Reinhard Döhl | Von Briefstellern, Briefen und anderen schriftlichen Lustbarkeiten
5. Friedrich Wolf | Leopold Marx / Hermann Hesse | Leopold Marx / Martin Riekert | Auf der nämlichen Erde | Poemchess | Mit Doderer durch Deutschland | Herrn Georg Rodolf Weckherlin, London

Kommentar:
Ich mache einen Sprung ins 20. Jahrhundert, das durch die Briefausstellung bis hin zur mail art abgedeckt ist. Ursprünglich wollte ich, nachdem ich bei der letztjährigen Tagung der Friedrich-Wolf-Gesellschaft kaum eines Stuttgarters ansichtig wurde, mit Briefen von und an Friedrich Wolf beginnen. Aber er ist in der Ausstellung exemplarisch vertreten, so daß ich lediglich noch ein privates Gelegenheitsgedicht anfüge, das der in Stuttgart praktizierende Arzt am 15.4.1932, nach zehnjähriger Ehe, seiner zweiten Frau Else auf einem Rezeptformular improvisierte und zuschickte:

Friedrich Wolf

Stuttgart, 15.4.1932
R[eci]p[e]. AN MENI!

Kommt heran die Mitternacht
Nimm dies Lämplein leis und sacht,
Trag es durch des Kellers Grund,
ob nicht tröpfelt Hahn und Spund,
Ob im Sprechraum brennt kein Liht.
Oh die Heizung gut auf Schicht,
Unters Dach leucht sorgsam dann,
ob still schläft Kind, Maus und Mann,
Dann das Lämplein trag voll Ruh
Deiner eignen Schlafstatt zu,
In des Mittelstockes Prunk
Harret breite Lagerung,
Nimm noch etwas Konfitüre,
"Tempo" und die Schlaflektüre,
Streck Dich dann unter die Decke,
Zehn Jährlein sind eine Strecke!
Streck Dich lang, denk ein Sekündlein
An die bös und guten Stündlein,
Wollt man eines daraus missen,
Würd das Ganze umgeschmissen;
Nehmen wir uns. wie wir sind,
Rings mit allem Angebind,
Manchmal zart und manchmal grob,
Manchmal Schritt, manchmal Galopp,
Immer vorwärts, niemals stopp!
Jetzt machs Lämplein aus und gar,
Kuß! Und weiter zehen Jahr!

Also vom Manle

**
*

Kommentar:
Wer sich über den Cannstatter Fabrikanten und Dichter Leopold Marx informieren möchte, ist auf Maria Zelzers verdienstvoller Recherche "Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden" angewiesen oder auf eine kommentierte Werkausgabe des Bleicher Verlages, die in den Regalen des Wilhelmspalais auf ihre Ausleihe wartet. Eine zu Lebzeiten unveröffentlichte Gedichtsammlung, "Wanderseele", umfaßt "Gedichte [...] des Lebens eines Juden, der lange wähnte, zugleich auch Deutscher zu sein, und dem die Umstände auch nach der Heimkehr ins Land der Väter es nicht erlaubten, in ungehemmter Freiheit in die Sprache des eigenen Volkes hineinzuwachsen; der mit dem Herzen ein Bürger Israels, der Sprache nach deutsche geblieben ist."
Seit Ende des Ersten Weltkriegs mit Hermann Hesse in Kontakt, schreibt Leopold Marx noch aus Stuttgart anläßlich des 60. Geburtstags an Hermann Hesse:

Leopold Marx an Hermann Hesse

8.Juli 1937
Obwohl ich wenig in der Welt lebe, wußte ich von Ihrem 60. Geburtstag noch rechtzeitig genug, um Ihnen einen Gruß zu senden. Aber die Stunde war nicht da, es zu tun, und einfach so schreiben wollte ich nicht. Am letzten Sonntag sind mir ein paar Verse zu Ende geraten, die schon lange für Sie gedacht waren. Ich schicke sie Ihnen in kurzem mit einigen Abschriften älterer Sachen als Dank für die schönen Gedichte, die Sie mir seither zweimal haben zukommen lassen. Mit dem letzteren, dem "Orgelspiel", haben Sie mich fast beschämt, weil ich Ihnen für die ersten noch nicht gedankt und zum 2. Juli noch nicht geschrieben hatte. Aber in Gedanken tat ich es mehr als einmal, und das wissen Sie vielleicht. Ein Leben, wie das meine, ist nicht immer mitteilbar. Und was daran mitteilbar ist, das wird mit den wachsenden Jahren mehr und mehr das Schicksalhafte daran, das an die Geschlechterkette Gebundene, das Jüdische. Ich schrieb Ihnen so etwas wohl schon früher.

Aber je eingesponnener man ist, desto nötiger ist es zu wissen, daß das wortlose Verstehen, die Gemeinschaft des Angesprochenseins an keinen Mauern halt macht, auch an den Mauern eines neuen Ghettos nicht. Und umso tiefer rührt ein Gruß und Zeichen von draußen an. Sehr von fern klingt das meisterliche "Orgelspiel" aus dem hohen Dom zu uns herein. Fern, nicht weil wir kein Ohr mehr dafür hätten, sondern weil es von soviel dumpferen Schicksalslauten übertönt wird, aber darum nicht weniger schön und unentbehrlich. Sie werden, wenn Sie demnächst meinen Gruß erhalten, - als ich ihn niederschrieb, wußte ich noch nichts von Ihrem "Orgelspiel" - einen seltsamen, oder vielleicht gar nicht so seltsamen Gleichklang erkennen! einen Klang, von dem auch der uralte Künder Jischajahu [= Jesaja] gewußt hat, ein vergessener, aus der Mode gekommener Organist auch er, zu seiner Zeit.

Ich wünsche Ihnen noch viele Ernten guter und segensreicher Jahre, oder besser, ich wünsche sie Ihren Freunden, und so, wenn ich mich zu denen zählen darf, auch mir.

