Kommentar:
Ich mache einen Sprung ins 20. Jahrhundert, das durch die Briefausstellung
bis hin zur mail art abgedeckt ist. Ursprünglich wollte ich, nachdem
ich bei der letztjährigen Tagung der Friedrich-Wolf-Gesellschaft kaum
eines Stuttgarters ansichtig wurde, mit Briefen von und an Friedrich Wolf
beginnen. Aber er ist in der Ausstellung exemplarisch vertreten, so daß
ich lediglich noch ein privates Gelegenheitsgedicht anfüge, das der
in Stuttgart praktizierende Arzt am 15.4.1932, nach zehnjähriger Ehe,
seiner zweiten Frau Else auf einem Rezeptformular improvisierte und zuschickte:
Stuttgart, 15.4.1932
R[eci]p[e]. AN MENI!
Kommt heran die Mitternacht
Nimm dies Lämplein leis und sacht,
Trag es durch des Kellers Grund,
ob nicht tröpfelt Hahn und Spund,
Ob im Sprechraum brennt kein Liht.
Oh die Heizung gut auf Schicht,
Unters Dach leucht sorgsam dann,
ob still schläft Kind, Maus und Mann,
Dann das Lämplein trag voll Ruh
Deiner eignen Schlafstatt zu,
In des Mittelstockes Prunk
Harret breite Lagerung,
Nimm noch etwas Konfitüre,
"Tempo" und die Schlaflektüre,
Streck Dich dann unter die Decke,
Zehn Jährlein sind eine Strecke!
Streck Dich lang, denk ein Sekündlein
An die bös und guten Stündlein,
Wollt man eines daraus missen,
Würd das Ganze umgeschmissen;
Nehmen wir uns. wie wir sind,
Rings mit allem Angebind,
Manchmal zart und manchmal grob,
Manchmal Schritt, manchmal Galopp,
Immer vorwärts, niemals stopp!
Jetzt machs Lämplein aus und gar,
Kuß! Und weiter zehen Jahr!
Also vom Manle
**
*
8.Juli 1937
Obwohl ich wenig in der Welt lebe, wußte ich von Ihrem 60. Geburtstag
noch rechtzeitig genug, um Ihnen einen Gruß zu senden. Aber die Stunde
war nicht da, es zu tun, und einfach so schreiben wollte ich nicht. Am
letzten Sonntag sind mir ein paar Verse zu Ende geraten, die schon lange
für Sie gedacht waren. Ich schicke sie Ihnen in kurzem mit einigen
Abschriften älterer Sachen als Dank für die schönen Gedichte,
die Sie mir seither zweimal haben zukommen lassen. Mit dem letzteren, dem
"Orgelspiel", haben Sie mich fast beschämt, weil ich Ihnen für
die ersten noch nicht gedankt und zum 2. Juli noch nicht geschrieben hatte.
Aber in Gedanken tat ich es mehr als einmal, und das wissen Sie vielleicht.
Ein Leben, wie das meine, ist nicht immer mitteilbar. Und was daran mitteilbar
ist, das wird mit den wachsenden Jahren mehr und mehr das Schicksalhafte
daran, das an die Geschlechterkette Gebundene, das Jüdische. Ich schrieb
Ihnen so etwas wohl schon früher.
Aber je eingesponnener man ist, desto nötiger ist es zu wissen, daß das wortlose Verstehen, die Gemeinschaft des Angesprochenseins an keinen Mauern halt macht, auch an den Mauern eines neuen Ghettos nicht. Und umso tiefer rührt ein Gruß und Zeichen von draußen an. Sehr von fern klingt das meisterliche "Orgelspiel" aus dem hohen Dom zu uns herein. Fern, nicht weil wir kein Ohr mehr dafür hätten, sondern weil es von soviel dumpferen Schicksalslauten übertönt wird, aber darum nicht weniger schön und unentbehrlich. Sie werden, wenn Sie demnächst meinen Gruß erhalten, - als ich ihn niederschrieb, wußte ich noch nichts von Ihrem "Orgelspiel" - einen seltsamen, oder vielleicht gar nicht so seltsamen Gleichklang erkennen! einen Klang, von dem auch der uralte Künder Jischajahu [= Jesaja] gewußt hat, ein vergessener, aus der Mode gekommener Organist auch er, zu seiner Zeit.
