignoranz übergangen und nicht zur Kenntnis genommen.
Kurze Zeit später löste sich die Gruppe auf, Atila Biro lebte bereits in Paris, verlor aber zu Lebzeiten den Kontakt mit Kirchberger, Bense und mir nie ganz, wie eine Ausstellung in der Studien-Galerie der Universität Stuttgart und die in den letzten Jahren bis zu Atilas Tod 1985 ausschließlich von Bense und mir eröffneten Ausstellungen in Kornwestheim und Sindelfingen leicht belegen.
Auch Sieber schied schon damals als Künstler aus der Galerie aus und begegnete danach in verschiedenen anderen Gruppierungen, von denen die wichtigste wahrscheinlich die 1961 gegründete "Neue Württembergische Gruppe" war, der neben Sieber Franz Bucher, Hal Busse, Emil Cimiotti, Roland Dörfler, Robert Förch, Peter Grau, Erich Hauser, Josef Kroha, Walter Rabe, Günter Schöllkopf, Hans Schreiner und Adolf Silberberger angehörten. Ich werde mir für den weiteren Verlauf solche Namenslisten soweit möglich verkneifen, möchte aber die "Neue Württembergische Gruppe" wenigstens als ein Beispiel für die zahlreicheren Gruppierungen der 60er Jahre genannt haben, die untereinander stark fluktuierten, bei genauerem Hinsehen aber kaum neue Namen aufwiesen.
Ein gewissenhafterer Chronist, als ich es bin, müßte jetzt im Detail auf Verbindungen Hal Busses zu Benses "Augenblick", von Förch und Schöllkopf zur Rössing-Schule und damit auf die Stuttgarter Akademie eingehen, darauf, daß Schreiner 1963 das Stipendium des "Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie" und 1964/1965 das Stipendium Villa Massimo zugesprochen bekam und so weiter und so fort.
Ich beschränke mich jedoch auf den Hinweis, daß Hauser kurze Zeit später kurzfristig von der Galerie Müller vertreten wurde, und komme damit zur Galerie Rauls zurück, die sich nach ihrem Umzug von der Rosenberg- in die Hohenheimer Straße als Galerie Müller im Bereich der Malerei jetzt nur noch um Kirchberger und Pfahler, im Bereich der Plastik um Paul Reich und Kaspar Thomas Lenk kümmerte. Auch Reich verließ nach seiner Ausstellung 1961 bald die Galerie, ebenso Kirchberger 1964, nachdem er an die Werkkunstschule in Krefeld berufen worden war. So daß Müller seine Galeriearbeit in der Folgezeit auf Pfahler und Lenk konzentrieren konnte, bevor er sie Mitte der 60er Jahre der amerikanischen Kunst öffnete.
Eine Art Bestätigung und Nobilitierung erfuhr dieses Galeriekonzept durch die 1967 im Württembergischen Kunstverein inszenierte Ausstellung "Formen der Farbe", in der sich die Öffnung nach Amerika mit einer Tradition traf, die Denise Rene 1964 mit ihrer legendären Pariser Ausstellung "hard-edge" gestiftet hatte. Doch ist dies bereits Gegenstand eines Vortrags gewesen, kann also in meinem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben.
Nicht unberücksichtigt bleiben können dagegen die Anfänge dieser Galerie, denn die Galerie Rauls war bereits Nachfolgerin des Ateliers Rauls, das 1958 von Müller, dem Architekten Harald Rogler und dem frischgebackenen Lehrer für Typografie an der Grafischen Fachschule Stuttgart, Klaus Burkhardt, gegründet worden war, und seine ersten Ausstellungen mit Arbeiten u.a. von Max Ackermann und Lothar Schall noch recht unsicher bestritt.
Bevor ich jedoch auf Burkhardt, und damit auf einen für die 60er Jahre wichtigen Typografen und Drucker zu sprechen komme, muß ich, die Skizze der Gruppe 11 abschließend, die relativ engen Verbindungen zwischen ihr und der später sogenannten Stuttgarter Gruppe/Schule, von der ebenfalls noch zu reden sein wird, wenigstens ansprechen. Daß Heißenbüttel die erste und zugleich letzte Stuttgarter Ausstellung dieser Gruppe eröffnete, wurde schon gesagt, Aber auch nach Auflösung der Gruppe wurden die Einzelausstellungen und Kataloge der Exmitglieder immer wieder einmal von Bense, Heißenbüttel oder mir eröffnet oder eingeleitet, kam es sogar zu einigen bemerkenswerten gemeinsamen Publikationen von Bense und Pfahler z.B. mit "reste eines gesichts", von Pfahler und mir z.B. mit dem von Burkhardt gedruckten "affiche 14", einem Integrationsversuch von Lithografie und Text, vor allem aber von Kirchberger und mir bei zahlreichen "Text-Grafik-Integrationen" und "Comic strips", für deren Verständnis nicht unwichtig ist zu wissen, daß 1962 in Berlin "Skripturale Malerei", 1963 in Amsterdam und Baden-Baden die Ausstellung "Schrift und Bild" gezeigt wurden - zwei für die frühen 60er Jahre besonders wichtige Präsentationen künstlerischer Grenzerkundung.
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Und noch eine weitere Verbindunglinie
läßt sich über die Gruppe 11 aufnehmen. 1957 stellte nämlich
außer ihr auch der Italiener Luciano Lattanzi in der Londoner New
Vision Gallery aus und veröffentlichte bei dieser Gelegenheit ein
"Manifest of Semantic Painting". 1969 präsentierte sich die Gruppe
11 in der Drian Gallery, Lattanzi ebendort ein Jahr später, wobei
er den gleichzeitig in der Woodstock Gallery ausstellenden Werner Schreib
kennenlernte. Aus dieser zufälligen Konstellation entwickelte sich
ein längerfristiger Kontakt zwischen vor allem Werner Schreib und
Stuttgarter Künstlern, aber auch Galerien. Im Oktober 1960 widmete
Klaus Burkhardt das "affiche 7" ausschließlich Schreib. 1961 zitierte
ein "semantisches Bild" Schreibs Sonderborg herbei, 1962 stellten Lattanzi
und Schreib in der Galerie Lutz & Meyer unter dem Titel "sema" semantische
Malerei und Zeichnung aus, kam es zu einem theoretischen Zusammenstoß
mit der Bense-Schule, die den Begriff des Semantischen (an Frege, Morris
und Peirce orientiert) natürlich anders faßte und den um Einverständnis
bemühten Künstlern die Berechtigung ihrer Begrifflichkeit überhaupt
bestritt, was der Freundschaft ansonsten keinen Abbruch tat. Denn noch
in Schreibs nachgelassener "Roman-Assemblage", "Das Tribunal", hat Bense
das letzte Wort.
Ein gemeinsames Interesse an Dadaismus, an Hugo Ball, Arp, Schwitters und Max Ernst verbanden Werner Schreib mit Stuttgart ebenso wie gemeinsame Auftritte mit Stuttgarter Künstlern. Und wenn sich auch nicht alle Publikationspläne, zunächst mit Klaus Burkhardt, dann mit Hansjörg Mayer, realisierten, wenn auch Schreib nicht seine gewünschte Einzelausstellung in der Galerie Hansjörg Mayers, die 1969 schloß, bekam, im März 1972 fand sie doch noch, wenn auch posthum, in der Galerie Folkmar von Kolczynski statt. Um so ärgerlicher war es, daß sich, trotz dieser zeitweilig engen Bindung des Künstlers an Stuttgart, 1987 keine Möglichkeit fand, die große Werner-Schreib-Retrospektive auch in Stuttgart zu zeigen. Sie mußte im Ludwigsburger Kunstverein Station machen, wo sich dann - wie so oft - Stuttgarter Künstler außerhalb ihrer Stadt treffen konnten.
