Hermann-Finsterlin-Seiten

Reinhard Döhl | Dichtung als Spiel? Über das literarische Werk Finsterlins

Ein heute noch ungeordnetes Werk | Als ob ich ein Dichter wär | Das höchste Lied | Der Weltseele Sang | Utopische Architektur und phantastischer Film | Alfred Brust, Paul Scheerbart und ein Dadaistisches Zwischenspiel | Gesammelte Werke | Postscriptum

Ein heute noch ungeordnetes Werk

In Fortsetzung der künftig von Schömberg ausgehenden Versuche, dem Gesamtwerk des Gesamtkünstlers Hermann Finsterlin schrittweise gerecht zu werden, geht es heute um einen Überblick über, um einen Einblick in das literarische Werk Hermann Finsterlins. Ich habe im September letzten Jahres [1999] bei dem Versuch einer Einführung in des Gesamtwerk bereits darauf hingewiesen, daß sich dieses umfangreiche literarische Werk nur bedingt vom anderen Oeuvre Finsterlins trennen läßt, und im Falle des Schömberger Freskos einer kristallinen Berglandschaft zeigen können, wie die sich dort tummelnden Figuren bzw. Kristallwesen, die Finsterlin anderen Orts "Kristallelfen" genannt hat, von Finsterlin auch literarisch bedacht wurden:

Türm mal in den Turmalin
Quickes Elflein der Kristalle,
Warum gingst du in die Falle
Der verruchten Zauberin?
Was die Kristallelfen andeuteten, wurde am Beispiel der Schlange komplex, die als ein ikonographisches Element unter vielen anderen, in Hermann Finsterlins Werk und Weltbild gewichtige Plätze und Funktionen einnimmt und erfüllt, aber auch Rätsel aufgibt, die Betrachter und Interpret von Fall zu Fall zu lösen haben.

Um solch ikonographische Spurensuche geht es mir heute nur am Rande; vorrangig statt dessen um den Schriftsteller und Dichter Hermann Finsterlin, dessen bisher nur zu Bruchteilen und unzulänglich veröffentlichtes literarisches Werk ich zunächst vom Umfang her zu skizzieren habe. Es umfaßt neben einer noch nicht überschaubaren Vielfalt von Gedichten eine größere Anzahl von Aphorismen, Szenarien und Filmskripte sowie architekturbezogene und zivilisationskritische Essays unterschiedlichster Provenienz.

Dreimal ist zu Hermann Finsterlins Lebzeiten ein Anlauf gemacht worden, dieses umfangreiche Werk zu ordnen, ohne daß dies glücken wollte, zweimal von Hermann Finsterlin selbst um 1911 und Mitte der 20er Jahre in Kontexten, auf die ich noch zu sprechen kommen werde.

Ein drittes Mal hat Carl Lamprecht aus Berchtesgaden um 1950 versucht, wenigstens das Gedichtwerk zu ordnen und dafür einen Verleger zu finden. Aus einer undatierten Kritik eines Vortrags von Carl Lamprecht - "Hermann Finsterlin - ein unbekannter bayerischer Dichter" - wissen wir, daß diese gesammelten Gedichte den Titel "Die Spielarten Gottes" führen sollten und auf drei Bände konzipiert waren: "Um Phantasie zu werben bin ich da", "Was dauern will, muß eigensinnig sein", und "Das Unsagbare ist das einzig Wahre".

Einem undatierten Brief Lamprechts an Finsterlin ist zusätzlich zu entnehmen, daß der erste Band weitgehend abgeschlossen war und den "Ungemeinen" vorstellen sollte, wobei der von Lamprecht zur Charakterisierung Finsterlins gebrauchte unübliche Begriff des "Ungemeinen" vielleicht und am besten mit nicht gemein, nicht dem Allgemeinen entsprechend zu übersetzen wäre -

Einem undatierten Brief Lamprechts an Finsterlin, sagte ich, ist zusätzlich zu entnehmen, daß der erste Band weitgehend abgeschlossen war und den "Ungemeinen" vorstellen sollte, "mit seiner Art, seinen Gedichten, seiner Weltschau, seinem Lied von der Erde, seiner Kritik der Fehle und seiner Selbstbefreiung". Der zweite Band sollte dann "einzelne Bücher, Zyklen des Ungemeinen", unter ihnen "Göttliche Vagabunden" und "Lieder des Pan" versammeln, die den dritten Band "vorbereiten" sollten, der "nun ganz dem 'Ungemeinen' selber geweiht" sein werde.

Lamprecht war es bei seinem Ordnungsversuch vor allem um eine allgemeine Verständlichkeit zu tun, die sich aus einem "organischen Hervorgehen des Einen aus dem Anderen" ergeben sollte. "Anzuschließen", fährt der Brief dann fort -

"Anzuschließen an diese drei Gedichtbände wäre noch in einem 4. resp. 5. Band die Prosa. Dann hätten wir die 'Gesammelten'. Doch sind mir die Gedichte in dieser Ordnung so wichtig, daß ich daran noch nicht einmal denke. Wie schön diese Fülle!"

Ob Lamprecht je an einer verbindlichen Ordnung der Bände 4 und 5 gearbeitet hat, wissen wir bisher nicht. Mit Sicherheit fand sich aber für die Gedichtbände 1 bis 3 trotz regen Bemühens weder in Deutschland noch in der Schweiz ein Verleger.

Erst 1964 erschien - gerade rechtzeitig zur Münchner Ausstellung "60 Jahre Finsterlin. Querschnitt durch sein Schaffen" - als Privatdruck in einer Auflage von 1000 Stück eine Gedichtauswahl unter dem Titel "Lieder des Pan. Ein Griff in ein halbes Jahrhundert", mit einem Vorwort des inzwischen verstorbenen Carl Lamprecht, in dem wir den dann freilich mit 1930 falsch datierten Berchtesgadener Vortrag vermuten dürfen.