Hermann Hesse an Leopold Marx

25.Juli 1937
Es reicht nicht zu Briefen, aber der Ihre samt Gedichten hat mich erreicht, auch im Herzen erreicht, und ich möchte Ihnen danken und Ihnen sagen, wie Ihr Mitschwingen mit dem "Orgelspiel" mich freut, Es gibt Zeiten, wo ich die im Ghetto Lebenden beneide, sie haben Gemeinschaft, mir fehlt sie. Aber in den Tagen um meinen 60. Geburtstag war immerhin viel Echo da, und viel Versöhnendes. Vom Herzen dankt Ihnen (vor allem für das mir gewidmete "Drunten" und für "Moscheh")
Ihr H. Hesse

Kommentar:
Diese Korrespondenz auch in Gedichten würde eines ausführlichen Kommentars bedürfen, den ich hier nicht geben kann. Ich beschränke mich deshalb auf das Zitat des Hermann Hesse gewidmeten "Drunten".

Leopold Marx
Drunten...
(Für Hermann Hesse)

In der Heimat fremd genannt,
Heimat ahnend im verschloß'nen fremden Land,
tiefverletzt, von rauhem Arm getroffen,
hingeworfen zwischen Furcht und Hoffen,
jede Freude trägt ein Bleigewicht -
ist es Prüfung oder - ist's Gericht?

Alte Bücher wissen von Erwählung,
fromm erschauernd las man die Erzählung.
Auserwählt zum Leid - wie gut zu sagen,
eh du selber deine Last getragen,
eh den Tag du, der dir angefangen,
angeklagt, daß er noch nicht vergangen,
eh der Tröster nachts dich floh, der Schlaf,...
eh dich selbst die Hand des Schicksals traf...

Heute: brüten, planen, leeres Spiel -
morgen: flüchten, irren ohne Ziel -
Arbeit: freudlos, stumpfen Sinns, verdrossen -
Ruhe: wie ein schaler Trank genossen -
Hände, die sich keinem Tun verwehren,
hängen - keiner fordert sie - im Leeren.
Alte siechen, dumpf in sich verkrochen,
lahm die Seele, Mut und Stolz gebrochen,

Kinder wachsen auf, schon leiderfahren,
eh sie ihres Jungseins inne waren...
Auserkoren...! Eher scheinst du fast
Gottes weggeworfener Ballast -
Nur - du bist noch da in Seiner Welt,
in der Winkel finstersten gestellt...

Alte Bücher voll entrückter Kunde -
steht da nicht vom Pfeil, der seiner Stunde
harrt, im Köcher dunkel tief verwahrt?
Ach, es ward so viel geoffenbart,
ach, und wir sind müd, jahrtausendmüd,
unser Frühling ist schon längst verblüht...

In den Synagogen dumpfe Beter
warten auf ein wesenloses Später,
kraftlos Heute, hoffnungsloses Morgen -
nein, die sind nicht Pfeil und nicht verborgen.
Und die andern - wandern, fort und fort,
viel zu stumpf für ein verhülltes Wort.

Jene aber, die zurückgefunden,
die ihr Leben an das Land gebunden,
Heimatboden pflügen, jäten, graben,
wollen nicht von Worten Weisung haben.
Und mit Fug: sie sind in Tages Haft,
Erde fordert ihre ganze Kraft.

So verborgen ist der Pfeil. Vermissen
mögen die ihn nur, die von ihm wissen,
weil auch sie der Stimme Diener sind,
Angewehte von dem ewigen Wind,
Boten, die für unser aller Qualen
mit dem Wort in ihrer Seele zahlen,
mit dem Wort, das, weil es keiner braucht,
unvernommen ins Verborgne taucht,
in des Köchers schützenden Verwahr...

Einmal wird die Botschaft offenbar.
1937

Kommentar:
Eine 'Korrespondenz' in Gedichten führte Leopold Marx in seinen letzten Stuttgarter Jahren auch mit dem Ministerialen Martin Riekert. Aus ihrem regelmäßigen Neujahrsgruß-Wechsel zitiere ich die Sonette des Jahreswechsels 1937/1938:

Leopold Marx / Martin Riekert
Neujahrsgrüße aus der bösen Zeit

Leopold Marx: Das Nebelmeer

Das Jahr versank. Ich hab es sinken sehen:
fort war's, du sahst nicht Helm noch Säbel mehr
noch Flugzeug noch Kanonen noch Gewehr...
Wie können so handfeste Dinge so vergehen?

Ja, weggeblasen, gleichsam auf den Zehen
verschwand das Jahr in einem Nebelmeer...
Wer weiß wie bald schon wird das wilde Heer
aus dem verschwommnen Dunkel auferstehen.

Ich seh sie schon durch alle Himmel toben,
voran die Vier, die aus dem dunklen Buch,
reitend auf einem ungeheuren Fluch,
die Rechte drohend himmelwärts erhoben. -

Ein Jahrbeginn - ein Nebelmeer - ein Meer.
Wen schlingt es? Wem ist Überstehns Gewähr?

Martin Riekert: Gegengruß

Mein Leopold - nun ist es wieder Zeit!
hol' aus der Schublad' die Sonettenfeile!
Stark neigt sich schon das Jahr - das Ding hat Eile,
denn wie du siehst, ich bin bereits soweit.

Doch diesmal wird nicht mühsam prophezeit,
was uns im neuen Jahre werd zu teile
ob Glück, ob Leid, ob Lust - ob Schmerzgeheule -
sag Du es mir, ich bin nicht so gescheit!

Schlicht lös ich und gemütvoll das Problem:
Bringt Gutes mir des neuen Jahres Huld,
so ist mir das natürlich angenehm.

Bringt es mir Böses? trag ich's mit Geduld
und tröste mich damit: an alledem
sind wieder die verflixten Juden schuld!