[Vgl. auch Döhl: Werner Schreib und Stuttgart - Eine Spurensicherung]
Schreib war nicht der einzige auswärtige Künstler, der in den 60er Jahren mit der Stuttgarter Kunstszene enger verbunden war. Einen zweiten Namen, Reinhold Koehler, habe ich bereits genannt. Daß Atila Biro, der sich jetzt nur noch Atila nannte, trotz seines Umzugs nach Paris mit Stuttgart verbunden blieb, habe ich erwähnt. Oft waren es Publikationen, vor allem aber Ausstellungen z.B. in der von Bense geleiteten Studien-Galerie der Technischen Hochschule/dann Universität, später der Galerie Hansjörg Mayers, in den letzten Jahren in der Galerie Buch Julius, die diese Verbundenheit bis heute dokumentieren. Ich kann das hier im einzelnen nicht ausfalten, werde aber einige der hier wichtigen Namen noch nennen, begnüge mich ansonsten mit dem stellvertretend gemeinten Hinweis auf Schreib.
Nicht nur wegen der Schreib/Lattanzi-Ausstellung von 1962 muß in einer Bestandsaufnahme der 60er Jahre die Galerie Lutz & Meyer erwähnt werden. Zwar beendete sie 1963 nach dem Tode von Lutz ihre für Stuttgart bedeutende Vermittlertätigkeit. Aber bis dahin hatte sie zwei wesentliche Aufgaben wahrgenommen. Vor allem war sie es, die in den ausgehenden 50er und frühen 60er Jahren die Erinnerung an die großen Stuttgarter Willi Baumeister und Oskar Schlemmer wachhielt, auf das Werk Walter Wörns verwies und Adolf Fleischmann, nach seiner späten Rückkehr aus der Emigration, die meines Wissens erste Nachkriegsausstellung in der Bundesrepublik einrichtete. Gleichzeitig galt ihr Bemühen in den letzten Jahren auch der jüngsten Kunst, speziell Grieshaber-Schülern, oder allgemeiner gesprochen einer gelegentlich auch sogenannten Karlsruher Schule, wobei ich mich vor allem an eine Ausstellung Walter Störers und einen durch sie ausgelösten heftigen Streit erinnere. Doch richtete sich das Augenmerk der Galerie nicht ausschließlich auf die Akademie in Karlsruhe, was - im Vorbeigehen gesagt - auch signalisiert, daß von der Stuttgarter Akademie damals entscheidende Impulse kaum ausgingen. Mit Ausstellungen von Lattanzi/Schreib und 1960 von Heinz Hirscher deutete sie zugleich an, daß sie gewillt war, ihr Angebot offen zu halten für interessante Künstler in und außerhalb Stuttgarts. Anläßlich der Ausstellung Hirschers erschien übrigens ein "affiche" Burkhardts, das Hirscher nicht nur als Collagisten, sondern auch als Autor präsentierte:
"Morgens wenn ich im Bad bin / treffe ich mich mit der Königin von Saba. / Das ist wie schon der Name sagt, eine Rasierklinge. / Salomonischer Weisheiten voll / schabt sie mein Kinn. / Wir hören jetzt überall / solch gekürztes Wissen der Neuzeit / und es gibt einen Gustav Schwab, / der über die klassischen Sagen / der Wirtschaft verfügt. // Wissen sie, ich bin aus dem Lande / der Dichter und Denker, / Schwabe, da muß ich ja wissen / wie sich verwandtschaftlich alles verflicht. / Vielleicht bin ich eines Mörike eines Hölderlin Vetter / wer weiß, wo der Genius / im Blut mir erstarb! [...]"
[Vgl. auch Döhl: Et in Arcadia (n)ego oder Einige Vermutungen zur Poesie der Materialkunst]
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Texte dieser Art waren es allerdings
nicht, die damals von Max Benses "Texttheorie", von den Autoren einer sogenannten
Stuttgarter Gruppe/Schule gefordert und geschrieben wurden. Die waren radikaler,
ebenso wie Benses ästhetische Theorien, die er bereits in der zweiten
Hälfte der 50er Jahre vorlegte, 1960 mit der "Programmierung des Schönen"
abschloß und zu einer umfassenden "Aesthetica" (1965) zusammenfaßte.
Max Bense war durch seine zahlreichen Aktivitäten seit Mitte/Ende der 50er Jahre ein entscheidender Impulsgenerator für die Stuttgarter Szene und drüber hinaus. Zwar hatte er außerhalb seiner Forschung und Lehre nicht eigentlich Schüler, die seine Ideen fortsetzten. Aber als Anreger, auch durch den Widerspruch, den er provozierte, wirkte er umfassender, als man oft annimmt. Zwar gab es kaum jemand, der nach seinen Regeln schrieb, malte, komponierte, wohl aber gab es eine Vielzahl Künstler, die, von ihm - bewußt oder unbewußt - angeregt oder provoziert, diese Anregungen, diese Provokationen in einen jeweils eigenen Stil, eine jeweils eigene Handschrift umsetzten. Zu Benses zahlreichen Aktivitäten zählte natürlich in erster Linie die eigene Produktion, die neben seiner wissenschaftlichen Arbeit vor allem ein literarisches Werk zeitigte, darunter auch konkrete Texturen an der Grenze zu einer visuellen Poesie. Ich nenne zwei Beispiele, erstens den "jetzt"-Text, den Bense im Rahmen einer Veranstaltung in der Kunstakademie anläßlich seines 75. Geburtstages selbst interpretierte und unter anderem - wen wundert's - von Hegel herleitete. Zweitens die "Textselektion" "Rosenschuttplatz", die 1964 von Hansjörg Mayer typografisch umgesetzt wurde in eine Partitur, die dann von der Schola cantorum unter Clytus Gottwald ihre akustische Realisierung erfuhr.
Es ist dies, stellvertretend, auch ein Beleg für zahlreiche weitere Versuche der damaligen Zeit, die Grenze zwischen Text und Musik fließend zu halten, was die sehr intensive Hörspielarbeit in der zweiten Hälfte der 60er Jahre mit erklärt, obwohl die damals entstehenden Arbeiten nicht vom Süddeutschen Rundfunk, sondern zunächst vom Saarländischen, später und vor allem vom Westdeutschen Rundfunk realisiert wurden in einer Entwicklung, die im Laufe der Jahre zu einer Ars acustica führte, die 1987 auf der documenta umfassend vertreten war - mit Stuttgarter Beiträgen.
Hansjörg Mayers Umsetzung des Benseschen "Rosenschuttplatz[es]" interessiert aber noch aus einem zweiten Grunde. Mayer hatte nämlich den ersten Zustand der Textpartitur durch weitere Druckgänge zunehmend der Lesbarkeit entzogen und in eine Typografik überführt. "Kunst, gemaakt met behulp van grafische technieken" bezeichnete 1967 eine Ausstellung des Stedelijk van Abbemuseums in Eindhoven, an der auch Stuttgarter Künstler beteiligt waren, diese Art von Typografik wohl am zutreffendsten.