1970 folgte noch ein schmales Bändchen, das 29 erotische Miniaturen mit Gedichten Hermann Finsterlins versammelte. Das war es zu Lebzeiten.

1988 habe ich aus Anlaß der großen Stuttgarter Finsterlin-Retrospektive versucht, im Anhang an die Monographie einen repräsentativen, wenn auch bescheidenen Querschnitt durch das literarische Werk zu geben und bei dieser Gelegenheit eine größere Anzahl ausgewählter Texte erstmals veröffentlichen können.

Ich will mich heute aber nicht an meine damalige Gliederung und Zuordnung nach Gattungen halten sondern chronologisch vorgehen, einmal, um auch das andere künstlerische Werk nicht ganz aus dem Augen zu verlieren, vor allem aber, um so leichter das literarische Werk Finsterlins in den literaturgeschichtlichen Zusammenhang stellen zu können, wobei es einige kleine Entdeckungen zu machen gilt.

Als ob ich ein Dichter wär

Während sich die Anfänge der künstlerischen Entwicklung Finsterlins im Dunkel der Anekdote verlieren und sich erst seine Ausbildung als Kunstmaler mit 1905 bis 1908 sehr wahrscheinlich machen läßt, sind wir im Falle des literarischen Werkes besser informiert. Erhalten haben sich für die Jahre 1904 bis 1911 drei Bände handschriftlicher Gedichte, "Meine ersten Versuche" und "Mit offenen Augen", Gedichte von 1904 bis 1907 bzw. von 1907 bis 1911 umfassend, sowie ein dritter Band ohne Titel mit einer Nachlese von Gedichten ab 1906. Zu diesen handschriftlichen Gedichten kommen vier Bände maschinengeschriebener Gedichte, von denen allerdings nur einer einen Titel trägt, das 1908 den Eltern zur silbernen Hochzeit gewidmete "Spinnengewebe". eine "Balladenheerde [!] von Hermann Finsterlin". Die anderen drei Bände sind titellos, einer auf dem Umschlag mit "HF" bezeichnet und "09-11", also September 1911 datiert, ein zweiter rückseitig mit einer Jugendstilvignette geziert, für die Finsterlin die Sphinx als Wappentier gewählt hat. Ein Wappentier, das auch in seinem dichterischen Werken eine Rolle spielen wird. Hinzu kommt ein Konvolut maschinengeschriebener Gedichte auf Japanpapier, das, in eine Buchhülle eingelegt, wohl ebenfalls gebunden werden sollte.

Die kostbaren Ledereinbände bereits der ersten beiden handschriftlichen Gedichtsammlungen sind originale Buchbinderarbeit. Daß ihre Verzierungen auf Vorlagen Finsterlins zurückgehen, ist denkbar wenn auch nicht belegbar. In beiden Bänden sind die Gedichte überwiegend datiert. Danach begänne die Gedichtproduktion Finsterlins im Jahre 1904 mit zunächst zwei Gedichten eher zögerlich, gefolgt von 18 Gedichten aus dem Jahre 1905, um dann 1906/07 stark anzuwachsen, wobei sich erst um 1907 eine ansatzweise eigene Diktion findet.Was die interessante, freilich noch zu überprüfende Vermutung nahelegt, daß Finsterlins literarische Entwicklung in dem Maße an Sicherheit gewinnt, in dem er bei seiner Ausbildung als Kunstmaler zunächst scheitert.

Zwei Gedichte um 1908 deuten hier Zusammenhänge an. Das erste war für die damals neben dem "Simplizissimus" zweite populäre Münchner "Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben", die "Jugend" gedacht, wenn auch dort nicht erschienen:

Ich bin ja sonst ein Maler,
Und nimmermehr Poet,
Doch fehlt mir mancher Taler,
Wenn's Monat weitergeht.
Da hab ich just bestiegen
Ein streikend Droschkenvieh,
Gab' Flügel ihm zum Fliegen,
Es war so schön wie nie.
Ironischer kann man eigentlich das Besteigen des Pegasus kaum brechen. Das zweite Gedicht ist direkt der Münchner Akademie gewidmet und endet:
Und nun verzeiht Ihr lieben Freund,
Wenn ich so kurz mich fasse,
Und Euch auf einen Gruß von mir
Noch etwas warten lasse.
Vorüber erst und hinter mir
Muß sein "Perück" und Mieder,
Dann komm ich durch die Hintertür
Im Rock der frommen Brüder.
Dennoch, sicher scheint sich Finsterlin seiner Entscheidung keinesfalls gewesen zu sein:
Wurmstichig ist mein Wanderstab
Vom Stiefel bis zum Knauf,
Ich wandre die Berge bergauf, bergab
Und halt mich nirgend auf.
Die Runen in meinem Knotenholz
Bewundert Snob und Gesind,
Ich aber lache vor Lust und Stolz,
Weils doch die Würmer nur sind.
Erzähl ihnen von meinem Reebenstock
Manch wunderliche Mär,
Und schüttle mein blondes Greisengelock
Als ob ich ein Dichter wär.
Das unterscheidet sich, von der auffallenden Formulierung und Einschränkung des "als ob" einmal abgesehen, kaum von der damaligen Lyrik einer sogenannten Neuromantik mit ihren z.T. pubertären Zügen, ihrer Hingabe an erlesene Stimmungen, grenzenloses Fühlen. Gelegentlich launig, meist voller Melancholie, spricht sich in ihr Ichverlorenheit aus, verliert sich in musikalischen Stimmungen (nicht zufällig hat Finsterlin Gedichte dieser Art auch selbst vertont) ebenso wie in landschaftliche Projektionen, die sich meist aus tradierten Versatzstücken zusammensetzen. Sie sind Rückzug, Flucht in Traum- und Phantasiewelten und, alles in allem, eine "schöne aber müde Kunst".
Die alten Berge, der alte Wald,
Der alte Mond über den Feldern,
Der alte Laut, der widerhallt
Aus den tuschelnden Wäldern.
Mein Herz nur ist jung, und die Geister der Nacht,
Die wassergebornen Gestalten,
Die kämpfen den Kampf um die heilige Macht
Des Lichts mit dem Alten, dem Alten.
Wie ernst Finsterlin seine Gedichte dennoch nahm, läßt sich aber nicht nur daran ablesen, daß es sie aufgehoben hat, sondern vor allem daran, daß er sie auf wertvollem Papier in anspruchsvoller Form hat binden lassen. Dadurch hat sich für die ersten sieben Jahre dichterischer Produktion ein recht umfangreiches Gedichtwerk erhalten, das sich neben dem neuromantischen Ansatz in seiner jugendstilnahen Präsentation in fast allen damals populären und weniger populären Gattungen, von der Ballade bis zum Sinngedicht, von liedhafter, z.T. Heine naher Diktion bis zur Gedankenlyrik versucht. Aus dem Rahmen fallen lediglich einige Dialektgedichte, die einen eigentümlichen Witz entfalten, sowie Gedichte, die auf Lektüren reagieren. So hat sich Finsterlin um 1908 offensichtlich intensiver mit Friedrich Schiller beschäftigt, vor allem aber mit Spinoza, dem er eine lange Ballade widmet, an deren Schluß Spinoza die ihn bedrängenden Menschen bescheidet:
Ich, sprach er, sag Euch das Geheimnis nicht,
doch wißt,
ich hab die Welt umfangen!
Hier scheint sich Künftiges bereits anzudeuten, ebenso wie in den letzten zwei Versen eines ansonsten eher konventionellen Naturgedichts:
Wir Tiefseefischverwandten
Wir Atlanten.
Ferner stößt man auf Spuren kritischer Reflexion, wenn Finsterlin z.B. mit Hilfe eines Stilbruchs sein Unbehagen an traditionellen Sujets, daran formuliert, daß es nicht nur ihm an eigenen und neuen Stoffen mangle:
Altbekanntes wiederholen
Hat, so glaub ich, nicht viel Sinn,
Und so sitz ich wie auf Kohlen,
Oder wenn er in einer mit dem 26.4.1907 datierten, auffällig ungereimten kritischen Reflexion vom sprichwörtlichen Wein in alten Schläuchen spricht:
Unsere jetzige Dichtung ist nichts
Als eine neue Mode.
Neue Kleider über die alten Körper
Mit Seele und Geist.
Ein neues buntes, fesches, elegantes
Kleid, das die schöne Form durchscheinen
Läßt - ohne das ästhetische Gefühl
Zu verletzen,
das ist in kurzen Worten die
Anforderung an die modernen
Schneider, (unsere jetzigen, modernen
Dichter) die leider so rar sind.
Linear geschrieben, wäre dies übrigens eine Notiz, die bereits deutlich auf die späteren Aphorismen Finsterlins vorausweist.

Das höchste Lied

Als Kunstmaler und als Dichter wenig erfolgreich, versucht Finsterlin zu Beginn des ersten Weltkriegs, an dem er in Folge eines Reitunfalls nicht teilnehmen muß, einen dritten Anlauf und schreibt sich im Herbst 1914 für das Wintersemester an der Münchner Universität als Student der Naturwissenschaften ein, um ein drittes Mal zu scheitern. Was Finsterlin finden wollte: Weltausdruck in den Künsten, Welterklärung in den Naturwissenschaften, fand er nicht. Man darf den Abbruch des Studiums, die folgenden fast verzweifelten unsystematischen Privatstudien in Richtung Mythos als eine Zeit der Krise begreifen, die sich in dem Maße steigerte, in dem keiner seiner Anläufe zu Lösungen führte, in dem seine Fragen, so unklar sie gestellt sein mochten, ohne Antwort blieben vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Wilhelminischen Ära, ihres Bürgertums, des Ersten Weltkriegs - einer Zeit, die sich den Künstlern als "Jüngster Tag" und als "Menschheitsdämmerung" im doppelten Wortsinn einprägte. Wenn Finsterlin in einem Brief an seine spätere Frau Helene von seinem "schlimmsten Tag" spricht, und wir dürfen dies mit großer Wahrscheinlichkeit konkret auf den Abbruch seines Studiums beziehen, klingt dies durchaus mit:

Du wundervolles Weib, das meine Seele ganz erweckt, das die Dämme niederreißt wie Brahma die Schalen des Welteneis, Du sahst ihn ersterben den Phönix zum letztenmal im Gluttod seiner Art, und die ahnende Asche ähnelte schon neuer Form. - Heute abend habe ich den schlimmsten Tag meines Lebens im Rücken, wenn ich heute nicht zerbrach, was sollte je mich zertrümmern. Und lebe doch nur, weil ich glaube.
Finsterlin hat wenigstens Teile seiner Briefe an Helene Kratz aus der Zeit vor der Ehe (15.1.1916) abschreiben und binden lassen und, was eine weitere spätere Abschrift nahelegt, wohl auch für den Druck vorgesehen. Das entbindet mich von der Peinlichkeit der Frage, ob ich daraus zitieren darf oder nicht, und so füge ich ein weiteres Zitat aus einem Brief vom 21. Juli 1915 an:
Ich habe heute meine Arbeit ein wenig überschaut, der Grundriß schon ist so fast übersehbar, so gewaltig, daß jedem die Lust verginge, den Bau zu übernehmen, rief ihn nicht die heiligste Not. Eine Feierstunde ohne Gleichen benötigt schon dieser erste Plan, doch ist der erste Spatenstich getan, dann seh ichs emporwachsen, selbsttätig und unaufhaltsam, daß ich nur mehr lenken zu müssen glaube.
Beides spricht in mythologischer ("Brahma", "Weltenei", "Phönix") wie in der Baumetapher von einem Werkentwurf, dem "Bau" eines Lebenswerkes, dessen "Grundriß" sich gerade erst abzeichnet. Und es benennt Helene Kratz für diese Zeit des Um- und Aufbruchs als entscheidende Weggefährtin, deren Musen-Rolle für das Lebenswerk Hermann Finsterlins leider nach wie vor übersehen, sogar unterschlagen wird, obwohl Finsterlin noch "Sonnwend 24" seine handschriftlich gebundenen "Beiträge zum Komisch Kosmischen", die Gedichte des "Schwarzen Herrgott"
Seiner unvergleichlichen, übermenschlich geliebten Lebensgefährtin, seinem ewigen Gemahl, seiner einzigen Seele - Helene
widmen wird.