Leopold Marx: Antwort an M. R.

Ja, du sprichst wahr. Uns trifft die Schuld für alles.
Nichts ist ganz Lüge, wessen man uns zeiht.
Doch die uns richten wollen - keines Falles
steht denen zu des Richters Ehrenkleid.

Wir tragen alle Schuld. Vor wem? Ich lall' es,
weil Sagen es schon fälscht... Und sind bereit
dafür zu zahlen. Unserer Schuldigkeit
erinnert uns der Tag des Hörnerhalles.

Der heißt für uns Neujahr. In Hast und Handeln
Vertun wir jedes alte - im Exil,
und jedes neue ruft uns neu. Es will
eins von uns, immer eins: daß wir uns wandeln!

Und unsre Antwort, jetzt wieje? - Man lullt
Sich ein und - läßt's...
                                   und darum sind wir schuld.

1937

**
*

Kommentar:
Ich springe jetzt in die Gegenwart und damit in den letzten Teil meines Exkurses und bleibe beim Thema Korrespondenz in Gedichten. Daß die internationale Verflechtung der Stuttgarter Gruppe/Schule sich in einem umfangreichen Briefwechsel äußert, nimmt kaum Wunder. Ebenso wenig, daß sich diese Verflechtungen auch in gemeinsamem Arbeiten dokumentiert. Seit 1994 entwickelten sich daraus u.a. "poetische Korrespondenzen", aus denen ich ein paar Beispiele nennen und zitieren möchte.

Auf der nämlichen Erde

Im April 1995 wurden anläßlich des Japan-Festivals der VHS von Stuttgart aus an die Autoren Ilse und Pierre Garnier (Amiens/Frankreich), Bohumila Grögerová und Josef Hiršal (Prag), Hiroo Kamimura und Syun Suzuki (Japan), den in Bergisch-Gladbach lebenden türkischen Autor Yüksel Pazarkaya und Reinhard Döhl Briefe geschickt, in denen 8 Gedicht-Ketten so festgelegt waren, daß jeder der Beteiligten eine der Ketten beginnen, eine zweite schließen und daß, im Umlauf der Ketten, jeder auf jeden Briefpartner einmal reagieren mußte. Am 31. Mai 1995 war die letzte der acht Ketten geschlossen.

Ausgangspunkt für jede Kette ein als Motto vorgegebenes waka Onoe Saishûs: "Auf der nämlichen Erde / stehen die nämlichen Bäume beisammen. / Und auch am heutigen Tag / schlagen die nämlichen Blätter / raschelnd zusammen." Auf dieses war also zunächst zu reagieren, wobei das erste Gedicht einer Kette in der Regel das Thema der Kette anschlug.

Um möglichst viel Eigenes in die Beiträge einfließen zu lassen, waren die Korrespondenten angehalten, ihre Beiträge in ihrer eigenen Sprache zu schreiben (und mit einer Rohübersetzung zu versehen). Diese Bedingung schien auch deshalb geraten, weil es so möglich wurde, die unterschiedlichen Sprachstrukturen des Japanischen, Türkischen, Tschechischen, Französischen und Deutschen mit- und gegeneinander zum Klingen zu bringen.

Um dabei innerhalb der Ketten ein Mindestmaß an Ordnung zu garantieren und zu wahren, wurde die Fünfzeiligkeit des waka zugrunde gelegt, bei allerdings freigestellter Silbenzahl. Andere Regeln und Techniken der waka- und renga-Dichtung mußten hingegen nicht beachtet werden, ausgenommen die, daß jeder Beitrag an den voranstehenden anschließen sollte, wobei folgende Anschlußmöglichkeiten zur Wahl standen: direkter Bezug, gegensätzlicher Anschluß, Aufgreifen eines einzelnen Wortes oder Motivs, Zitat oder literarische Anspielung bzw. Reaktion darauf, sprachspielerischer Reflex oder auch nur das Fortführen einer Stimmung. Voraussetzung blieb in jedem Fall ein intensives Sicheinlassen auf den voranstehenden Beitrag.

Ich zitiere im Folgenden - die fremdsprachigen Beiträge in Übersetzung - die 7., von Stuttgart augehende, gewissermaßen poetologische und die 8., von Chiba ausgehende, vor allem Stuttgart bezügliche Kette:

6. Kette

Jederzeit ist es
Zeit, ein Gedicht zu machen.
Im Regen blinzeln
die Knospen des Fächerahorns
mir verschwörerisch zu.
Reinhard.

Fragt man nach dem Sinn
des Gedichts meines Freundes,
wird er wohl lauten:
die Ahornknospen enthal-
ten die Essenz der Sprache.
Hiroo.

Jedes Gedicht ist
ein Atom. Wer könnte es
spalten? Ist es nicht
ein Facettenauge, das
die Welt beobachtet?
Pierre.

Ein Gedicht schaut auf
die Welt und ihr Geschehen.
Es ist Anschauung.
Ohne sie wäre es ein Spiegel,
in den niemand hineinschaut.
Josef.

Wir spiegeln uns in
allem, worauf wir schauen.
Ein Entkommen unmöglich,
der Spiegel ein Gefängnis und
wir törichte Gefangene.
Bohumila.

Ach, ich bin doch sonst
nichts als nur meine Spiegel.
Ich bin doch sonst nichts
als meine Liebe zu dir -
zu Himmel und Erde.
Yüksel.

Spiegel des Wassers:
Doppelhimmel.
Trunken von soviel Licht
weiß der Ahorn nicht mehr
in welchen Himmel er wächst.
Ilse.

Der Spiegel, in den
ich weit über mir blicke,
ist so tief und groß,
daß man mich wie ein Sandkorn
nirgendwo darin findet.
Syun.

7. Kette

Warum verbringt nur
der Freund in der Benzstadt,
mit dem Pinsel und
Tankas schreibend, sein Leben
so gerne allein?
Syun.