Die zweite Aktivität, mit der Bense anregend tätig wurde, war die schon genannte Herausgabe der Zeitschrift "Augenblick" als Publikationsforum junger Autoren, als Diskussionspodium für ästhetische Fragen und hier speziell einer sich entwikelnden konkreten Poesie mit ihren vielfältigen Spielformen. Als 1961 der "Augenblick" wegen "materieller Schwierigkeiten" sein Erscheinen einstellen mußte, lagen bereits die ersten Hefte der Publikationsfolge "rot" vor, die es im Laufe der Jahre auf über 50 Nummern brachte und zwischen Philosophie, ästhetischer Theorie, Literatur und bildender Kunst praktisch das ganze Spektrum Benseschen Interesses absteckte. Daß in dieser Reihe unter anderem Bense, Döhl, Heißenbüttel, Harig, Ernst Jandl, der in Stuttgart entdeckt wurde
[vgl. auch Döhl: Ernst Jandl und Stuttgart],
ferner Franz Mon, die brasilianische Noigandresgruppe und Diter Rot veröffentlichten, ist im Rahmen meines Vortrags weniger bedeutend als die Tatsache, daß einzelne "rot"-Hefte lediglich durch den Umschlag 'getarnte', geringfügig erweiterte Kataloge von Ausstellungen waren, die Bense seit Ende der 50er Jahre in der schon erwähnten StudienGalerie organisierte. Sie wäre in meiner Aufzählung zugleich die dritte Aktivität Benses.
Bense hat anläßlich einer Retrospektive die Intensionen dieser 1957 eröffneten Studien-Galerie skizziert, darauf hingewiesen, daß und wie auch die Arbeit dieser Galerie eingebunden war in die wissenschaftlichen Interessen seines Instituts. Keine Verkaufs-, vielmehr eine "Versuchs- und Diskussionsgalerie" wollte sie sein und war sie in den 60er Jahren in der Tat. Ausgestellt wurden unter anderem in der Reihenfolge des Alphabets Atila, Burkhardt, Lygia Clark, Bruno Giorgi, Kermadec, Koehler, Harry Kramer, Aloisio Magalhaes Almir da Silva Mavignier, Hansjörg Mayer, Francois Morellet, Günter Neusel, Mira Schendel, Timm Ulrichs, Ulrich Zeh. Bereits diese sehr unvollständige Liste besetzt durch den Bill-Schüler Mavignier und durch Morellet als einen Interessenschwerpunkt die konkrete oder konstruktive Kunst, die wohl auch am ehesten und stärksten durch Bense direkte Impulse empfing. Die sehr unvollständige Liste belegt zweitens durch die Namen Clark, Giorgi, Magalhaes ein in den 60er Jahren starkes Interesse Benses an Brasilianischer Literatur, Kunst und Architektur. Sie signalisiert drittens mit den Namen Kermadec und Koehler, was ich im Falle Schreibs stellvertretend ausführte, eine in den 60er Jahren oft intensive Bindung auswärtiger Künstler an Stuttgart, denn Arbeiten sowohl Kermadecs wie Koehlers waren bereits relativ früh im "Augenblick" publiziert, dann auch ausgestellt worden. Über Kermadec lief ferner eine Verbindungslinie zu Daniel Henry Kahnweiler: einer der zahlreichen Kontakte mit Frankreich, darunter auch zum Club d'Essai oder zum Collegium Pataphysicum in Paris. Und Reinhold Koehler, für den damals mehrfach Texte von Bense, Heißenbüttel und mir entstanden, wurde bald ein zweites Mal in der Galerie Hansjörg Mayer ausgestellt.
[Zu Koehler vgl. auch Döhl: Contrecollages & Décollages-Imprimes]
Die unvollständige Ausstellungsliste belegt drittens, daß nicht zuletzt Stuttgarter Künstler (Burkhardt, Mayer, Neusel, Zeh) zur Diskussion standen, Neusel sicherlich auch im Kontext des Interesses an konkret-konstruktiver Kunst, Burkhardt und Mayer sicherlich auch infolge der Affinität von konkret visuellem Text und Typografie; Ulrich Zeh schließlich wegen eines dennoch offen gehaltenen Galeriekonzepts, denn mit ihm, mit Wolfgang Ehehalt und Uwe Ernst kamen um 1970 neue und andere Aspekte in die Stuttgarter Szene. Doch ist dies eine weitere Geschichte, über die ich hier nicht zu referieren habe.
5
Zwei Ausstellungen blieben bisher
in meiner unvollständigen Liste ausgespart. Es sind die vielleicht
wichtigsten Ausstellungen der Studien-Galerie, in jedem Fall aber diejenigen,
die die meiste Diskussion auslösten. Das ist einmal die im Wintersemester
1959/1960 veranstaltete erste Ausstellung konkreter Poesie, die in ihrer
Entwicklung, ihren Ausformungen, im Übergang zur visuellen Poesie
(und von dort weiter zur Collage) zu einem Wasserzeichen der Stuttgarter
Schule wie allgemein der 60er Jahre wurde. Dieser ersten Ausstellung 1959/1960
und den sich ihr anschließenden, z. T. sehr intensiven Diskussionen,
unter anderem mit Haroldo de Campos, dem Wortführer der brasilianischen
Noigandres-Gruppe, folgten in den Jahren 1965 mit "Konkrete Poesie international"
und 1970 mit "Konkrete Poesie international 2" noch zwei weitere Ausstellungen,
wobei schon sehr bald Hansjörg Mayer der zuständige Drucker und
bald auch Verleger wurde. Mit Ausstellungsfolgen, so daß man festhalten
darf, daß sich Stuttgart in den 60er Jahren zu einem der Dreh- und
Angelpunkte dieser zwischen Literatur und bildender Kunst schwankenden
Poesie mauserte.
Beispiele: Die jährlichen Ausstellungen im Rahmen der "Tage für neue Literatur" in Hof 1966-1970 wurden in Stuttgart geplant und zusammengestellt. Eine Wanderausstellung "texto letras imagines" für Barcelona und Madrid mit Arbeiten von Claus Bremer, Burkhardt, Siegfried Cremer, Kirchberger, Ferdinand Kriwet, Hansjörg Mayer, Franz Mon, Wolfgang Schmidt und mir wurde 1967 in Stuttgart aufgebaut, der Katalog in Stuttgart gedruckt. Die Zürcher Ausstellung "Text Buchstabe Bild" (1970) entstand in Zusammenarbeit von Felix Andreas Baumann und mir, ebenfalls der umfassende Katalog, und an Konzept, Katalog und Aufbau der großen Amsterdamer Ausstellung "klankteksten / ? konkrete poezie / visuele teksten" waren wiederum Stuttgarter maßgeblich beteiligt. Wobei anzumerken wäre, daß diese Ausstellung die konkrete Poesie bereits mit einem Fragezeichen versah.
Da diese Ausstellung, die über Antwerpen, Nürnberg, Liverpool nach Oxford wanderte, 1971 auch im Württembergischen Kunstverein mit umfassendem Rahmenprogramm Station machte, war den Stuttgartern immerhin die Möglichkeit geboten, zu besichtigen, was im Laufe eines guten Jahrzehnts in einem internationalen Kontext auch in ihrer Stadt geleistet worden war. Gleichzeitig signalisierte diese Ausstellung, daß künstlerische Entwicklungen auf diesem Gebiet kaum mehr möglich schienen. Und in der Tat hatte sich, wie die Geschichte der Galerie Hansjörg Mayer noch zeigen wird, anderes bereits angebahnt.