Zunächst gestaltet sich dieser Um- und Aufbruch allerdings eher bescheiden in dem genannten "Liebesbriefwechsel" (so der Titel der zweiten Abschrift), der ausschließlich Briefe Finsterlins umfaßt, und einem ersten Prosaversuch, der das "Hohe" in "Das Höchste Lied" (so der Titel) steigert. Um 1916 entstanden, muß, bei wie so oft fehlender oder falscher Datierung Finsterlins, vorläufig offen bleiben, ob diese erotische Prosa Projektionscharakter hat oder bereits eine Sublimierung der Liebes- und Ehebeziehung darstellt.

Im thaugrünen [!] Tal von Posilipo lebte ein Paar. Sie standen in der Blüte der Jahre und mochten so ziemlich gleichaltrig sein; man hätte sie für Zwillinge halten können . Niemand kümmerte sich um die Beiden, die freundlich waren zu jedermann, den zufällig sein Schritt in die Einsamkeit führte, aber die dennoch eine so restlose Geschlossenheit zur Schau trugen, das man ihnen die Bedürfnislosigkeit nach menschlichem Verkehr von vornherein ansah. Wenn man ihre Wohnstätte betrat, so vermißte man vor allem jedes Zeugnis der gepriesenen Kultur.
"Gepriesene Kultur" meint dabei in Finsterlins Wortverständnis Zivilisation, von der sich wahre Kultur grundsätzlich unterscheide. Entsprechend ist ein Zerrbild der Zivilisation denn auch die Negativfolie, vor der sich die erotische Idylle entfaltet:
Auf der Straße, die vorn in die Küste gestuft ist, jagen in Staubwolken stinkende Kraftwagen mit insektenartigen Insassen, begleitet von ratternden Motorboten und dröhnenden Flugzeugen, alles stählern glänzend, hart, laut, stinkend und rasend, unendlich abstoßend und unheilschwanger. - In den Kasinos der Riesenarchen mit den tausend grellen Glotzaugen schlingen deformierte viehische (tierisch wäre eine Beleidigung für das Tier) Masken und Gestalten mit blanken scharfen Instrumenten Stücke angebrannter Leichname hinab und pumpen ihre Wänste voll mit vergorenen Säften. - Dann hocken sie wohl fiebernd um Tische mit glänzenden Metallscheibchen und stieren auf ein rotierendes Rad, oder in einen Fächer voll häßlich bemalter Blätter, den sie nacheinander abpflücken. In andren Räumen balzen schlechtschwitzende, nach künstlichen Ekelblumen riechende, angestrichene, verquollene oder skelettische mit bunten Fetzen behängte oder in einem schwarzen Rohrsystem steckende weibliche oder männliche Tiere, um sich später in süßlich ekelhaften Schnörkelkästen in ekler, seelenloser, roher Begattung zu wälzen oder als seelenvoll körperlose Schemen unter Decken die Stenogramme eines schlecht übersetzten Liebesfragments zu stammeln.
Wir wissen aus einem Brief von (wahrscheinlich) 1909 von einer Italienreise mit der Familie, über die sich Hermann Finsterlin in fast vergleichbaren Formulierungen ausläßt. Ist aber dieser Teil der ersten Prosa Finsterlins biographisch zu lesen, dürfen wir auch für das "thaugrüne Tal von Posilipo" nach einem biographischen Bezug suchen, und der findet sich im Berchtesgadener Land auf der Schönau, lange Jahre Fluchtpunkt Hermann Finsterlins, nach 1916 "Tusculum" des Ehepaares. Ob projezierter oder sublimierter locus amoenus, seine Charakterisierung durch Finsterlin läßt mancherlei Überlegungen zu.

Er liegt in einem

ergrünende[n] Vale, an dessen einer Flanke wie erwachsen aus dem Stein ein krystallartiger Würfel ragt, die Wohnstätte dieser beiden Menschen.
Hervorgehoben werden im einzelnen
Das abendliche Gemach [..., und eine] kleine mondumgossene Wildnis um das Tusculum [sowie] eine verborgene, fast unzugängliche Grotte [...] unweit ihrer Hausung; von unten blinzelte verstohlen ein Meerauge herein, und warf den ganzen wohlig dämmernden Raum voll blau geheimnisvollen Lichtes, auf dessen transparenten Tapeten ein faszinierendes Kringelmuster verwandelter Sonne aufgeregt und aufregend spielte.
In diesem Ambiente ist für Finsterlin das "ganze körperliche Leben" seiner beiden Liebenden, die er bezeichnenderweise Adam und Eva nennt,
ein kosmisches Symbol, [...] ein fabelhaft compliziertes verfeinertes Kreisen zweier organischer Pole um die Achse dieses, urewig menschlich-göttlichen Idols; das waren keine beschränkten menschlichen Glieder mehr, die da in entzückend wechselnden Formen überakrobatisch mit proteischen Wetten gewürzt um einen Mittelpunkt spielten, - das waren fleischgewordene polare Kräfte, das waren zwei zerschmelzende Weltkörper, die in durchseeltesten Formprotuberanzen der Idealkugel sich entgegenbildeten.
Ich zitiere noch das Ende dieser Prosa:
[...] und als sie wirklich alt geworden waren, als sie fühlten, daß eine Auffrischung und Neugeburt ganz erspießlich sein könnte, da saßen sie nun stundenlang in ihrer Wildnis oder im Tonwerk des Meeres, sahen sich voll ungebrochener Wärme und Innigkeit in die ewig einigen, klaren Augen, drückten sich die liebessatten Hände und sprachen eifrig und geheimnisvoll von ihrem nächsten Erdenleben, (von ihrem planetarischen Um-zuge) das sie als Zwillinge führen wollten, um gleich Isis und Osiris um zwanzig Jahre früher mit dem absoluten Leben zu beginnen, als diesmal. Eigentlich hätten sie ja schon unsterblich sein müssen wie die Amöben, die bei jeder Umarmung völlig ineinander verströmen, so alle Elemente ihrer beiden Organismen in einer vollendeten Vereinigung total erneuernd und umgruppierend und sich dann wieder entzweiend zu neuer, beglückender Polarität. Etwas war da noch nicht ganz geglückt.
Und so fanden sie denn die Nachbarn einst, als sie mehrere Tage vermißt wurden, selig umschlungen entschlafen, lächelnd und voll Erwartung - wie träumende Kinder vor dem Weihnachtsfest - und sicher lagen sich ihre transzendentalen Subjekte zur selbigen Stund' im Himmelbettchen eines warmen Mutterleibes schon wieder in den Armen, träumend von der vollkommenen Welt eines ewigen Doppeldaseins.
Ich trage nach, daß Finsterlin sich über das Motto dieser mythen-, märchen- und symbolhaltigen Prosa einige Zeit unschlüssig blieb, sie zunächst nach Goethe mit "Alles Irdische ist nur ein Gleichnis" überschreiben wollte, sich dann aber entschied für "Die Liebe ist das Märchen aller Zeiten".