Hell ist der Himmel
über Stuttgart, Prag, Paris.
Die Ahornblätter
filtern das Licht zum Funken
der zündet im lyrischen Ich.
Ilse.

In jede Stadt kommt
das Ich der Liebe wegen.
Denn nur die Liebe
ist des Liebenden Heimat,
der stets ohne Heimat ist.
Yüksel.

Wo Freunde warten,
wo deine Liebe wurzelt,
ist deine Heimat,
wo du leben möchtest und
sterben zu neuem Leben.
Bohumila.

Prag oder Istanbul.
Paris, Stuttgart, Tokyo -
wohin ich ginge,
fände ich den Tisch gedeckt.
hieße es: bleibe bei uns.
Josef.

Auferstehen! Und
sein wo Sein und Nichtsein das-
selbe sind, wo die
zwei Schalen der Waage das
Gleichmaß der Ewigkeit sind!
Pierre.

Ob ich sein oder
überhaupt nicht sein soll, noch
wäge ich beides.
Aber die Schalen der Waage
zeigen es heute nicht an.
Hiroo.

Schalen der Waage
und die geschälte Rinde,
blätternde Blätter,
Seiten der Buche, das Buch -
weil so wenig mehr ist.
Reinhard.

**
*

Kommentar:
Dieser ersten poetischen Korrespondenz  folgte als zweite ein Gedichtschach, das heute im futuristischen leses@lon spielbare internationale "poemchess". In seinem Fall kamen als spielende Autoren hinzu aus dem türkischen Sprachraum aras ören, aus dem deutschen Sprachraum Carmen Kotarski, aus dem englischen Sprachraum Sibyll Beth und William Jackdaw, aus dem russischen Sprachraum Wjatscheslaw Kuprijanow und Alexandr Nitzberg und aus dem schwäbischen Sprachraum - schließlich ist Schwäbisch ja auch eine Weltsprache - Helmut Pfisterer und Peter Schlack.

Das Poemchess besteht aus acht Texten, die sich aus jeweils acht Vielzeilern zusammensetzen, die von jeweils zwei Autor(inn)en gemeinsam (je zwei Zeilen umschichtig) in ihren Nationalsprachen geschrieben wurden. Die vorgegebenen Themen - Morgen/Frühling; Tod; Mittag/Sommer; Liebe; Nachmittag/Herbst; Leben; Abend/Winter und Dumme - waren in permutierter Reihenfolge unbedingt einzuhalten. Die auf dem Wege der Korrespondez entstandenen Vierzeiler-Ketten wurden dann von den Spielleitern/Regisseuren Johannes Auer und mir im futuristischen leses@lon für das Internet aufbereitet zu einem Spiel, in dem der Leser die Möglichkeit hat, sich nachträglich in die poetische Korrespondenz einzuschalten, indem er sich nach den Zugmöglichkeiten des Schachspiels (horizontal/vertikal/ diagonal/im Rösselsprung) kombinatorisch durch die Texte hindurchliest. Das kann ich hier nicht vorführen. Stattdessen zitiere ich stellvertretend und in Übersetzung die russische Kette, in der Wjatscheslaw Kuprijanow und Alexandr Nitzberg das Spiel gespielt haben:

Morgens trauere ich über die Ankunft des Frühling, denn - ich hatte es geahnt,
auf der südlichen Halbkugel, wie schade, fällt das Laub...
So dringen ewig die Jahre ins leben ein,
das ohne sie wohl nicht enden würde.

Manchmal schwebt etwas auf meine Bettdecke herab,
das silberbleiche Pollen fallen läßt...
Es sind die Schuppen vom Schädel des Todes! Oh, Unausweichlichkeit!
Es wird Zeit, ihr den kahlen Schädel zu waschen.

Es wird Zeit für mich, am Sommertag zu baden,
soll ich ins Schwarze oder Weiße Meer tauchen?
Vielleicht löst sich dann im Blut auf, was heute das Gehirn quält;
so wie im Wasser sich Quecksilber auflöst.

Was geschieht denn mit mir, wirklich?
Vielleicht bin ich verliebt? Aber in wen denn?
O dieses süße Gefühl des Frühlingsrufes!
Zwischen Kamillen suche ich das geliebte Geschöpf.

Damit bin ich nicht fertig geworden, weil auch hierher der Herbst kam,
was kann ich jetzt im gefallenen Laub finden?
Ich finde Vogelfedern, eine verrostete Heugabel
und, ja, meinen verlorenen Atemzug:

Er ist mit einem Spinnennetz bedeckt, aber er enthält noch
einen Tau- oder Regentropfen: ich weine ja nicht allein...
Es ist ein Tropfen der menschlichen Vernunft! So eine Kleinig- keit,
aber sie ist der Tränen Gedichte rezitierender Männer wert.

Das Leben und die Liebe, wie seltsam der Lebensabend
mit der Feder in der Hand traurige Bilanz zieht!
Auf das Weiß des Schnees kennt die Tinte keine Antwort,
die Verse sind blasser als die schneebedeckten Wege.

Vielleicht sollte ich einschlafen, wie es die Bären unter dem Schnee tun,
aber der Schnee schmilzt, wenn man im Schlaf schnarcht.
Ich gehe jetzt, um mich dem Großen Bären als Nachbar aufzudrängen,
ich, des weißen Landes letzter weißer Bär.