Ich wünsche Ihnen noch viele Ernten guter und segensreicher Jahre, oder besser, ich wünsche sie Ihren Freunden, und so, wenn ich mich zu denen zählen darf, auch mir.
Hermann Hesse an Leopold Marx
25.Juli 1937
Es reicht nicht zu Briefen, aber der Ihre samt Gedichten hat mich erreicht,
auch im Herzen erreicht, und ich möchte Ihnen danken und Ihnen sagen,
wie Ihr Mitschwingen mit dem "Orgelspiel" mich freut, Es gibt Zeiten, wo
ich die im Ghetto Lebenden beneide, sie haben Gemeinschaft, mir fehlt sie.
Aber in den Tagen um meinen 60. Geburtstag war immerhin viel Echo da, und
viel Versöhnendes. Vom Herzen dankt Ihnen (vor allem für das
mir gewidmete "Drunten" und für "Moscheh")
Ihr H. Hesse
Kommentar:
Diese Korrespondenz auch in Gedichten würde eines ausführlichen
Kommentars bedürfen, den ich hier nicht geben kann. Ich beschränke
mich deshalb auf das Zitat des Hermann Hesse gewidmeten "Drunten".
Leopold Marx
Drunten...
(Für Hermann Hesse)
In der Heimat fremd genannt,
Heimat ahnend im verschloß'nen fremden Land,
tiefverletzt, von rauhem Arm getroffen,
hingeworfen zwischen Furcht und Hoffen,
jede Freude trägt ein Bleigewicht -
ist es Prüfung oder - ist's Gericht?
Alte Bücher wissen von Erwählung,
fromm erschauernd las man die Erzählung.
Auserwählt zum Leid - wie gut zu sagen,
eh du selber deine Last getragen,
eh den Tag du, der dir angefangen,
angeklagt, daß er noch nicht vergangen,
eh der Tröster nachts dich floh, der Schlaf,...
eh dich selbst die Hand des Schicksals traf...
Heute: brüten, planen, leeres Spiel -
morgen: flüchten, irren ohne Ziel -
Arbeit: freudlos, stumpfen Sinns, verdrossen -
Ruhe: wie ein schaler Trank genossen -
Hände, die sich keinem Tun verwehren,
hängen - keiner fordert sie - im Leeren.
Alte siechen, dumpf in sich verkrochen,
lahm die Seele, Mut und Stolz gebrochen,
Kinder wachsen auf, schon leiderfahren,
eh sie ihres Jungseins inne waren...
Auserkoren...! Eher scheinst du fast
Gottes weggeworfener Ballast -
Nur - du bist noch da in Seiner Welt,
in der Winkel finstersten gestellt...
Alte Bücher voll entrückter Kunde -
steht da nicht vom Pfeil, der seiner Stunde
harrt, im Köcher dunkel tief verwahrt?
Ach, es ward so viel geoffenbart,
ach, und wir sind müd, jahrtausendmüd,
unser Frühling ist schon längst verblüht...
In den Synagogen dumpfe Beter
warten auf ein wesenloses Später,
kraftlos Heute, hoffnungsloses Morgen -
nein, die sind nicht Pfeil und nicht verborgen.
Und die andern - wandern, fort und fort,
viel zu stumpf für ein verhülltes Wort.
Jene aber, die zurückgefunden,
die ihr Leben an das Land gebunden,
Heimatboden pflügen, jäten, graben,
wollen nicht von Worten Weisung haben.