Ich kann und will diese nur auszugsweise vorgestellte Prosa im folgenden nicht interpretieren, stattdessen ihre besondere Schlüsselrolle im (nicht nur literarischen) Werk Finsterlins hervorheben. Denn sie ist nicht nur erstens ein wichtiger Beleg für die Bedeutung, die die Liebe zu, die Ehe mit Helene in Biographie und Werk Finsterlins haben.

Sie ist zweitens ein wichtiger Schlüssel für die etwa gleichzeitig entstehenden erotischen Zeichnungen und anthropomorphen Architekturen an der Grenze zur erotischen Zeichnung, die seit 1919 einen Teil des Finsterlinschen Werkes ausmachen. Die augenblickliche Ausstellung zeigt einige spätere Beispiele.

"Das Höchste Lied" antizipiert drittens und eigentlich gar nicht so überraschend einen werkgenetisch entscheidenden Traum Finsterlins, Finsterlin wird ihn später seine "zweite Sternstunde" nennen, die wir mit dem Frühjahr 1919 datieren können. In ihr träumte sich Finsterlin aus dem architektonischen Gefängnis aus

primitiven Steinwürfeln mit den paar Kisten drin [... heraus] in eine seltsame farbige Grotte mit reizvoll ausgekurvten Wänden und Ecken. Die Sonne spielte auf den Basreliefen [!], eine ganze Welt bewegter Figuren darauf.
Ein Traum, dem viertens 1918 ein Szenarium vorausging, dem Finsterlin den Titel "Die Grotte" gab. Der Spielort ist "Eine Tropfsteinhöhle auf dem Jupiter", in der ein Stalagmit und ein Stalagtit aufeinander zu wachsen um schließlich miteinander zu verschmelzen. Ich zitiere die einleitende Regieanweisung, um wenigstens etwas von dem zu vermitteln, was Finsterlin wollte:
Ein plüres Licht, uns Erdbewohnern unbekannt, fließt sanft um die Säulen, leuchtet auf, wenn es an den Rundungen brandet, und tönt dann in gar wundersamer Weise. Im Vordergrund strebt ein Stalagmit sichtbarlich in die Höhe und durchbohrt dabei einen schwebend schlafenden Grottenvogel. Im Durchbohrungsmoment scheint der Vogel die Gestalt eines Inders anzunehmen, dem eben der sühnende lebende Bambus das Herz langsam durchbohrt. Doch dieses atavistisch metempsychotische Phänomen verblaßt alsbald. Die Stimme des Stalagmiten ertönt wie aus weiter Ferne.
Entspricht die Vereinigung von Stalagmit und Stalagtit entfernt der Vereinigung der beiden Liebenden der erotischen Prosa, hier wie dort findet sich z.B. das Bild der Kugel, findet sich in der Gestalt der Amöbe eine weitere Entsprechung. Sie hat ihren Auftritt am Schluß des Szenariums und dort nicht nur das letzte Wort:
Mich dünkt ihr zwistet um den besten Platz im Grabe
Das Erben und Verderben reimt sich nicht von ungefähr,
Der Sterbende vererbt, der Erbe erbt das Sterben,
Es pflanzt sich fort ein ungeheures Meer,
Ein Lebensdienst ist unser ganzes Sein
Halb Herr, halb Knecht und nirgend ein Vermögen.
Die Spaltung ist ein fluchbeladner Segen,
In meiner Haut nur lebt sich's groß - allein! -
Die Menschen haben mich zu ihrem Gott erhoben,
Ich bin ihr Wunsch und kann ihn doch nicht stillen
Solang die Form sie birgt, darum geloben
Sie vor dem Tor des Tods Vernichtungswillen.
Sie wächst plötzlich ins Riesenhafte, Pseudopodien emanieren sich aus der Kugel und nehmen wechselnde Gestalten an. Der ganze Grottenraum hat sich zum Dome des Weltraums erweitert. Man sieht Sonnen kreisen, Sterne in allen Formen und Farben bewegen sich durch den Raum, die Amöbe leuchtet auf, teilt sich, und die beiden neuen Kugeln schließen sich dem Rhythmus eines der Sonnensysteme an.
Der Weltseele Sang