Konkrete und visuelle Poesie in der damaligen Form war Kunstgeschichte und museal geworden, wie noch einmal eine Ausstellung der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz bestätigte, die 1987 mit einem umfangreichen Katalog "buchstäblich wörtlich / wörtlich buchstäblich" wanderte. Eine Ausstellung, deren Katalog eine Londoner Sammlung aufarbeitete, die als Folge der Ausstellung "Between Poetry and Painting" des Institute of Contemporary Arts, 1965, angelegt worden war, die seinerzeit wiederum mit Stuttgarter Unterstützung zustande gekommen war. Was nicht zum letzten Mal für die 60er Jahre Stuttgart ins Spiel bringt, den Ort, an dem, wenn die Amsterdamer Ausstellung der Abgesang war, eine 1967 von der Buchhandlung Niedlich im Landesgewerbemuseum inszenierte Mammutlesung den Schwanengesang angestimmt hatte.
Ihn intonierten, in überfülltem Raum und mit Lautsprechern nach außen übertragen, Bense, Döhl, Gomringer, Harig, Heißenbüttel, Jandl, Kriwet, Mon, Rot, Gerhard Rühm (auch er damals wie Jandl ein häufigerer Gast), Konrad Balder Schäufelen und Wolfgang Schmidt. Und hätte Niedlich, der damals die Lesung auf Band aufzeichnete, die Bänder nicht verschlampert, wären sie sicherlich heute ein recht aufschlußreiches Dokument.
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Um den Charakter einer Diskussions-Galerie
stärker zur Geltung zu bringen, hatte Bense ein "Ästhetisches
Kolloquium" eingerichtet, in dem "bestimmte ästhetische Probleme,
die durch die Ausstellungen der Studien-Galerie vermittelt worden waren,
zur Diskussion standen". Gemeinsam in Funktion traten Ausstellung und Kolloquium
1965 bei einer Ausstellung von "Computer-Grafik", der ersten dieser Art
überhaupt. Sie zeigte Arbeiten von Georg Nees, der im Rahmen des Kolloquiums
gleichzeitig einen Vortrag zur Sache hielt. Eingeladen waren dazu einige
Maler und Kritiker, die sich jedoch angesichts dieser kybernetischen Kunstproduktion,
angesichts dieser von Bense sogenannten "künstlichen Kunst" ziemlich
ereiferten, zum Teil auch empört und protestierend das Kolloquium
verließen. Dabei kamen Ausstellung und Diskussion nicht einmal überraschend,
denn mit "künstlicher Poesie", also von Großrechenanlagen hergestellten
Texten arbeiteten Autoren im Umkreis von Bense schon seit 1960, nachdem
Theo Lutz Ende 1959 im "Augenblick" über die Herstellung "Stochastischer
Texte" berichtet und Texte dieser Art vorgestellt hatte.
Wie überhaupt technische Neuerungen häufiger Anlaß für Experimente boten, sei es mit neuen Aufzeichnungstechniken in Richtung einer musique concrete, sei es nach Einführung des Lichtsatzes. Hier wäre vor allem Burkhardt zu nennen, dessen "Coldttypestructures" zunächst in der Studien-Galerie ausgestellt, von Hansjörg Mayer dann als Mappe verlegt und noch einmal 1966 als erste Ausstellung seiner Galerie präsentiert wurden.
Daß dieses Experimentieren mit dem Lichtsatz, seinen Montagemöglichkeiten sehr schnell auch Autoren anregen würde, war zu erwarten und geschah denn auch ebenfalls noch 1966. Gezeigt wurden diese "poem structures" noch im gleichen Jahr in der Galerie Hansjörg Mayer, später an anderen Stellen und schließlich auch in der großen Amsterdamer Retrospektive.
Die subsumierte sie und die anderen aus Stuttgart angelieferten Exponate unter der Überschrift "Stuttgarter Gruppe" und folgte damit dem Wunsch der Betroffenen, die eine solche Bezeichnung der damals geläufigeren Etikettierung als Stuttgarter Schule vorzogen. Kunst, so waren sie überzeugt, lasse sich nicht auf einer Schule lehren und lernen, sondern sie entwickle sich allenfalls in gemeinsamer Arbeit, im Mit- und Gegeneinander. So kam es z.B. 1966/1967 zu einer sehr engen Zusammenarbeit zwischen Mayer, Kirchberger und mir, entstanden "Programmierte Bilder", "Programmierte Texte", "Programmierte Typografik", darunter die seinerzeit mehrfach ausgestellte Mappe "Typografie 2", in der sich Kirchberger auch als Erfinder konkreter Texturen vorstellte.
Ich muß mich noch einen Moment beim Begriff Stuttgarter Schule aufhalten. Umstritten ist heute, wie in solchen Fällen oft, wer diesen Begriff geprägt und/oder erstmals benutzt hat. Erstmalig benutzt wurde er auf einem ästhetischen Kolloquium auf Schloß Morsbroich, und zwar infolge eines Vortrags, bei dem Bense den akademischen Plural auctoritatis verwandt, also von "wir in Stuttgart" gesprochen hatte, was bei den von Benses ästhetischen Ideen und Thesen aufgeschreckten Zuhörern die Vorstellung eines ästhetisch konspirativen Stuttgarter Unternehmens, eben einer Stuttgarter Schule weckte. Wobei diese Bezeichnung in der Diskussion kritisch und eher abwertend gegen die aus Stuttgart kommenden Ideen gewendet wurde.
Inhaltlich anders füllte sich der Begriff ein Jahr später. Auf einer Tagung der Tel-Quel-Gruppe und der italienischen Gruppe 63 benutzten ihn Manfred Esser und Ludwig Harig zur Charakterisierung einer im Umkreis Benses entstandenen und entstehenden Literatur. In diesem Sinne verwandte ihn auch im Herbst 1963 die Pariser Kritik, als im Rahmen der Biennale am 19. Oktober, eingeleitet von Esser, Heißenbüttel, Harig und ich multilingual und -medial agierten, Typografik und einen Film Georg Benses nach einem Text von Claus Bremer zeigten, während Bazon Brock sich selbst, Kriwet und Mon beisteuerte, wie Essers eigenwillige Chronologie der 60er Jahre, "unter aller kritik der kritik", festgehalten hat.
Eine inhaltliche Erweiterung erfuhr dieser Begriffsgebrauch spätestens Mitte der 60er Jahre, indem man die in diesem Umfeld entstehende Typografik und bildende Kunst unter Stuttgarter Schule mit subsumierte. Wie immer dem sei; Stuttgarter Schule bezeichnete entweder die ästhetische Diskussion oder die Produktion, kaum je beides. So daß es in jedem Fall sinnvoller ist, ihn für die Produktion und die künstlerischen Hervorbringungen durch Stuttgarter Gruppe zu ersetzen, falls man nicht ganz darauf verzichten will, Denn eine im soziologischen Sinne abgeschlossene Gruppe, wie die Wiener Gruppe zeitweilig, ist die Stuttgarter Gruppe nie gewesen. Auch hat sie während der ganzen 60er Jahre fluktuiert. Zahlreiche Künstler von außerhalb wären ihr zuzurechnen, andere, auch Stuttgarter Künst-ler, haben ihrerseits diese Firmierung stets abgelehnt.