**
*

Kommentar:
War für "Auf der nämlichen Erde" noch der normale (Luft)Postweg die Regel, kamen 1997/1998 für das "Poemchess" auch schon das Fax und die e-mail als Medien der Verständigung in Anwendung, war damit ein ansatzweiser Schritt in Richtung Diskussionsforum und Chatroom gemacht. Beides Orte, an denen Kettendichtung in Tradition des altehrwürden japanischen Renga oder Renku oder Renshi durchaus vorstellbar wären. Ich habe mich im Netz auf die Suche gemacht, ohne Erfolg, dabei aber unter der URL [http://f22.parsimony.net/forum40587/index.htm] ein Diskussionsforum entdeckt, das sich wie folgt vorstellt: texten und testen für jedermann+ harte worte für jeden+ literarische lockerungsübungen+ gepflegte konversation gepflegter flegel und flagelanten(innen)&(aussen)
blaupause
gelbmeisters und der sinnbade blautopf + MÖRIKEDOM (in vorbereitung)
Und dort fand ich - überraschend - einen Reisebericht über Stuttgart und eine durch ihn ausgelöste Diskussion, nicht sonderlich aufregend, aber doch ein Beleg für eine neue Art der Korrespondenz, die insgesamt 10 e-mails umfaßt. Ich lese diagonal zunächst aus dem Reisebericht, dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym Doderer verbirgt, danach aus den Zuschriften und Antworten:

Mit Doderer durch Deutschland

Mit Doderer durch Deutschland (II) - Stuttgart
Geschrieben von Doderer am 22. Juni 2000 17:04:36
Stuttgart hat etwas überaus Gründliches an sich. Außerdem liegt Stuttgart im Kesselchen. Eine insgesamt eher provinzielle Stadt, umgeben von Weinbergen. Liebliche Schläfrigkeit unter einer südlich glühenden Sonne, in diesen Tagen.
Stuttgart hat aber auch Sensationelles zu bieten: z.B. einen 'Möbeltreffpunkt' ! Da kommt der Gast von auswärts ins Sinnieren, wenn draußen vor dem Wagenfenster dieser ominöse Treffpunkt vorbeizieht. Treffen sich dort Möbel und tauschen Eindrücke aus? Über die Hintern ihrer Besitzer? Oder plauschen Couchgarnituren sehnsuchtsvoll über neue Bezüge: 'Mein Federkern ist eigentlich noch topfit, nur haben die Besitzerkinder mir den Rückenteil mit Schokolade versaut und die Katze hat mir in die Polster geschissen, jetzt wollen sie mich auf dem Sperrmüll aussetzen'. Werden dort furnierte Schränke herablassend gemustert, von ihren vornehmeren Kollegen aus Vollholz?
Es gibt in Stuttgart aber auch die Martin Schleyer-Halle (letztendlich hat euch braven Stuttgartern der böse Geist des Terrorismus dieses herrliche Bauwerk beschert, in Stuttgart wendet sich eben wirklich alles zum Ordentlichen!) und ein gut gepflegtes Fußballstadion (auch ein Gezeltle als Überdachung, wie beim Münchner Olympiastadion, nur deutlich biederer und bestimmt seriöser in der Ausführung) sowie am Bahnhof eine für Bahnhofsbegriffe wirklich exzellente Buchhandlung.
Merkwürdigerweise sind die Bahnhofsbuchandlungen überall von weitaus besserer Qualität als die Flughafenbuchhandlungen. Wie karg ist das Bücherangebot vor dem Abflug! Beim Fliegen soll man offenbar nur Rosamunde Pilcher lesen, oder die kostenlosen Zeitschriften, hauptsächlich Tageszeitungen und Wichtigtuereien ökonomischer Art. Im Zug dagegen kann man, nach dem Besuch der dortigen Buchhandlung, auch dem Verhältnis Nietzsches zum Nationalsozialismus (höchst ambivalent, das!) nachspüren, wieder mal in Herrmann Hesses Gedichten schmalzen oder sich über Wittgensteins Jugend informieren. Im Flugzeug gibt's an kulturellem höchstens die ‚Zeit', aber auch nur, damit die ‚on board' schneller vergeht.
Vermutlich sollen, der Spritersparnis wegen, in Flugzeugen schwere Gedanken überhaupt vermieden werden.
Geschrieben von madonna am 22. Juni 2000 21:26:25: Als Antwort auf: Mit Doderer durch Deutschland (II) - Stuttgart geschrieben von Doderer am 22. Juni 2000 17:04:36
Dank Dir, lieber Doderer,
... bekommen wir endlich unsere wöchentliche Reisekolumne.
Reiseliteratur gehört in jedes Bücherbord , und wieviele berühmte Reisende hat es nicht schon gegeben! Wenn ich anfinge sie aufzuzählen, hagelte es Proteste ohne Ende, weil ich diese(n) oder jene(n)vergessen hätte...
Gulliver... er kam mir sofort in den Sinn , als ich in Deinem Berliner Tagebuch von den gelben Männchen mit den Grünen Hüten und ihren Pistolen las. Dazwischen der sportgestählte Held...(wieviel Prozent Körperfett war es noch gleich?) v. Doderer, der alle möglichen Abenteuer bestand in dieser seltsamen Hauptstadt.
Die Stuttgarter und ihre Stadt haben auf Dich wohl nicht im mindesten einen ähnlich starken Eindruck gemacht... die Langeweile packt sogar beim zu Lesen zu, obwohl Du selbst die Langeweile unnachahmlich verpackst. Dabei, wenn ich den Erzählungen meines Mannes trauen darf (er stammt von dort) , gibt es in Stuttgart Kultur... und nicht nur in der Bahnhofsbuchhandlung. Die Mineralbäder sind sicher keine Stuttgarter Erfindung, aber ein Badekultur ist auch Kultur. Im vergangenen Jahr verbrachte ich ein Wochenende in dieser oft geschmähten Stadt und hatte eine Offenbarung. Im Stuttgarter Schauspiel gab es eine Soirée von Ingeborg Bachmanns "Undine geht". Ich kannte den Text bis dahin noch nicht und war total hingerissen davon, und er wirkt noch immer nach. Schier unglaublich noch, dass man in diesem Ländle der Sparsamen Gratisaufführungen wie diese anbiet. -
Kürzlich sah ich im Fernsehen einen Bericht über den "Ring des Nibelungen" aus der Stuttgarter Oper und war fasziniert, obwohl ich eigentlich keine Opernanhängerin bin. Endlich einmal fand ich zu diesen Figuren einen zeitgemäßen Zugang... liebend gern würde ich nach Stuttgart reisen um diese Aufführung zu sehen....
Nun ja, wenn man so wie Du auf Reisen ist ... früh hin ..abends zurück, dann bleiben einem solche Eindrücke natürlich verwehrt. Falls Du mal wieder hinkommst, versprich mir, die Buchhandlung Wendelin Niedlich zu besuchen... sie ist einzigartig. Nicht mehr an ihrem früheren Platz in der Stadt, sondern jetzt im Foyer des Schauspiels (gleich gegenüber vom Bahnhof) ist sie nur abends kurz vor der Aufführung und bis zum Ende geöffnet. Ich hoffe es gibt sie noch, denn dort findest Du Bücher, nach denen Du woanders umsonst suchst, von denen Du nicht mal weißt das es sie gibt.
Wohin geht es denn nächste Woche... fragt sehr gespannt....
madonna
Geschrieben von doderer am 22. Juni 2000 21:52:55: Als Antwort auf: Re: Mit Doderer durch Deutschland (II) - Stuttgart geschrieben von madonna am 22. Juni 2000 21:26:25
Hallo Madonna - neien neien und abermals neien ! Ich hab überhaupt nichts gegen stuttgart -die bezeichnung der stadt als provinziell kam von dem freundlichen menschen aus stuttgart der mich nach getaner arbeit zum bahnhof fuhr. es wäre ja auch zu öde, in dieselbe kerbe zu hauen wie all die unzähligen kerbenhauer vor mir !
stuttgart ist eine schöne, äh, stadt in herrlicher gegend und sogar schon die bahnhofsbuchhandlung ist besser als anderswo die üblichen Handlungen! Wie wird da erst eine für stuttgarter begriffe 'gute' buchhandung aussehen ! Ich würde darin verarmen und alle meine rohe körperkraft brauchen, um das erstandene bücherpaket auch nur hinter mir her zu schleppen! (14 prozent waren es um deine frage zu beantworten.) Meine reiseimpressionen sind rein subjektive eindrücke, die ich in ihrer verarbeitung kräftig weiter zu subjektivieren und zu entsinnen versuche, sie besagen gar nichts über die besuchte stadt, die nur als anregung für meine schreibe dient dabei. Ich würde z.B 34,7 mal lieber in stuttgart leben, als in berlin! auch wenn mich in der hauptstadt glutäugige iranerinnen von hier nach da brachten und in stuttgart nur ein gestandener schwäbling! Meinem Gulliver hätte Berlin natürlich besser gefallen, aber exotik ist nicht alles! vor allem nicht wenn man ins gesetzte alter kommt.
bis später jetzt heißts die hunde füttern [...]
Danke für dein Lob, wenn es denn eines war- demnächst gibts was über hamburg
vonhiernachda doderer
Am 23. Juni 2000 um 22:11:34 meldet sich ein ghg zu Wort
hier möchte ich mal guten abend sagen und mich, auch im namen der schönen schwäbin, für ihre reiseberichte bedanken. sehr angenehm zu lesen, was ihnen so alles passiert. übrigens wussten sie, dass es eine spezies (männer nehm ich mal an) gibt, die in berlin ständig im sog von staaaaaatskonvois reisen? bei mir fing das mit elf an.
ganz anders die färbung im stuttgartbericht. das atmet schwaben, wie sie da wohlgeordnet und stressless der geilsten bahnhofsbuchhandlung der hemisphäre entgegen rollen.
auch ich reise, noch immer fasziniert, ab und an in die gegend. da wo die durch die täler aus stuttgart ziehenden, dann ankommen. dort erzählte mir ein frischpensionierter folgendes:
VORSICHT WAHR!
er freue sich, eine in früher jugend abgeschlossene minimallebensversicherung nun, aus anlass der altersruhe, entgegenzunehmen, um sie auf ein vorsorgekonto für den eigenen beerdigungsfall einzuzahlen. der ja sicher eintritt. fixkosten eben.