Diese kosmische Dimensionierung und Phantastik mag heute befremdlich wirken, literaturgeschichtlich war sie kein Einzelfall. Ich denke zum Beispiel aus dem Kreis der "Kosmiker" vor allem an Alfred Mombert, der neben seinem juristischen Brotstudium auch philosophische und naturwissenschaftliche Studien getrieben hatte, wie Finsterlin stand er

unter dem Einfluß Nietzsches mit hymnisch-pathetischen, ekstatischen, [...] oft zyklisch ("symphonisch") komponierten Versdichtungen von großer Bildfülle um kosmische Visionen und mythische Gestalten. [Und er verband, Finsterlin durchaus vergleichbar, wenn auch in anderen Bezügen] in seiner mythischen Kosmologie gnostische Elemente, Seelenwanderungsvorstellungen und Visionen der schöpferischen Urkräfte in Geistes und Menschheitsgeschichte im materiellen wie im seelischen Bereich. [Wilpert]
Allerdings hat Finsterlins Wandlung zum Kosmiker ihre eigene Vorgeschichte, eine erste Sternstunde, die in der Literatur über ihn als Watzmannerlebnis zitiert wird und dem Architekturtraum um einige Monate vorausgeht. Finsterlin hat dieses Watzmannerlebnis rückblickend immer wieder mit den verwirrendsten Daten versehen und beschrieben. Heute nehmen wir mir großer Wahrscheinlichkeit als Datum den Herbst 1918 an, für den auch die Datierung der "Grotte" mit 1918 und ein eingebundenen Gedichtkonvolut sprechen, das "Schönau 18.12.18" datiert ist und vielleicht Helene Finsterlin als Weihnachtsgeschenk zugedacht war.

Ich gebe aus der Fülle der späteren Hinweise Finsterlins auf die Bedeutung des Watzmannerlebnisses drei Beispiele aus den 60er Jahren, das erste aus einem dreiseitigen Typoskript ohne Überschrift aber mit den bezeichnenden ersten Worten "Am Beginn meines bewußten Lebens".

Ein Verzweiflungsaufstieg auf den Watzmann bei Berchtesgaden in einer zauberhaften Frühlingsvollmondnacht. Die Erkenntnis meines Lebens unter der einen Firmenkuppel statt einer Katastrophe. - Wo der unabsehbare Teppich des Seins als Wissenschaft nicht erreichbar ist, bleibt nur der eigene Webstuhl. Und dieser Webstuhl unendlicher Combination, der Gottheit lebendiges Kleid, unendlicher Complexverbindungen, unendlichen Werdens, Vergehens, Veränderns ist allein menschlicher Kunst wert. Sinn und Ziel dieser Kunst, die in so seltenen Fällen, wenn überhaupt in historischer Zeit erfaßt und geübt ward, abgesehen vielleicht von altem fernöstlichem Weistum und alten Mythenschöpfungen - Kunst als Magie.---
Von diesem Zeitpunkt gab es für mich nur mehr eigenes Schaffen in Wort, Bild, Ton und Bau.
In zwei Vortragstyposkripten heißt es gleichlautend:
Auf dem Gipfel unter der ungeheuren Kuppel war mir die Erkenntnis, daß unter meiner eigenen Knochenkuppel eine Welt, ein Mikrokosmos lebt, der mir Antwort gibt auf jede Frage, durch den Zauberstab Idee und ihre Mittel, die Künste. - Folge, ein Autodafée [!] aller Lehrbücher und -Hefte, und eine sprudelnde Produktion in Malerei, Dichtung und Musik; erst später kam der Bau.
Schließlich heißt es in einer "Biographie in großen Zügen", die Finsterlin Interessierten schreibmaschinevervielfältigt zur Verfügung stellte:
Ein Vollmondgang auf den Watzmanngipfel brachte eine fast schicksalhafte Lösung und Erlösung. War mir alle analytische wie synthetische Wissenschaft nur ein winziges Ausschnitt aus einem unabsehbaren endlosen Teppich gewesen, so erschienen mir plötzlich die schöpferischen Künste als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung. Die Allmacht, die Urphänomene ins Unendliche, komponieren und variieren zu können, zeit- und raumlos gebundene Ereignisse bildhaft, klanglich oder wörtlich erstehen zu lassen in einem unbeschränkten grenzenlosen Spiel unter dem einzigen Gesetz einer lebensfähigen Bild-, Klang- und Wortorganisation eben der naturgesetzlichen Aesthetik sine qua non, die selbst den groteskesten Naturgebilden eignet, da hier jede Dissonanz, jede Übertreibung in die lebensfähige Balance rückt, in die übergeordnete Harmonie; war mir höchster Sinn des Lebens.
Es geht mir bei diesen Zitaten nicht um die Widersprüche sondern um das, was sie gemeinsam hervorheben. Und das sind

1. die Selbstfindung Finsterlins als Künster, der unter dem Eindruck des Gipfelerlebnisses
2. Kunst als Abglanz der gesamten Schöpfung noch in ihren groteskesten Ausfomungen begreift und
3. sein künftiges alle Kunstarten umfassendes Schaffen unter eine naturgesetzliche Ästhetik sine qua non stellen will.

Das klingt auch in den unmittelbar unter diesem Eindruck entstehenden Gedichten nach, die Finsterlin zunächst unter der Überschrift "Den Schöpfern des Schöpfers in Liebe" sammeln wollte, noch im gleichen Jahr aber "Der Weltseele Sang" überschrieb.