Und mit Fug: sie sind in Tages Haft,
Erde fordert ihre ganze Kraft.
So verborgen ist der Pfeil. Vermissen
mögen die ihn nur, die von ihm wissen,
weil auch sie der Stimme Diener sind,
Angewehte von dem ewigen Wind,
Boten, die für unser aller Qualen
mit dem Wort in ihrer Seele zahlen,
mit dem Wort, das, weil es keiner braucht,
unvernommen ins Verborgne taucht,
in des Köchers schützenden Verwahr...
Einmal wird die Botschaft offenbar.
1937
Kommentar:
Eine 'Korrespondenz' in Gedichten führte Leopold Marx in seinen
letzten Stuttgarter Jahren auch mit dem Ministerialen Martin Riekert. Aus
ihrem regelmäßigen Neujahrsgruß-Wechsel zitiere ich die
Sonette des Jahreswechsels 1937/1938:
Leopold Marx / Martin Riekert
Neujahrsgrüße aus der bösen Zeit
Leopold Marx: Das Nebelmeer
Das Jahr versank. Ich hab es sinken sehen:
fort war's, du sahst nicht Helm noch Säbel mehr
noch Flugzeug noch Kanonen noch Gewehr...
Wie können so handfeste Dinge so vergehen?
Ja, weggeblasen, gleichsam auf den Zehen
verschwand das Jahr in einem Nebelmeer...
Wer weiß wie bald schon wird das wilde Heer
aus dem verschwommnen Dunkel auferstehen.
Ich seh sie schon durch alle Himmel toben,
voran die Vier, die aus dem dunklen Buch,
reitend auf einem ungeheuren Fluch,
die Rechte drohend himmelwärts erhoben. -
Ein Jahrbeginn - ein Nebelmeer - ein Meer.
Wen schlingt es? Wem ist Überstehns Gewähr?
Martin Riekert: Gegengruß
Mein Leopold - nun ist es wieder Zeit!
hol' aus der Schublad' die Sonettenfeile!
Stark neigt sich schon das Jahr - das Ding hat Eile,
denn wie du siehst, ich bin bereits soweit.
Doch diesmal wird nicht mühsam prophezeit,
was uns im neuen Jahre werd zu teile
ob Glück, ob Leid, ob Lust - ob Schmerzgeheule -
sag Du es mir, ich bin nicht so gescheit!
Schlicht lös ich und gemütvoll das Problem:
Bringt Gutes mir des neuen Jahres Huld,
so ist mir das natürlich angenehm.
Bringt es mir Böses? trag ich's mit Geduld
und tröste mich damit: an alledem
sind wieder die verflixten Juden schuld!
Leopold Marx: Antwort an M. R.
Ja, du sprichst wahr. Uns trifft die Schuld für alles.
Nichts ist ganz Lüge, wessen man uns zeiht.
Doch die uns richten wollen - keines Falles
steht denen zu des Richters Ehrenkleid.
Wir tragen alle Schuld. Vor wem? Ich lall' es,
weil Sagen es schon fälscht... Und sind bereit
dafür zu zahlen. Unserer Schuldigkeit
erinnert uns der Tag des Hörnerhalles.
Der heißt für uns Neujahr. In Hast und Handeln
Vertun wir jedes alte - im Exil,
und jedes neue ruft uns neu. Es will
eins von uns, immer eins: daß wir uns wandeln!
Und unsre Antwort, jetzt wieje? - Man lullt
Sich ein und - läßt's...
und darum sind wir schuld.
1937
**
*
Im April 1995 wurden anläßlich des Japan-Festivals der VHS von Stuttgart aus an die Autoren Ilse und Pierre Garnier (Amiens/Frankreich), Bohumila Grögerová und Josef Hiršal (Prag), Hiroo Kamimura und Syun Suzuki (Japan), den in Bergisch-Gladbach lebenden türkischen Autor Yüksel Pazarkaya und Reinhard Döhl Briefe geschickt, in denen 8 Gedicht-Ketten so festgelegt waren, daß jeder der Beteiligten eine der Ketten beginnen, eine zweite schließen und daß, im Umlauf der Ketten, jeder auf jeden Briefpartner einmal reagieren mußte. Am 31. Mai 1995 war die letzte der acht Ketten geschlossen.