herr vonhiernachda Doderer, so versichert der schwabe sein leben. ich war beeindruckt.
schönes wochenende ghg
Am 25. Juni 2000 21:35:50 schreibt Pamina mit bezug auf die mail von ghg am 23. Juni an Doderer
guten abend, doderer,
dieser tage viel auf reisen, nicht gerade hin- und her, auch nicht kreuz- und quer, dennoch der eindrücke viel gesammelt. hab mich auf den dieswochenendlichen feierlichkeiten immerhin tadellos betragen und meine finger von den platten gelassen. wollte schließlich keinen schlechten eindruck hinterlassen, schon gar nicht in verwachsenen hinterhofgärten, die von lustigem völkchen jeglicher couleur besucht werden.
stuttgart..., das ist lange her, aber immerhin erinnere ich mich an eine (schon wieder) feierlichkeit, die im haus der architekten stattfand und den weg dahin, daran erinnere ich mich auch noch gut. es ging eine ziemliche strecke über treppchen bergauf und im stockfinsteren wieder hinab. mit parkplätzen siehts auch zappenduster dort aus, also ich fands trotzdem nett. außerdem habe ich auch die s.-er landesbibliothek von innen kennengelernt, das opernhaus (hänsel und gretel) und im zentrum bin ich auch gelustwandelt. allerdings schreckte mich die geradlinigkeit des schwabenvölkchens ein wenig ab. kurios, ich habe ja zwei meiner jüngsten jahre in jenen gefilden verbracht (Sigmaringen) und bin laut ohrenzeugenberichten schon dem heimischen dialekt zum opfer gefallen, was sich allerdings durch die relative kürze des aufenthalts im dunkel der geschichte verloren hat (ha noi...).
ach übrigens, bevor ich es vergesse. ich habe per zufall entdeckt, daß es eine DODERER-GESELLSCHAFT gibt. wäre das nichts für dich??
und die maultaschen..., aber dafür wars ja wohl zu heiß.
da bei mir keine nennenswerte reise ansteht, im moment, habe ich überlegt, ob ich meine eindrücke von der heimat der kapernbüsche zum besten geben soll, das ist allerdings schon etwas her (hat mich aber nachhaltig beeindruckt), aber mir gefällt der gedanke der reiseberichte so gut. der herr baron von riedesel war ja auch schon dort und hat seine eindrücke geschildert, überhaupt hat mich schon früh der herr sterne mit seiner "sentimental journey trough france and italy" inspiriert. nicht daß ich etwa in der lage wäre, solcherart reiseberichte zu schreiben, das ganze würde bei mir etwas weniger dem allgemeinen interesse zugewandt ausfallen, aber es ergeben sich ja für die schreiberin selbst ganz neue aspekte der betrachtung.
[...]
bis bald und mit herzlichen grüßen
Pamina
Doderer antwortet am 26. Juni 2000 11:36:24 an Pamina:
hallo Pamina,
gib deine eindrücke wieder ! kapernbüsche, das klingt verlockend. ich bin schon sehr gespannt.
Mit der doderer - gesellschaft ist das ja so ein ding - ich selbst bin derzeit ja in bester doderer-gesellschaft, nämlich in der meinen, ob da andere gesellschafter zu meiner zufriedenheit mithalten könnten, ist fraglich, ab dem 100ten lebensjahr wird man recht eigen.
hänsel und gretel sah ich auch - als zarter knabe von 7 oder 8 - aber das war in einem anderen zeitalter. sigmaringen, kenne ich, ich hoffe du warst auch einmal in tübingen, wo hölderlin im turm saß, ein schönes kleines universitätsstädtchen, gut für eine entspannte sommerwoche mit spaziergängen, stadtfesten und weinproben.
[...]
lass es dir gut gehen
mit den besten wünschen erhebt segnend seine greisenhände
doderer
Am 27. Juni 2000 15:20:31 antwortet Doderer auch ghg:
Hallo ghg,
erst mal: danke für die bleameln,
ich hab derzeit wirklich viel um die ohren, deswegen die ungewohnt lange reaktionszeit. die schwäbische episode ist, ob wahr oder gut erfunden, einfach köstlich, treffender könnte man bestimmte züge der schwabenmentalität gar nicht charakterisieren- es finden sich auch in hegels werk unter dem ganzen begrifflichen apparatismus solche schwäbisch kleinbürgerlichen gediegenheiten, ich muß mal kucken, ob ich die noch finde, in meinen aufzeichnungen aus einem früheren leben.
männer, die im sog von staatskonvois reisen, das klingt interessant! erzählen sie mehr darüber ! sie halten mit vielen interresanten themen hinterm busch - wird das dem opus magnum vorbehalten?
jetzt steht ihr konterfeit im fremdkörper - ghg, wie kamen sie ausgerechnet auf dieses bild? sie wirken da so gehetzt, wie nach kalten duschen, andrerseits natürlich auch voll auf dem laufenden. Lustig anzusehen ist es allemal.
So - morgen gehts wieder in die deutsche metropole, nächste woche ist münchen dran, im flugzeug zurück werde ich wieder einen reisebericht verfassen. Ihnen und der schönen schwäbin alles erdenklich gute, dasselbe natürlich auch allen übrigen blaupausen.
Am 27. Juni 2000 21:55:00 antwortet ghg
guten abend verehrtester
bleameln ;-) hat mein vater auch immer gesagt. die aufzeichnungen aus einem früheren leben, wecken meine neugier, die mal kurz gedöst hat. (ihr läuft dann immer ein wenig eifergeifer aus dem mundwinkel.)
die männer hinter staatskonvois könnten einen thema sein, das netz erspart uns jetzt biografische details, ich bin zu faul, sie zu nerven.
kofferträger, mikrofonrichter, paladine und passanten, die im zentrum des interesses stehen, welches ihnen nicht gilt. faszinierend. das wäre ein federtusch im figurbild des wenderomans auf den alle warten (hä?), weil ich ihn noch nicht geschrieben habe. aua. "gera-eine provinzwende-Roman der Feigheit" damit würde man höchstens hundert leute in der 100000 einwohner stadt beleidigen.
leider ist das thema angebraucht. zumindest nimmt mir brussig "helden wie wir"
eine kernstrang weg: den pionier vorm honecker. das hätte ich schöner geschrieben! ausserdem gibt es da einen film, vom mann der immer überall auf fotos von prims und proms erscheint. oder ist das wahr? wissen sie das?
ossis landen gern auf solchen nearby stellen. glaubte ich eine zeitlang.
-fuffzehn-
ich habe gerade mit der schönen schwäbin besprochen, das ich diesen strang nicht erzählen werde. ist doch nicht nur quatsch das geschreibe hier.
ja sie sahen es richtig, das portrait meiner wenigkeit ist nach einer woche windduschen auf helgoland entstanden. gut durchblutet, das alles.
und jetzt noch zur begegnung der zweiten art, die gestern abend und heute, an den ufern des rhein und um eine betonkröte herum, stattfand. ich hatte das ausserordentliche vergnügen, die galionsfigur in reserve und den guten bordgeist der sinnbade schiff, madonna, hier am rheinknie kennenzulernen. tatsächlich ein erlebniss. doderer, man saugt sich sein bis dahin nur aus strichen bestehendes bild bunt. ich bin gar nicht zum denken gekommen, vor lauter gucken und hören.
das mach ich erst noch und dann schreibe ich mal darüber.
auch für sie, die ich sie hiermit in die nacht entlasse und ihnen die nötigen handbreiten luft unter ihnen, über deutschland wünsche. und zeigen sie denen da in berlin und sonst wo! immer druff! ihr ghg
p.s. die schöne schwäbin dankt warm, wie schöne schwäbinnen sind, und grüsst zurück.
H. v. D.
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Kommentar:
Ich habe meinen Exkurs durch eine Stuttgarter bzw. Stuttgart betreffende Briefkultur mit einem Bewerbungsgedicht Georg Rodolf Weckherlins begonnen und möchte sie auch mit dem von mir hoch eingeschätzten Weckherlin beenden, an den ich 1984-1989 neun Briefe schrieb. Der erste dieser Weckherlinbriefe wurde am 16.9.1984 geschrieben, einen Tag nachdem Weckherlin seinen 400. Geburtstag gefeiert hatte, der dem kulturellen Stuttgarter Kurzzeitgedächtnis jedoch völlig entgangen war. Die Weckherlinbriefe sind Teil meines mit ihnen abgeschlossenen Stuttgartprospekts.