Auch ein hierher zu zählendes Manifest von Max Bense und mir, das März 1965 in der Stuttgart-Nummer der Grazer "manuskripte" erschien, vermied diese Etikettierung und war einfach "Zur Lage" überschrieben. Es ist notwendig, festzuhalten, daß dies die einzige manifeste Verlautbarung der Stuttgarter Gruppe/Schule blieb und der von Manfred Esser in seiner postdadaistischen Revue der 60er Jahre erwähnte, von mir 1962 anläßlich einer Calenderblättermatinee verlesene gemeinsame Text alles Mögliche, keinesfalls aber ein Manifest war. Da der Text nur in einem einzigen, von Burkhardt auf der Handpresse gedruckten Exemplar und einem Andruck existiert, sei er hier zitiert:
stuttgart inform7
auf dem nenner
auf dem laufen
den welche form
dran ist heißt
bestehn die 60er
die laufen ständig
& stuttgarter heißen
die 60er jahre namens
Niedlich hatte sehr schnell den räumlich beschränkten Bücherdienst in eine Galerie umimprovisiert, allerdings nie ein eigenes Galeriekonzept entwickelt. Dennoch sind neben regelmäßigen Lesungen von Autoren zunächst vor allem der Stuttgarter Gruppe, neben Innovationen wie den Schaufensterkritiken, die von eben denselben Autoren verfaßt wurden, einige der Ausstellungen erwähnenswert, vor allem dann, wenn sie sich mit dem bisher Aufgezählten verbinden lassen. Eine der ersten Ausstellungen war eine Ausstellung Roland Dörflers. Es folgen mehrere Ausstellungen Josua Reicharts, dessen Typografie und Drucke wie die Burkhardts, der ebenfalls dort ausstellte, sowohl auf Grieshaber wie, in einer weiteren Tradition, auf den Holländer Hendrik Nikolaas Werkman zurückwiesen. Eine mir vorliegende Fotografie zeigt, alles verbindend, Burkhardt und Grieshaber anläßlich der Baden-Badener "Hommage a Werkman" gemeinsam an der Handpresse.
Des weiteren präsentierte Niedlichs Galerie frühe Lithografien Paul Wunderlichs, die auch, mit einem Text Benses, in der Reihe "rot" publiziert wurden. Es folgten Arbeiten Janssens, für den sich Niedlich wiederholt engagierte. Daß sich Niedlich in einer Ein-Tages-Ausstellung für die erotischen Aquarelle Hermann Finsterlins einsetzte, hat eher anekdotischen Wert, zeigt aber zugleich, daß Niedlich in seiner buchhändlerischen und Galerie-Arbeit heiße Eisen ungern vermied. Erwähnenswert sind weiter eine frühe Ausstellung von Serigrafien Vaserelys, eine Ausstellung mit sehr reduzierten Zeichnungen Fritz Ruoffs, eine Ausstellung mit Objekten Bruno Demattios, sowie die ersten Ausstellungen der Kreidezeichnungen von Uwe Ernst. Dazwischen und ansonsten ergänzte Niedlich in seiner Galeriearbeit mit Ausstellungen Kriwets, Mayers, Burkhardts, von Computer-Grafik und konkreter Literatur die Arbeit der Studien-Galerie und wirkte so gleichsam als Multiplikator in die Stuttgarter Öffentlichkeit hinein, die die Vorgänge innerhalb der Universität ja kaum wahrnahm. Ein Künstler muß abschließend noch einmal genannt werden, der für die Gestaltung der Werbeeinfälle Niedlichs, für die Typografie der beiden "Kritischen Jahrbücher" der Buchhandlung verantwortliche, dem Buchhändler über alle Jahre freundschaftlich verbundene Frankfurter Wolfgang Schmidt, der aber auch bei Hansjörg Mayer ausstellte, verlegte und in Amsterdam wie anderen Orts oft mit von der Partie war.
8
Damit komme ich, meinen Ausflug in
die Stuttgarter 60er Jahre abschließend, zum Drucker, Editor und
Galeristen Hansjörg Mayer, bzw. zunächst etwas allgemeiner zu
den Druckern und Typografen der 60er Jahre. Josua Reichert, dessen Arbeiten
von Niedlich in den ersten Jahren seiner Galerie-Tätigkeit mehrfach
ausgestellt waren, wird von der Stuttgarter Gruppe/Schule zwar anregend
wahrgenommen, spielt aber weder als Drucker von Texten noch in eigener
Sache eine integrierte Rolle. Immerhin ist es sein Verdienst mit, daß
die Typografik als Kunst auch in Deutschland akzeptiert wurde, was bisher
- Werkman hin, dadaistische Typografie her - keinesfalls der Fall war.
Ich spiele hier an auf jenen Kunstpreis der Jugend, der 1963 an Reichert
verliehen wird, wobei er mit wenigen Stimmen vor Johannes Schreiter durchs
Ziel ging.
Damals waren es nicht zuletzt die Typografen und Drucker, die uns legitimierten, der späteren Müllerschen Formel, daß Kunst nicht von Können komme, die andere Formel "Kunst Handwerk Kunst" entgegenzuhalten, eine Formel, zu der ich übrigens und nachdrücklich immer noch stehe. Die Entdeckung eines Putzlappens ist noch keine Erfindung von Stil, und wer, wie berechtigt auch immer, den Kunstbegriff erweitern will, muß eventuell auch den Austritt aus der Kunst als Preis in Kauf nehmen. Im übrigen empfiehlt es sich hier wie in anderen Notfällen einmal bei Schwitters nachzuschlagen, der schon Anfang der 20er Jahre allen Kunstbegriffserweiterern ins Stammbuch schrieb: "Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff 'Kunst' erst los werden müssen, um zur 'Kunst' zu gelangen." Ende der Abschweifung.
Wichtiger als Reichert war für die Kunstszene Anfang der 60er Jahre Burkhardt, den ich bereits als Galerie-Mitbegründer und Drucker nannte. Er war wichtig in einer dreifachen Funktion. Zunächst als Setzer und Drucker, der zum Beispiel für die Galerie Müller heute gesuchte Bücher mit Originalgrafik druckte: Bense/Pfahlers schon erwähnte "reste eines gesichts", ferner Karl Fred Dahmen/Döhls "so etwas wie eine geschichte von etwas", Karl Otto Götz/Franz Mons "verläufe" oder Theodor Wiesengrund Adorno/Thomas Lenks "Nachbilder zu Mahler". Ferner gab Burkhardt 1960/1961 22 und 1 "affiche" heraus, was schon vom Titel her die Nachbarschaft zu Galerie und Ausstellung betonte. Die Schreib, Pfahler, Hirscher gewidmeten "affiches" wurden bereits genannt. Daß Grieshaber ein Affiche mit Originalholzschnitt gewidmet bekam, verstand sich von selbst. Gleichzeitig verwiesen andere Namen, die in der Reihe der "affiches" begegnen, Mario Persico. Ibrahim Kodra und Hsiao Chin, auf die Arbeit einer weiteren Galerie, die in einem Überblick über die 60er Jahre in Stuttgart ebenfalls erwähnt werden muß: die Galerie Senatore. Sie war es, die damals den Interessierten mit der aktuellen Kunst Italiens bekannt machte, erstmalig Arbeiten von Fontana und Manzoni in Deutschland zeigte, aber auch Künstler im Vorfeld der Arte povera vorstellte. Daß diese Vermittlungsarbeit keinesfalls exotisch war, sondern einer Interessenlage wenigstens der jungen Künstler entsprach, ließe sich mit einem Seitenblick auf die Ausstellungen der Galerie Müller belegen, die mit dem Maler Canonico und dem Plastiker San Gregorio kurzfristig ebenfalls zwei, allerdings weniger aufregende Italiener im Programm hatte.