Ausgangspunkt für jede Kette ein als Motto vorgegebenes waka Onoe Saishûs: "Auf der nämlichen Erde / stehen die nämlichen Bäume beisammen. / Und auch am heutigen Tag / schlagen die nämlichen Blätter / raschelnd zusammen." Auf dieses war also zunächst zu reagieren, wobei das erste Gedicht einer Kette in der Regel das Thema der Kette anschlug.
Um möglichst viel Eigenes in die Beiträge einfließen zu lassen, waren die Korrespondenten angehalten, ihre Beiträge in ihrer eigenen Sprache zu schreiben (und mit einer Rohübersetzung zu versehen). Diese Bedingung schien auch deshalb geraten, weil es so möglich wurde, die unterschiedlichen Sprachstrukturen des Japanischen, Türkischen, Tschechischen, Französischen und Deutschen mit- und gegeneinander zum Klingen zu bringen.
Um dabei innerhalb der Ketten ein Mindestmaß an Ordnung zu garantieren und zu wahren, wurde die Fünfzeiligkeit des waka zugrunde gelegt, bei allerdings freigestellter Silbenzahl. Andere Regeln und Techniken der waka- und renga-Dichtung mußten hingegen nicht beachtet werden, ausgenommen die, daß jeder Beitrag an den voranstehenden anschließen sollte, wobei folgende Anschlußmöglichkeiten zur Wahl standen: direkter Bezug, gegensätzlicher Anschluß, Aufgreifen eines einzelnen Wortes oder Motivs, Zitat oder literarische Anspielung bzw. Reaktion darauf, sprachspielerischer Reflex oder auch nur das Fortführen einer Stimmung. Voraussetzung blieb in jedem Fall ein intensives Sicheinlassen auf den voranstehenden Beitrag.
Ich zitiere im Folgenden - die fremdsprachigen Beiträge in Übersetzung - die 7., von Stuttgart augehende, gewissermaßen poetologische und die 8., von Chiba ausgehende, vor allem Stuttgart bezügliche Kette:
6. Kette
Jederzeit ist es
Zeit, ein Gedicht zu machen.
Im Regen blinzeln
die Knospen des Fächerahorns
mir verschwörerisch zu.
Reinhard.
Fragt man nach dem Sinn
des Gedichts meines Freundes,
wird er wohl lauten:
die Ahornknospen enthal-
ten die Essenz der Sprache.
Hiroo.
Jedes Gedicht ist
ein Atom. Wer könnte es
spalten? Ist es nicht
ein Facettenauge, das
die Welt beobachtet?
Pierre.
Ein Gedicht schaut auf
die Welt und ihr Geschehen.
Es ist Anschauung.
Ohne sie wäre es ein Spiegel,
in den niemand hineinschaut.
Josef.
Wir spiegeln uns in
allem, worauf wir schauen.
Ein Entkommen unmöglich,
der Spiegel ein Gefängnis und
wir törichte Gefangene.
Bohumila.
Ach, ich bin doch sonst
nichts als nur meine Spiegel.
Ich bin doch sonst nichts
als meine Liebe zu dir -
zu Himmel und Erde.
Yüksel.
Spiegel des Wassers:
Doppelhimmel.
Trunken von soviel Licht
weiß der Ahorn nicht mehr
in welchen Himmel er wächst.
Ilse.
Der Spiegel, in den
ich weit über mir blicke,
ist so tief und groß,
daß man mich wie ein Sandkorn
nirgendwo darin findet.
Syun.