Herrn Georg Rodolf Weckherlin, London

Lieber Weckherlin,
Zwar ists schon eine Weile her, daß wir von Ihnen lasen. Seit auch Sie im Amsterdamer Exilverlag publizieren, kommen die Nachrichten spärlicher. Und unsere Vergeßlichkeit in Sachen Kultur ist inzwischen sprichwörtlich. Zwar schlägt eine unserer Stadtgazetten einmal wöchentlich die Brücke zur Welt, aber das darf man so wörtlich auch wieder nicht nehmen oder eher im Sinne von die Brücke rückwärts. Immerhin haben wir uns wenigstens in Amsterdam treffen können und ein paar schöne Stunden im Stedelijk Museum verbracht. Daß Bob Cobbing ihre Saufode nicht kannte, hat mich ehrlich verwundert; aber Toman, Lamy, Sering und Rumler waren ja auch da, und so hats doch noch geklappt mit dem Hem hoscha hu und dem Bumb bidi bump. Und daß wir vor Vergnügen und voll von altem Genever beinahe von der Brücke gesprungen wären, hätte uns hier nicht passieren können. Dazu ist der Nekar zu dreckig. Hölderlin, der sich neuerdings Scardanelli nennt, hält seine Turmfenster schon seit längerem geschlossen oder flüchtet sich mit Mörike und Waiblinger ins Presselsche Gartenhaus. Und Frischlin behauptet schon seit jeher steif und fest, der Setzer habe ihm einen Streich gespielt. Er habe nie gedichtet: urbs iacet ad Nigri colles; er habe eindeutig urbs iacet ad colles nigros geschrieben, wie er überhaupt ziemlich schwarz sähe. Augenblicklich sitzt er auf Hohenurach nur deshalb noch, weil man sich nicht entscheiden kann, ob er auf den Hohenasperg oder gleich nach Stammheim verlegt werden soll. Auf jeden Fall will man vermeiden, daß er mit Schubart auf Conspiratives sinnt. Er ist fest entschlossen, so bald er fliehen kann, daß Land zu verlassen. Und das ist vieleicht wirklich seine einzige Chance, weil, wer hier das Land verläßt, schnell in Vergessenheit gerät, wovon ja auch Sie ein Lied singen können. Jedenfalls hat man in der Brücke zur Welt ihren Geburtstag glatt vergessen, der heuer mit vierhundert ein schöner runder gewesen wäre.Vergeßlichkeit hat hier Methode. [...] Aber was entfällt einem hier nicht alles. Jetzt habe ich sogar den konkreten Anlaß meines Briefes glatt vergessen. So gehts, wenn man ins Nachdenken kommt, immer kommt einem etwas dazwischen und man aus dem Ärger nicht mehr heraus. Wobei mir einfällt, daß ich Ihnen eigentlich nur schreiben wollte, daß wir Ihrer gestern gedacht haben, mit Bumb bidi bump und Hem hoscha hu, bis ich 50 war, nach dem wir uns ausgerechnet hatten, daß Sie nur einmal und heute acht mal älter und auch gescheuter sind als ich, was schon daraus erhellt, daß sie bereits in den 20er Jahren nach London gingen und ich in den 80ern immer noch hier hocke, obwohl Sie mir in Amsterdam geraten hatten, zu gehen. Damals wäre ich genau so alt gewesen, wie sie waren, als sie gingen. Nur, wohin hätte ich gehen sollen? Und hatten wir damals nicht vielleicht auch einigen Grund zu hoffen, nachdem Sohms happening-Ausstellung sogar in Stuttgart Station machte, die Amsterdamer Ausstellung visueller und akustischer Poesie hier durchreiste wie in den Jahren zuvor die Happening-Künstler, Diter Rot in der Alexanderstraße sogar seine Zelte aufschlug und der Kunstverein mit der Ausstellung Form durch Farbe nur unwesentlich hinter Denis Renes Hard egde hinterherhinkte. Hier gab es wirklich für ein paar Augenblicke eine Brücke zur Welt. Aber ich hätte auf Sie hören sollen: Denis Rene war zuerst, Sohms Archiv kam aus Köln und unsere Ausstellung hatten wir in Amsterdam konzipiert und aufgebaut. Auch ist es mit Brücken eine eigene Sache. Vergleichen sie mal die vom Rosensteinpark über den Neckar mit der in Säckingen über den Rhein oder der in Fulpmes über den Ruetzbach.
Herzlch
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

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< Einleitung
< Johannes Reuchlin |  Georg Rodolf Weckherlin | Briefsteller
< Gottfried August Bürger |  Goethe an Christiane Vulpius | Goethe an Schiller
< Briefsteller [2] Jean Paul und Stuttgart | Ludwig Boerne und Stuttgart | Briefsteller [3]
< Nikolaus Lenau und Stuttgart | Einführung des Nachtlebens | Eduard Mörike und Theodor Storm | Wilhelm Raabes Stuttgarter Jahre | Briefsteller [4]