Die dritte Funktion Burkhardts war seine Drucken in eigener Sache, womit ich nicht seine Texte und Postkarten meine, sondern seine "Druck & Buchstabenbilder", die er mit beweglichen, oft jugendstilnahen Holzlettern druckte, zum Teil auf schon bedruckte Papiere. Ihnen gesellten sich nach ersten Experimenten mit dem Lichtsatz, die sogenannten "Coldtypestructures". Daß Burkhardt mit diesen zwei Werkphasen außerhalb Stuttgarts und im Ausland (mit den "Druck&Buchstabenbildern" z.B. in Stockholm, mit den "Coldtypestructures" vor allem in Holland) erfolgreicher als in Stuttgart war, muß kaum betont werden.
9
Als Drucker nach Burkhardt war schließlich
Hansjörg Mayer von noch größerer Bedeutung. Auch er wiederum
in einer Mehrfachfunktion, als Drucker und Herausgeber von Mappenwerken
und Büchern, zunächst vor allem im Umfeld der konkreten Literatur;
ferner als Herausgeber und Drucker der in mehrfacher Hinsicht programmatischen
Faltblattreihe "futura", die es - dem Alphabet entsprechend - in den Jahren
1965 bis 1968 auf 26 Nummern brachte. Mit Mayers Entscheidung für
die Futura als Schrift wurde - was man bisher übersehen hat - eine
Anregung des als Typograf noch zu entdeckenden Kurt Schwitters aufgegriffen,
der bereits 1925 die Futura als "die geeignete Schrift" proklamiert hatte,
mit dem Begründung: "Nicht das kleine a unterscheidet die Futura wesentlich,
sondern ihre Gestalt, ihr Reichtum, ihre Durcharbeit".
Wenn ich bisher eher allgemein angemerkt hatte, daß die Auseinandersetzung mit der Kunstrevolution, speziell mit dem Dadaismus einen eigenen Aspekt der 60er Jahre darstellt, muß ich dies jetzt ein wenig präzisieren. 1965 schloß ich selbst nach längeren Vorarbeiten eine umfassende Darstellung des literarischen Werkes von Hans Arp, den ich noch persönlich kennen lernte, ab. Burkhardt war seinerseits mit Raoul Hausmann bekannt und publizierte von und für ihn ein eigenes "affiche", veröffentlichte in der von ihm herausgegebenen, noch nicht erwähnten Publikationsfolge "Feuilleton" zwei Hausmannsche Manifeste und druckte 1961 den Handpressendruck "Siebensachen" mit drei Holzschnitten Hausmanns.
Vor allem Schwitters aber, der zu Lebzeiten ja mehrfach in Stuttgart war, im Süddeutschen Rundfunk sein berühmtes "An Anna Blume" und seine "Ursonate" aufgenommen und zur Weißenhofsiedlung einige despektierliche Bemerkungen gemacht hatte - vor allem Schwitters war wiederholt Gegenstand des Interesses. Sei es, daß Hansjörg Mayer - bewußt oder unbewußt - mit der für unsere damaligen Publikationen fast ausschließlich verwandten Futura auf den Vor-Konkreten Schwitters zurückgriff. Sei es, daß Hirscher anläßlich des 80. Geburtstages von Schwitters den später auch gedruckten Radio-Essay "Der Merzkünstler Kurt Schwitters und sein Materialbild" schrieb, während ich für die Stuttgarter Zeitung eine ganz Seite gestalten konnte, - so etwas war damals gelegentlich möglich, - auf der neben einem Essay auch ein bis dato in Deutschland unbekanntes Feuilleton Schwitters aus der Prager Presse veröffentlicht wurde. Bei den Vorüberlegungen mit dabei war ein weiteres mal Schreib, der im gleichen Jahr in einer Aktion vorschlug, England in Kurt-Schwitters-Land, Hannover in Kurt-Schwitters-Stadt und die Waldhausen- in eine Anna-Blume-Straße umzutaufen. Ohne Erfolg, wie ich zuverlässig versichern kann.
Will man das Programm der Edition und der Galerie Hansjörg Mayer zum Zweck eines Vortrags überschaubar machen, wäre zunächst festzuhalten, daß ihre Arbeit einsetzt, als konkrete Literatur und Kunst ihren Zenith überschritten hatten. Hansjörg Mayers Aktivitäten im Herbst einer konkreten Poesie und Kunst wären dann der Druck der Reihe "rot" seit 1964, und zwar beginnend mit der Nummer 13, der Mappen "13 visuelle texte", "konkrete poesie international" und "concrete poetry britain canada united states" und vieler - nicht aller - Nummern der Faltblattfolge "futura", schließlich, gemeinsam mit der Something-Else-Press, New York, 1967 die Herausgabe der "anthology of concrete poetry".
Ein eigenes Gesicht gewannen Edition und Galerie in diesem Kontext durch die radikale Reduktion auf das Alphabet als eines Ensembles materialer Zeichen, mit denen der Autor, Setzer, Drucker, aber auch der bildende Künstler komponierend verfuhr. Das schon genannte "rot 13" ist von Mayer selbst und bezeichnenderweise ein "alphabet". Mayer hat diese Arbeit mit dem Alphabet fortgesetzt in der Mappe des "alphabetenquadratbuches", mit "alphabetenquadratbildern", den "typoaktionen", die es in einer Buch- und einer Mappenversion gibt, sowie einigen "typoems".
Doch haben auch andere Künstler damals mit dem Alphabet gearbeitet, ihre Ergebnisse veröffentlicht und ausgestellt. Da wäre zum einen Burkhardt mit seinen Lichtsatzexperimenten, den schon genannten "Coldetypestructures". Da wäre ferner Siegfried Cremer, der 1964 nach Stuttgart kam und schnell Anschluß nicht nur an die Galerie und Edition Mayer fand. Cremer entwarf ein sehr reduziertes eigenes Alphabet, das ebenfalls als Mappe gedruckt und in der Galerie ausgestellt wurde. Aber er stellte mit Hilfe dieses Alphabets auch Textstreifen, vor allem aber Portraits her, die jede Tradition des Portraits konterkarierten.
[Zu den folgenden Werkgruppen Cremers vgl. Döhl: xyz-i]
Außerdem wären zu nennen die Ringbücher "bedepequ" und Mons programmatisch so genanntes "ainmal nur das alphabet gebrauchen", das allerdings zusätzlich Momente der Collage nutzte. Wozu ich anmerken möchte, daß nicht nur Hirscher, dessen Werk ja im Wesentlichen sich aus Collagen und Objektkästen zusammensetzt, in den 60er Jahren Collagen und Assemblagen schuf, sondern auch andere Künstler damals, wenn auch zeitweilig von der konstruktiven Malerei und Typografie dominiert, gleichzeitig collagiert haben, z.B. der ebenfalls mit Stuttgart verbundene Prager Jíri Kolár. Vieles davon ist bis heute fast unbekannt, z.B. mein "SpiegelFragmentBilderBuch" (1959-1962) oder die "Catalogues" (1967/68), manches sicherlich noch zu entdecken.