Ich gebe zwei Beispiele, ein erstes, das Finsterlin so wichtig war, daß er es als Motto auch seinem kurze Zeit später entstandenen Architektur-Essay "Der achte Tag" vorangestellt hat:

Da baut ein Wirbel sich mit tausend Köpfen
In ungemeßne Alle seinen Weg,
Karyatiden sieht man Hoffnung schöpfen,
Und Wolken tragen ihre Lasten weg.
Am Kreuzwegkreuze seligster Verklärung
Geschmiegt ins ewige Geleis
Der gegenwärtigsten Erhörung
Kreist frei das eigenste Geheiß.
Das zweite Gedicht ist in Anspielung auf die Sphärenmusik, die ja schon in der erotischen Idylle des "Höchsten Liedes" und im Szenarium "Die Grotte" eine Rolle spielte, "Musik der Kugeln" überschrieben:
O ihr lichten Charaktere
Die so prächtig um mich stehn,
Ach ihr überirdischen Chöre,
Daß ich lebe und Euch höre,
Ewig göttliches Versteh'n!
Meine Andacht ist unendlich
Wenn ich lausche Eurem Klang.
Doch der Meister wird Euch kenntlich
Und mein Wille Euch verständlich
Wenn die Gottheit in mich sprang.
Anmerkenswert zu diesem Gedicht ist vor allem, daß derselbe Finsterlin, der sich hier als "Meister" bezeichnet, in den "die Gottheit" springen wird oder könnte, was man mit Genie übersetzen darf, kurze Zeit später an anderer Stelle für sich den "Autodidaktismus" reklamiert mit der Begründung, der wahre Künstler könne "nur bei sich in die Schule gehen". Diese Verbindung von "Meister" und "Autodidakt", von Genie und Dilettant hat seither nicht nur das Gesamtwerk Finsterlins bestimmt, sie ordnet Finsterlin als Gesamtkünstler auch ein in eine Tradition, die sich - beginnend mit Doppelbegabungen wie Johann Heinrich Füssli, den jungen Goethe, Friedrich (Maler) Müller - seit Ende des 18. Jahrhunderts herschreibt.

Utopische Architektur und phantastischer Film

Finsterlins durch das Watzmannerlebnis ausgelöster, alle Kunstarten umfassender Schöpfungsrausch, in dessen Konsequenz wir uns auch den bereits erwähnten Architekturtraum und eine Fülle durch ihn ausgelöster Architekturzeichnungen denken müssen, brachte Finsterlin überraschend schnell in Kontakt mit einer Gruppe utopischer Architekten, deren Namen heute in keiner Architekturgeschichte fehlen dürfen. Und über diesen Kontakt wurde Finsterlin korrespondierendes Mitglied in einem legendären Briefwechsel und Schriftenaustausch, der heute unter dem Namen "Die Gläserne Kette" Kulturgeschichte ist. Was diesen Briefwechsel und Schriftenaustausch für das heutige Thema, das literarische Werk Finsterlin, interessant macht, ist dreierlei.

1. bietet dieser Brief- und Schriftenaustausch Finsterlin die Möglichkeit, seine schriftstellerischen Arbeiten unter Gleich- oder doch Ähnlichgesinnten bekannt zu machen und zu diskutieren. Dabei entstehen und kursieren nach den inzwischen in Berlin ausgestellten Architekturzeichnungen

2. jetzt auch die von diesen Zeichnungen nicht zu trennenden, sie theoretisch ergänzenden Architektur-Essays, unter Ihnen der schon genannte "Achte Tag".

3. kann Finsterlin in diesem Brief- und Schriftwechsel erstmals auch literarische Arbeiten, speziell seine Szenarien und Filmskripte vorstellen.

Zu meinem Film "Die Galoschen des Glücks" [schreibt z.B. Bruno Taut in einem Brief vom 2. September 1920] habe ich einige freudige Zustimmungen bekommen. Prometh [so der Deckname Finsterlins in der "Gläsernen Kette"] schickte mir in schönem Wechselspiel des Zufalls auch einen Film "Der Trotz des Heils". Er ist wundervoll phantastisch und stellt an den Filmapparat die denkbar höchsten Forderungen. Viele Szenen sind mir als Bilder haften geblieben; doch fürchte ich sehr bei der Vorführung eine Ermüdung in der allzu großen Häufung der Phantastik. Was aber sehr gefährlich ist, das scheint mir das Hineintragen einer großen Idee in den Film zu sein, der doch immer bloß ein technisches Möbel und ein Flimmerkasten bleibt.
Dieses Kapitel Filmgeschichte, in dem Architektur und Film eine Ehe auf Zeit eingehen, muß noch geschrieben werden. Ein Aufsatz von H. de Fries über "Raumgestaltung im Film" im 5. Jahrgang von "Wasmuths Monatshefte[n] für Baukunst" (1920/1921), den auch Finsterlin sich aufgehoben hat, deutet die Richtung an, in der hier gefragt werden müßte.

De Fries' Überlegungen sind für den filmgeschichtlichen Beitrag der "Gläsernen Kette", speziell für Finsterlins Szenarien und Filmskripte schon deshalb von Bedeutung, weil sie sich auf Filme "des unwirklichen Daseins" konzentrieren, auf "Traumphantasien, phantastische Vorgänge", die "in ferne Vergangenheit" (Golem) oder in ferne Zukunft (Algol) verlegt" sind. Oder "das menschliche Gehirn" sehe, "durch irgendwelche Erschütterungen bestimmter Hemmungen beraubt, [...] seelische Vorgänge plastisch in so starker Bildkraft vor sich, daß das wirkliche Dasein dagegen" verblasse "und die Fiktion seine Stelle" einnehme.

In allen diesen Handlungen ist Menschliches irgendwie über seine Grenzen gerissen und den eigenen Phantomen ausgeliefert. Und es ist die höchst bedeutsame Eigenart des Films, daß er auf die Klarstellung seelischer Vorgänge durch den auf der Sprechbühne üblichen Wortdialog fast vollkommen Verzicht leisten muß, (...) und daß sich seelische Vorgänge bei ihm völlig in sinnlich greifbare Bilder umsetzen müssen. Bilder, die eigentlich wieder keine Bilder sind, da sie nicht ein Sein umschließen, sondern eine Handlung: Bilder, die aufgehört haben, ein Momentanes in Fläche für Dauer festzuhalten, sondern die eine Folge von Momenten im Raum für kurze Zeit aufzeigen sollen. Bilder, die keine Bilder mehr sind, sondern Raum, der lebendiges Geschehen umschließt.
Von besonderem Interesse für Finsterlin und die "Gläserne Kette" dürften dabei die Hinweise auf den "Algol"- und dem "Golem"-Film gewesen sein, auf ersteren, weil er "zum Teil auf jenem fernen Stern Paul Scheerbartscher Erfindung" spielt, "der in neuerer Zeit zu allerhand künstlerischen und literarischen Versuchen herhalten muß", auf letzteren, weil seine Räume nicht von einem Maler, wie im ersten Fall, sondern von dem Architekten Hans Poelzig unter Assistenz der Bildhauerin Moeschke "aufgebaut und durchgebildet" wurden. Dadurch werde, anders als bei Malern, für die der Raum ein Zusammenstellen von Flächen sei, Raum zur "plastischen Masse, von der im Modelliervorgang zu- und abgenommen werden" könne. Besonders hervorhebenswert ist de Fries dabei die "abgebrochene Spirale der Decke" und Poelzigs Absicht, "eine Art jüdische Gotik zu schaffen".