7. Kette
Warum verbringt nur
der Freund in der Benzstadt,
mit dem Pinsel und
Tankas schreibend, sein Leben
so gerne allein?
Syun.
Hell ist der Himmel
über Stuttgart, Prag, Paris.
Die Ahornblätter
filtern das Licht zum Funken
der zündet im lyrischen Ich.
Ilse.
In jede Stadt kommt
das Ich der Liebe wegen.
Denn nur die Liebe
ist des Liebenden Heimat,
der stets ohne Heimat ist.
Yüksel.
Wo Freunde warten,
wo deine Liebe wurzelt,
ist deine Heimat,
wo du leben möchtest und
sterben zu neuem Leben.
Bohumila.
Prag oder Istanbul.
Paris, Stuttgart, Tokyo -
wohin ich ginge,
fände ich den Tisch gedeckt.
hieße es: bleibe bei uns.
Josef.
Auferstehen! Und
sein wo Sein und Nichtsein das-
selbe sind, wo die
zwei Schalen der Waage das
Gleichmaß der Ewigkeit sind!
Pierre.
Ob ich sein oder
überhaupt nicht sein soll, noch
wäge ich beides.
Aber die Schalen der Waage
zeigen es heute nicht an.
Hiroo.
Schalen der Waage
und die geschälte Rinde,
blätternde Blätter,
Seiten der Buche, das Buch -
weil so wenig mehr ist.
Reinhard.
**
*
Das Poemchess besteht aus acht Texten, die sich aus jeweils acht Vielzeilern zusammensetzen, die von jeweils zwei Autor(inn)en gemeinsam (je zwei Zeilen umschichtig) in ihren Nationalsprachen geschrieben wurden. Die vorgegebenen Themen - Morgen/Frühling; Tod; Mittag/Sommer; Liebe; Nachmittag/Herbst; Leben; Abend/Winter und Dumme - waren in permutierter Reihenfolge unbedingt einzuhalten. Die auf dem Wege der Korrespondez entstandenen Vierzeiler-Ketten wurden dann von den Spielleitern/Regisseuren Johannes Auer und mir im futuristischen leses@lon für das Internet aufbereitet zu einem Spiel, in dem der Leser die Möglichkeit hat, sich nachträglich in die poetische Korrespondenz einzuschalten, indem er sich nach den Zugmöglichkeiten des Schachspiels (horizontal/vertikal/ diagonal/im Rösselsprung) kombinatorisch durch die Texte hindurchliest. Das kann ich hier nicht vorführen. Stattdessen zitiere ich stellvertretend und in Übersetzung die russische Kette, in der Wjatscheslaw Kuprijanow und Alexandr Nitzberg das Spiel gespielt haben:
Morgens trauere ich über die Ankunft des Frühling, denn -
ich hatte es geahnt,
auf der südlichen Halbkugel, wie schade, fällt das Laub...
So dringen ewig die Jahre ins leben ein,
das ohne sie wohl nicht enden würde.
Manchmal schwebt etwas auf meine Bettdecke herab,
das silberbleiche Pollen fallen läßt...
Es sind die Schuppen vom Schädel des Todes! Oh, Unausweichlichkeit!
Es wird Zeit, ihr den kahlen Schädel zu waschen.
Es wird Zeit für mich, am Sommertag zu baden,
soll ich ins Schwarze oder Weiße Meer tauchen?
Vielleicht löst sich dann im Blut auf, was heute das Gehirn quält;
so wie im Wasser sich Quecksilber auflöst.
Was geschieht denn mit mir, wirklich?
Vielleicht bin ich verliebt? Aber in wen denn?
O dieses süße Gefühl des Frühlingsrufes!
Zwischen Kamillen suche ich das geliebte Geschöpf.
Damit bin ich nicht fertig geworden, weil auch hierher der Herbst kam,
was kann ich jetzt im gefallenen Laub finden?
