Bettina Sorge: Die Stimme bei Joseph Conrad, dargestellt am Beispiel von "The Nigger of the Narcissus", "Heart of Darkness" und "Typhoon"

6. Schlußbetrachtung

Conrad formulierte 1897 im berühmt gewordenen Vorwort zum Nigger of the "Narcissus" sein Ziel als Autor folgendermaßen: "My task (...) is by the power of the written word to make you hear, to make you feel - it is, before all, to make you see!" (NN, S.147)

Wegen der doppelten Hervorhebung des Sehens wurde nun von vielen Kritikern der Schwerpunkt ihrer Untersuchungen auf den Sehsinn gelegt. "It is a commonplace of literary criticism that Conrad's imagination is predominantly visual." (101) Dieser Auffassung ist so ohne weiteres nicht zuzustimmen. Wie wir gesehen haben, verwendet Conrad eine herausragende Vielfalt von Verben des Sprechens, um die Stimmqualität einer Aussage zu zeigen. Er verwendet die Stimme zur Charakterisierung, kontrastiert unerträglich bedrückende Stille mit ohrenbetäubendem Kreischen, verleiht der Wildnis eine menschliche Stimme und reduziert Menschen geradezu auf ihre Stimmen.

Fogel interpretiert das Programm Conrads als einen Erkenntnisprozeß, der mit dem Hörsinn beginnt und die Leser schließlich zum Sehen, zur Erkenntnis bringt.(102) In der Tat steht am Anfang von Marlows Interesse an Kurtz ein Gespräch, das er mitangehört hat.

Man könnte diese Lesart noch etwas erweitern. Bette London hat darauf hingewiesen, daß Stimme in Heart of Darkness häufig als optische Illusion dargestellt wird. (vgl. Kapitel 5). Dies gilt auch für die anderen zwei Werke, die ich untersucht habe. Als Beleg ließen sich z.B. das "halo" um MacWhirrs Stimme und die zu Wellen werdenden Stimmen der Crew im Nigger of the "Narcissus" anführen. Es gibt jedoch nicht nur optische Synästhesien, sondern, wenn auch seltener, taktile Beschreibungen von Stimme, z.B. die wie Hagel prasselnden Worte Podmores. Also könnte man sagen, Conrad will ein auditives Phänomen, nämlich die Stimme, hörbar, fühlbar und schließlich sichtbar machen. Diese Sichtbarkeit ist allerdings eine Illusion, eine optische Täuschung. Doch die Augen sind auch sonst in seinen Werken nicht so verläßlich, wie uns seine Betonung des Sehsinns glauben lassen will. Häufig versagen sie: nachts, im Sturm, im Nebel. Sie sind nicht mehr in der Lage, ganze Körper zu erkennen, deshalb sind die Körper häufig fragmentiert oder als wirbelnde oder flutende Masse dargestellt. Was dann noch bleibt, ist die Stimme.

Es ist auffällig, daß Conrad beinahe ausschließlich Naturmetaphorik verwendet, um Stimmen zu beschreiben. Die Stimmen der Crew der "Narcissus" werden zu Wellen, Allistoun spricht mit Sturmstimme, die Pilger in Heart of Darkness mit Tierstimmen, aus Kurtz' Stimme spricht die Wildnis. Damit wird ein Zusammenhang zwischen den Menschen und den sie umgebenden Naturgewalten hergestellt. Der Mensch erkennt sich selbst als Teil der Natur, des Tierischen, wie es dem Menschenbild seit Darwin und Freud entspricht. Dies wird noch dadurch verstärkt, daß die Natur selbst eine Stimme erhält, wodurch auch die letzte Unterscheidung zwischen Natur und Mensch gefallen ist. Es gibt eine Ausnahme, nämlich MacWhirrs Stimme. Diese wird nicht zur Natur, sondern zur Stimme Gottes in Beziehung gesetzt. Doch da Gott in Conrads von Nietzsche beeinflußten nihilistischen Universum tot ist, ist auch das Göttliche, ebenso wie das Tierische im Menschen selbst.

Die Verbindung zwischen Stimme und Körper bei Conrad ist schwach, wie wir gesehen haben. Menschen werden auf ihre Stimmen reduziert, während ihre Körper hohl, fragmentiert oder schattenhaft erscheinen. Die Stimme löst sich in verschiedenen Graden vom Körper, bis sie völlig körperlos erscheint.