Vor allem vor 1965 umfaßte das Programm der Edition auch Radierungen von Hans Brög [vgl. dazu auch Döhl: Genesis] mit Texten u.a. des gelegentlich zur Stuttgarter Gruppe gerechneten, inzwischen verstorbenen Helmut Mader, Serigrafien von Jörg Dietrich und Friedrich Sieber. 1966 verlegte Mayer zusammen mit dem Siebdrucker Domberger eine zumindest für die damalige Stuttgarter Szene wichtige Mappe mit dem Titel "16 4 66", was aus dem Stenogramm übersetzt heißen sollte, daß sie von 16 Stuttgarter Künstlern jeweils vier Arbeiten aus dem Jahr 1966 enthielt. Diese Mappe verband in bezeichnender Weise Arbeiten von Schriftstellern, Typografen, bildenden Künstlern und einem Musiker und betonte auf diese Weise die Gemeinsamkeit aller Kunstarten. Zugleich zeigte sie das von mir schon angedeutete Nebeneinander oder Miteinander von konkret, konstruktiv und informell. Die Künstler, die in ihr für das Jahr 1966 gleichsam als Stuttgarter Querschnitt versammelt wurden, waren Bense, Burkhardt, Cremer, Döhl, Hein Gravenhorst, Heißenbüttel, Rudolf Hoflehner, Herbert W. Kapitzki, Erhard Karkoschka (mit einer Partitur), Kirchberger, Hansjörg Mayer, Frieder Nake (mit Computer-Grafik), Neusel, Yüksel Pazarkaya, Diter Rot und Sonderborg, der 1965 an die Kunstakademie berufen worden war.
Ausgehend von diesen 16 Beiträgern ließen sich leicht viele der Fäden wieder zurückspulen, die ich im Laufe des Vortrages aufgenommen habe. Aber sie lassen sich von dieser Mappe aus auch weiterspinnen. Das gilt einmal für den Beitrag Karkoschkas, der ein weiteres Mal belegt, daß in der kulturellen Szene der 60er Jahre in Stuttgart auch die Musik ihren Part spielte. Erstens als musikalische Grafik, wie der von Karkoschka verantwortete und im Katalog kommentierte Ausstellungsteil der von der Staatsgalerie 1972 zusammengestellten "Grenzgebiete der bildenden Kunst" dokumentierte. [Für die "Computerkunst" und den Teil "Bild Text Textbilder" waren Herbert W. Franke und ich zuständig.] Zweitens und wie schon ausgeführt mit fließenden Übergängen zum Hörspiel. Drittens konzertant mit in der musikalischen Praxis sonst unüblichen Geräuschquellen. Ein solches Konzert veranstaltete z.B. 1966 anläßlich einer Cremer-Ausstellung Friedhelm Döhl mit einem der ausgestellten Objekte unter Zuhilfenahme von Tonbändern. [Vgl. die "Gong"-Sequenz in Döhl: ein spiel das beginnen kann und aufhört].
Ein anderer Faden, der sich, von "16 4 66" ausgehend, weiterspinnen ließe, ist mit Diter Rot verbunden. Spult man ihn rückwärts, käme man auf der einen Seite zum Darmstädter Kreis um Claus Bremer, Daniel Spoerri, die Ende der 50er Jahre am Landestheater Darmstadt arbeiteten, und Emmet Williams, sowie Diter Rot und Andre Thomkins. Sie schufen in der Publikationsfolge "material" ein erstes Forum konkreter Literatur. Auf der anderen Seite käme man zu der von Mon 1960 herausgegebenen Anthologie "movens", die Arbeiten dieser Autoren durch Textabdrucke Gertrude Steins, Kurt Schwitters' und Hans Arps' gleichsam historisch fundierte.
Parallelen zu den Stuttgarter Aktivitäten lagen auf der Hand. Und so war es kaum überraschend, daß diese Namen bald auch, die Stuttgarter Szenerie komplettierend, im Programm von Edition und Galerie Hansjörg Mayer auftauchten: Emmet Williams als Herausgeber der "Anthology of Concrete Poetry" als Autor von "futura 12" und dem Buch "sweathearts", Claus Bremer als Autor von "futura 8", dessen "engagierende texte" zugleich die "Augenblick"-Formel "Tendenz und Experiment" illustrierten. Natürlich waren beide Autoren auch in der "Anthology of Concrete Poetry" vertreten, ebenso Spoerri, der zusammen mit Karl Gerstner, André Thomkins und Diter Rot 1969 das Düsseldorfer Ausstellungsquartett "freunde, friend, fruend, freunde" bildete, dem Hansjörg Mayer wiederum das gleichnamige Buch druckte. Andre Thomkins war ferner Autor von "futura 25" und stellte 1967 in der Galerie Hansjörg Mayer aus.
[Vgl. auch Döhl: STRATEGY: GET ARTS!]
Hinzukamen als Aussteller und Autoren Jirí Kolár, Herman de Vries, Robert Filliou, Georges Brecht sowie der Kopenhagener Künstler und Galerist Addi Koepke, über dessen Galerie sich wiederum weitere Fäden und Verbindungslinien vor allem in die Welt des Fluxus und der Happenings aufnehmen ließen, in einer Fülle, die mich provoziert, doch einmal festzuschreiben, daß Stuttgart in den 60er Jahren ganz nahe dran war, wirklich "Partner der Welt", wenn auch nur der Welt der Künste zu sein.
Der Künstler aber, der am intensivsten und bis zu ihrer Schließung mit der Galerie und Edition Mayer verbunden blieb, war Diter Rot. Mayer war der Verleger seiner zahlreichen Publikationen und Bücher, der Verleger der Gesammelten Werke, er stellte Diter Rot erstmals 1968 in Stuttgart aus: nicht wohlgeordnet und im Rahmen, wie spätere Museumspräsentationen, sondern chaotisch, die Arbeiten mit Reißzweken und Stecknadeln an den Wänden befestigt.
Ende 1968 bekam Hansjörg Mayer in Haags Gemeentemuseum eine umfassende Ausstellung: "publikaties van de edition en werk van hansjörg mayer". Zu dieser Ausstellung erschien ein umfassender, 194 Seiten starker Katalog, der nicht nur die ganze bisherige Arbeit in Text und Abbildung dokumentierte, sondern im Mittelteil auch Beiträge abbildete, die die Künstler der Edition und Galerie beigesteuert hatten. Sie allein wären bereits eine Ausstellung wert gewesen. Doch wurden sie, wie auch die Ausstellung insgesamt, in Stuttgart nicht mehr wahrgenommen, in der Tagespresse mit nicht einer Zeile erwähnt. Hansjörg Mayer hat 1969 seine Galerie geschlossen und ist nach England gegangen. Den Sitz seiner Edition hat er noch für einige Jahre in Stuttgart belassen. Finden wird man seine Bücher und Mappenwerke in Stuttgart vielleicht bei Niedlich oder Buch Julius, mit Sicherheit in der Buchhandlung König in Köln und anderwärts.