Ich finde Vogelfedern, eine verrostete Heugabel
und, ja, meinen verlorenen Atemzug:
Er ist mit einem Spinnennetz bedeckt, aber er enthält noch
einen Tau- oder Regentropfen: ich weine ja nicht allein...
Es ist ein Tropfen der menschlichen Vernunft! So eine Kleinig- keit,
aber sie ist der Tränen Gedichte rezitierender Männer wert.
Das Leben und die Liebe, wie seltsam der Lebensabend
mit der Feder in der Hand traurige Bilanz zieht!
Auf das Weiß des Schnees kennt die Tinte keine Antwort,
die Verse sind blasser als die schneebedeckten Wege.
Vielleicht sollte ich einschlafen, wie es die Bären unter dem Schnee
tun,
aber der Schnee schmilzt, wenn man im Schlaf schnarcht.
Ich gehe jetzt, um mich dem Großen Bären als Nachbar aufzudrängen,
ich, des weißen Landes letzter weißer Bär.
**
*
Mit Doderer durch Deutschland (II) - StuttgartStuttgart hat etwas überaus Gründliches an sich. Außerdem liegt Stuttgart im Kesselchen. Eine insgesamt eher provinzielle Stadt, umgeben von Weinbergen. Liebliche Schläfrigkeit unter einer südlich glühenden Sonne, in diesen Tagen.
Geschrieben von Doderer am 22. Juni 2000 17:04:36
Geschrieben von madonna am 22. Juni 2000 21:26:25: Als Antwort auf: Mit Doderer durch Deutschland (II) - Stuttgart geschrieben von Doderer am 22. Juni 2000 17:04:36Dank Dir, lieber Doderer,
Hallo Madonna - neien neien und abermals neien ! Ich hab überhaupt nichts gegen stuttgart -die bezeichnung der stadt als provinziell kam von dem freundlichen menschen aus stuttgart der mich nach getaner arbeit zum bahnhof fuhr. es wäre ja auch zu öde, in dieselbe kerbe zu hauen wie all die unzähligen kerbenhauer vor mir !Geschrieben von doderer am 22. Juni 2000 21:52:55: Als Antwort auf: Re: Mit Doderer durch Deutschland (II) - Stuttgart geschrieben von madonna am 22. Juni 2000 21:26:25
Am 23. Juni 2000 um 22:11:34 meldet sich ein ghg zu Worthier möchte ich mal guten abend sagen und mich, auch im namen der schönen schwäbin, für ihre reiseberichte bedanken. sehr angenehm zu lesen, was ihnen so alles passiert. übrigens wussten sie, dass es eine spezies (männer nehm ich mal an) gibt, die in berlin ständig im sog von staaaaaatskonvois reisen? bei mir fing das mit elf an.
Am 25. Juni 2000 21:35:50 schreibt Pamina mit bezug auf die mail von ghg am 23. Juni an Dodererguten abend, doderer,
Doderer antwortet am 26. Juni 2000 11:36:24 an Pamina:hallo Pamina,
Am 27. Juni 2000 15:20:31 antwortet Doderer auch ghg:Hallo ghg,
Am 27. Juni 2000 21:55:00 antwortet ghgguten abend verehrtester
Herrn Georg Rodolf Weckherlin, London
Lieber Weckherlin,
Zwar ists schon eine Weile her, daß wir von Ihnen lasen. Seit
auch Sie im Amsterdamer Exilverlag publizieren, kommen die Nachrichten
spärlicher. Und unsere Vergeßlichkeit in Sachen Kultur ist inzwischen
sprichwörtlich. Zwar schlägt eine unserer Stadtgazetten einmal
wöchentlich die Brücke zur Welt, aber das darf man so wörtlich
auch wieder nicht nehmen oder eher im Sinne von die Brücke rückwärts.