Normalerweise verlautet eine Stimme einen Körper. Hört man eine Stimme sprechen, so sieht man sich unwillkürlich nach dem Sprecher um, nach dem Ursprung der Stimme. Der Ursprung der Stimme kann in der realen Welt nur ein Körper sein, deshalb sind körperlose Stimmen erschreckende Begegnungen mit dem übermenschlichen. Die körperlose Stimme Gottes spricht zu Abraham oder Moses. Auch die Stimme des Bösen kann körperlos sein. Roland Barthes beschreibt dies in seiner philosophischen Abhandlung zum romantischen Lied:

Die Schwarze Stimme, Stimme des Bösen oder des Todes ist eine Stimme ohne Ort, eine Stimme ohne Ursprung.: sie erklingt von allen Seiten (im Rachen der Wölfe des "Freischütz) oder sie stellt sich unbeweglich, schwebend (in "Der Tod und das Mädchen"): auf alle Fälle verweist sie nicht mehr auf den Körper , der in eine Art Nicht-Ort entschwindet.(103)

In der Moderne, die nicht mehr an übernatürliche Phänomene glaubt, verweist das Hören körperloser Stimmen nicht mehr auf Gott oder Dämonen, sondern auf eine Geisteskrankheit. In der Erzählung Conrads "Karain" sucht der malayische Häuptling Karain, der von der körperlosen Stimme seines von ihm ermordeten Freundes verfolgt wird, Zuflucht bei Engländern, da diese aus dem "land of unbelief" kommen, also an Stimmen von Geistern nicht glauben. (104)

So bewegt sich die körperlose Stimme in Conrads Werken zwischen diesen beiden Polen. Sie drückt magische, göttlich-dämonische Qualität aus, aber sie kann auch zur Trägerin schizoider Projektionen des Verdrängten werden, die aus dem Unbewußten aufsteigen. Die Mannschaft im Nigger of the "Narcissus" sieht einen sterbenden Menschen vor sich. Doch die Angst vor dem eigenen Tod ist so groß, daß sie es nicht ertragen wollen, Wait sterben zu sehen. Also projizieren sie ihre Verdrängung auf ihn, der die ideale Projektionsfläche ist, da er innerlich hohl ist. Seine laute Stimme bestärkt die Mannschaft darin, den nahenden Tod zu leugnen, denn die Stimme scheint auf einen gesunden Menschen hinzudeuten. Dieser Selbstbetrug führt zu der Beinahe-Meuterei auf der "Narcissus".

Auch Kurtz ist innerlich hohl. Er hat jegliche Zurückhaltung aufgegeben und lebt seine Begierden und Triebe voll aus. Man kann Kurtz als die verdrängten Wünsche und Begierden Marlows deuten, die dieser auf Kurtz projiziert, und wieder ist die Stimme die Trägerin dieser Projektion, spricht doch die Wildnis aus Kurtz.

Auch MacWhirr ist eine geeignete Projektionsfläche. Zwar ist er nicht innerlich hohl, doch er besitzt keine individuellen Züge. Also kann Jukes seine Hoffnungen auf ihn projizieren, und so kann MacWhirr fr ihn Halt, Trost und Ruhe im Sturm symbolisieren. Und wieder ist vor allem die Stimme von dieser Projektion betroffen.

Wieso ist es ausgerechnet die Stimme, die zur Trägerin der verschiedensten Projektionen wird?

Die Stimme stellt eine Verbindung zwischen Sprecher und Hörer, zwischen Sender und Empfänger her. Dies ist die Grundlage des Kommunikationsmodells. Doch die Stimme wird bei Conrad höchst selten zur Kommunikation verwendet. Wirkliche Kommunikation zwischen Menschen ist nicht möglich; hierin ist Conrad ganz Kind seiner Zeit. Menschen sprechen verschiedene Sprachen oder versuchen vergeblich, sich in tosendem Sturm zu verständigen. Wortinhalte werden zweifelhaft; die Faszination von Kurtz und MacWhirr erklärt sich gerade nicht aus dem, was sie sagen. Im Unterschied zur Schrift und zum gesprochenen Wort läßt die Stimme in ihrer Lautlichkeit der Phantasie mehr Raum. Da sie sowohl flüchtig als auch machtvoll ist, eignet sie sich in besonderem Maße für Projektionen aller Art.

Stimme ist für Conrad also nicht nur ein Mittel zur Charakterisierung seiner Figuren, sondern er stellt über Stimme eine Verbindung zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Natur her. Dabei wird die Stimme in seinen Werken, vermutlich mehr als ihm selbst bewußt war, zum Hauptausdruck menschlicher Ängste, Begierden und Hoffnungen.



101) Werner Senn, Conrad's Narrative Voice: Stylistic Aspects of His Fiction (Bern: Francke, 1980) 66.
102) Vgl. Fogel 1985, 49.
103) Roland Barthes, Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied (Berlin: Merve, 1979) 10.
104) Joseph Conrad, "Karain: A Memory", Tales of Unrest (London, Toronto: Dent, 1923): 44.

Zum Literaturverzeichnis


Zurück zu  Einleitung / Theoretischer Hintergrund / The Nigger of the "Narcissus" / Heart of Darkness / Typhoon / Schlußbetrachtung