10
Ich bin mit meiner Skizze wichtiger
Akzente und Verbindungslinien in der Stuttgarter Kunstszene der 60er Jahre
fast am Ende. Diese Kunstszene hatte viel aufgenommen und wurde mitgetragen
von der Aufbruchsstimmung am Ende der Adenauerschen Restaurationsepoche.
Und sie hat im Verlaufe des Jahrzehnts wiederholt Höhepunkte überschritten.
So wie die Ausstellung von Edition und Werk Hansjörg Mayers in Den
Haag Bestandsaufnahme und Abgesang zugleich war, waren dies die "Anthology
of Concrete Poetry" 1967, 1968 die von der Buchhandlung Niedlich organisierte
Mammutlesung im Landesgewerbemuseum und die Amsterdamer Wanderausstellung
"klankteksten / ? konkrete poezie / visuelle teksten" für die konkrete
Literatur mit ihren Spielformen zwischen Text und Bild, war dies die Ausstellung
"Formen der Farbe" in ihrer Bündelung von op-art, hard-edge, minimal
art und konkreter Kunst. In all diesen Ausstellungen und Veranstaltungen
waren Stuttgarter Künstler mit gewichtigen Arbeiten und umfassend
vertreten.
Eine Ausstellung allerdings fehlt noch in meiner Auflistung, und mit ihr die Namen eines Sammlers und eines Künstlers. Ich meine die von Harald Szeemann für den Kölner Kunstverein organisierte Ausstellung "happening. die geschichte einer bewegung". Sie machte, auf dem Wege ins Stedelijk-Museum in Amsterdam und die Neue Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin, 1970 auch im Stuttgarter Kunstverein Station. Mit gutem Recht, denn die Materialien dieser Ausstellung stammten zu weiten Teilen aus dem Markgröninger Archiv Sohm.
Bei ihrer Zusammenstellung, bei Bibliographie, Typoskript und Chronologie war der Stuttgarter Künstler Albrecht/d wesentlich beteiligt. Ich nenne ihn, seine Aktionen, darunter 1967 als die wohl wichtigste eine "Handlung ohne Geschehen", sowie seine "Reflexion-Press" seit 1968 an dieser Stelle, da ich Albrecht/d's galerielose Existenz in den bisherigen Zusammenhängen nicht unterbringen konnte, ihn aber der Kunstszene der 60er Jahre zurechne. Wer wollte, konnte vor einigen Jahren im Wangener Theaterhaus, in der Galerie von Kolczynski und bei Buch Julius Albrecht/d's Stuttgarter Aktivitäten seit 1966 Revue passieren lassen.
In der von ihm mit erarbeiteten, auf Beständen des Archivs Sohm fußenden Happening-Ausstellung weitete sich für den Interessierten über Namen, die bereits im Zusammenhang mit der Galerie Hansjörg Mayer fielen - George Brecht, Robert Fillou, Dick Higgens, Addi Koepcke, Daniel Spoerri, Emmet Williams - der Blick auf weitere Künstler und Aktivitäten, die in ihrer Radikalität in Stuttgart so wohl nie möglich gewesen wären und dennoch indirekt über die Galerie Hansjörg Mayer oder durch persönliche Kontakte mit Stuttgarter Künstlern in die Stuttgarter Kunstszene der 60er Jahre partiell hineingewirkt haben. Immerhin fand in Ulm, um Ulm und um Ulm herum (Claus Bremer war inzwischen Dramaturg am dortigen Theater), wenigstens in Stuttgarter Nähe, wenigstens ein bedeutenderes Happening statt, das dann auch in die einschlägige Literatur und Dokumentation einging: Wolf Vostell hatte es 1964 für das studio f. und das Ulmer Theater geschrieben.
Man muß es schon als eine der wenigen Stuttgarter Sternstunden bezeichnen, daß es 1987 gelungen ist, der Sammlung Sohm als einer "Fröhlichen Wissenschaft" den Weg in die Stuttgarter Staatsgalerie zu ebnen, wählen doch wichtige Sammlungen in der Regel den Weg um Stuttgart herum. Eine Aufzählung darf ich mir ersparen.
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Ich möchte zum Schluß meiner
Skizze kommen, deren Blick vor allem auf Stuttgart gerichtet war, die dagegen
kaum ausgeführt hat, in welchem Umfang diese Stuttgarter Szene über
Stuttgart hinaus Kontakt hatte und hielt, nicht nur nach Brasilien,
Frankreich
und England, sondern auch in die Vereinigten Staaten, nach Skandinavien,
Italien, die
Tschechslowakische Republik und
Japan.
Diese vielfältigen Beziehungen im einzelnen nachzuzeichnen wird wohl
für lange Zeit noch ein Desiderat der Stuttgarter Kulturgeschichtsschreibung,
dieses Beziehungsgeflecht einmal in einer umfassenden Ausstellung zu dokumentieren,
ein in Stuttgart unerfüllbarer Wunschtraum bleiben.
Ich möchte zum Schluß kommen, weiß aber nicht, zu welchem. Drei Schlüsse sind möglich. Ich stelle sie zur Wahl.
Erster Schluß: es ist noch gar nicht so lange her, da war eine Ausstellung der 60er Jahre in Stuttgart geplant. Mit einigem Entsetzen mußten damals die daran Interessierten feststellen, daß diese Ausstellung weder ein Konzept hatte noch die für sie Verantwortlichen überhaupt wußten, was in den 60er Jahren, in denen Stuttgart wirklich einmal ein Partner der (Kunst)Welt war, wirklich geschehen ist. Dieser dilettantische Ausstellungsplan ist erfreulicherweise nicht verwirklicht worden. Im Gegensatz zu einer Ausstellung zur selben Zeit in Köln, die exemplarisch den Anschluß Kölns an die aktuelle Weltkunstszene vorführte: in allen Medien. Offensichtlich haben die Kölner, was Kunst anbetrifft, erheblich weniger Berührungsängste. Daß in ihrem Katalog auch ein paar Stuttgarter vorkommen, sei nebenbei erwähnt.
Zweiter Schluß: Hansjörg Mayer ging 1969 nach England, Heißenbüttel am Tag seiner Pensionierung nach Borsfleth. Andere gingen anderswohin. Bense war in Stuttgart schließlich kaum mehr anzutreffen. Und so wird es weitergehen. Die Schlußverkäufe sind jahreszeitlich festgelegt. Der Ausverkauf an Künstlern und Kunst findet ganzjährig statt. Im Zweifelsfall kann man nachhelfen, werden Künstler aus ihren Ateliers vertrieben. Ganz offiziell.
Dritter Schluß: kein Hegel- aber ein Hölderlinzitat. Erst kürzlich überreichte der Klett-Cotta-Verlag dem Oberbürgermeister ein historisches Stadtportrait mit einem, dem jungen Hölderlin entlehnten Motto: O Fürstin der Heimath! Glükliches Stuttgart. Vom älteren Hölderlin ist ein Fragment überliefert, das lautet:
Und Stuttgart, wo ichMehr ist dazu nicht zu sagen.
Ein Augenblicklicher, begraben
Liegen dürfte, dort,
Wo sich die Straße
Bieget.
[13.6.1988, Vortrag im Rahmen eines Projekts innerhalb der Veranstaltungsreihe "Stuttgarter Szenen. Bildende Kunst seit 1945" der Fachschaft Kunstgeschichte der Universität Stuttgart]