Immerhin haben wir uns wenigstens in Amsterdam treffen können und
ein paar schöne Stunden im Stedelijk Museum verbracht. Daß Bob
Cobbing ihre Saufode nicht kannte, hat mich ehrlich verwundert; aber Toman,
Lamy, Sering und Rumler waren ja auch da, und so hats doch noch geklappt
mit dem Hem hoscha hu und dem Bumb bidi bump. Und daß wir vor Vergnügen
und voll von altem Genever beinahe von der Brücke gesprungen wären,
hätte uns hier nicht passieren können. Dazu ist der Nekar zu
dreckig. Hölderlin, der sich neuerdings Scardanelli nennt, hält
seine Turmfenster schon seit längerem geschlossen oder flüchtet
sich mit Mörike und Waiblinger ins Presselsche Gartenhaus. Und Frischlin
behauptet schon seit jeher steif und fest, der Setzer habe ihm einen Streich
gespielt. Er habe nie gedichtet: urbs iacet ad Nigri colles; er habe eindeutig
urbs iacet ad colles nigros geschrieben, wie er überhaupt ziemlich
schwarz sähe. Augenblicklich sitzt er auf Hohenurach nur deshalb noch,
weil man sich nicht entscheiden kann, ob er auf den Hohenasperg oder gleich
nach Stammheim verlegt werden soll. Auf jeden Fall will man vermeiden,
daß er mit Schubart auf Conspiratives sinnt. Er ist fest entschlossen,
so bald er fliehen kann, daß Land zu verlassen. Und das ist vieleicht
wirklich seine einzige Chance, weil, wer hier das Land verläßt,
schnell in Vergessenheit gerät, wovon ja auch Sie ein Lied singen
können. Jedenfalls hat man in der Brücke zur Welt ihren Geburtstag
glatt vergessen, der heuer mit vierhundert ein schöner runder gewesen
wäre.Vergeßlichkeit hat hier Methode. [...] Aber was entfällt
einem hier nicht alles. Jetzt habe ich sogar den konkreten Anlaß
meines Briefes glatt vergessen. So gehts, wenn man ins Nachdenken kommt,
immer kommt einem etwas dazwischen und man aus dem Ärger nicht mehr
heraus. Wobei mir einfällt, daß ich Ihnen eigentlich nur schreiben
wollte, daß wir Ihrer gestern gedacht haben, mit Bumb bidi bump und
Hem hoscha hu, bis ich 50 war, nach dem wir uns ausgerechnet hatten, daß
Sie nur einmal und heute acht mal älter und auch gescheuter sind als
ich, was schon daraus erhellt, daß sie bereits in den 20er Jahren
nach London gingen und ich in den 80ern immer noch hier hocke, obwohl Sie
mir in Amsterdam geraten hatten, zu gehen. Damals wäre ich genau so
alt gewesen, wie sie waren, als sie gingen. Nur, wohin hätte ich gehen
sollen? Und hatten wir damals nicht vielleicht auch einigen Grund zu hoffen,
nachdem Sohms happening-Ausstellung sogar in Stuttgart Station machte,
die Amsterdamer Ausstellung visueller und akustischer Poesie hier durchreiste
wie in den Jahren zuvor die Happening-Künstler, Diter Rot in der Alexanderstraße
sogar seine Zelte aufschlug und der Kunstverein mit der Ausstellung Form
durch Farbe nur unwesentlich hinter Denis Renes Hard egde hinterherhinkte.
Hier gab es wirklich für ein paar Augenblicke eine Brücke zur
Welt. Aber ich hätte auf Sie hören sollen: Denis Rene war zuerst,
Sohms Archiv kam aus Köln und unsere Ausstellung hatten wir in Amsterdam
konzipiert und aufgebaut. Auch ist es mit Brücken eine eigene Sache.
Vergleichen sie mal die vom Rosensteinpark über den Neckar mit der
in Säckingen über den Rhein oder der in Fulpmes über den
Ruetzbach.
Herzlch
Ihr Reinhard Döhl, Botnang
**
*