Man kann Finsterlins Szenarien und Filmskripte, die ich im einzelnen hier nicht vorstellen kann, in Sinne de Fries' als "phantastische Vorgänge" begreifen, die zu seinen im Bild 'erstarrten' Architektur-Phantasien gleichsam das Spiel liefern. Denn es ist nicht zu übersehen, daß diese auf der einen Seite anthropomorphe Architektur sein können, daß auf der anderen Seite Finsterlin seine Architekturen gelegentlich durchaus mit Figuren belebt hat. Man kann Finsterlins Szenarien und Filmskripte aber auch - und wiederum in Sinne de Fries' - als Umsetzung "seelischer Vorgänge [...] in sinnlich greifbare Bilder verstehen, "die eigentlich wieder keine Bilder sind, da sie [...] eine Handlung" umschließen, "Bilder [...], die eine Folge von Momenten im Raum für kurze Zeit aufzeigen." Bis an die Grenze der Phantasmagorie verlagern sie ins phantastische Spiel auch, was ihn [Finsterlin] umtreibt, sind sie phantastischer Film ebenso wie Projektionen Finsterlinscher Phantasie. Wenn Bruno Taut "eine Ermüdung in der allzugroßen Häufung der Phantastik" befürchtet, ist dies vom Standpunkt des Rezipienten durchaus legitim, für das Selbstverständnis Finsterlins aber sekundär. Denn was sich zunächst in die Architekturzeichnungen, dann in die Essays, jetzt in den phantastischen Film ergießt und bald danach auch in kosmisch-komischen Gedichten formulieren wird, könnte man ohne jede Ironie als ein Durchbrennen aller Sicherungen bezeichnen, als eine kaum noch zu steuernde Entladung von etwas, das sich seit den ersten künstlerischen Gehversuchen des nicht einmal Zwanzigjährigen in einer jahrelangen Sinnsuche, in einer Folge ständigen Scheiterns angestaut hatte und jetzt plötzlich die Kanäle fand, herauszutreten in einen Freundekreis, der diese Eruptionen ernst nahm.

Alfred Brust, Paul Scheerbart und ein Dadaistisches Zwischenspiel

Es gibt aber noch ein Viertes, das den Briefwechsel und Schriftenaustausch der "Gläsernen Kette" für das heutige Thema, das literarische Werk Finsterlins, interessant macht. So lernt Finsterlin zunächst als korrespondierendes Mitglied, dann auch persönlich den Schriftsteller Alfred Brust kennen, der übrigens der "Gläsernen Kette" zu ihrem Namen verhalf. Zweitens wurde Finsterlin in und über die Korrespondenz der "Gläsernen Kette", auch wenn er es später herunterzuspielen versucht, ja sogar bestritten hat, mit der Gedankenwelt und dem Werk Paul Scheerbarts vertraut. So befand sich in seiner nachgelassenen Bibliothek Paul Scheerbarths "Seelenroman" "Liwûna und Kaidôh", konnte er in der von Bruno Taut herausgegebenen Zeitschrift "Frühlicht" Scheerbarths "Glashausbriefe", den "Architekturkongreß" und den "Tortenstern" nachlesen (letzterer übrigens aus "Liwûna und Kaidôh"), und er stieß im utopischen Briefwechsel der "Gläsernen Kette" auf eine Permutation Scheerbarths:

Im Stil ist das Spiel das Ziel
Im Spiel ist das Ziel der Stil
Am Ziel ist das Spiel der Stil.
Bruno Taut hatte diese Permutation am 1. Januar 1920 zitiert. Und Finsterlin hat sich am 3. Februar 1920 ausdrücklich dazu bekannt:
Auch mein Stil und mein Ziel ist das Spiel.
Aus dem Brief- und Schriftenwechsel der "Gläsernen Kette" wußte Finsterlin ferner von den abstrakten Filmversuchen Hans Richters und Viktor Eggelings und nicht nur dort, sondern auch im "Frühlicht" ist ihm der MERZgesamtkünstler Kurt Schwitters begegnet. Finsterlin kann kaum überlesen haben, daß der Architekt Carl Krayl am 15.7.1920 den Dadaismus "eine Reaktionserscheinung aus Zivilisationsüberdruß" genannt und ihn "den vielen Ideenkomplexen einer Übergangszeit" zugerechnet hatte. Und Finsterlin hat es auch nicht überlesen, denn in seiner Bibliothek befanden sich nicht nur Schwitters' "Anna Blume" von 1919, sondern auch Hans Arps "die wolkenpumpe", Walter Serners "manifest dada", "letzte lockerung" und Richard Huelsenbecks "Geschichte des Dadaismus", "En avant dada", alle von 1920. Ferner: einzelne Nummern der "Freien Straße", die Zeitschrift "dada" sowie eine Anzahl Flugblätter, den selbsternannten Oberdada Baader betreffend. Und da ich gerade beim Aufzählen bin: fanden sich im Nachlaß ferner Gedichte August Stramms, der Katalog des "Ersten deutschen Herbstsalons" und Herwarth Waldens damals vielbeachteter Essay "Die neue Malerei", die in Abbildung und Text Finsterlins Kenntnisse aktueller Kunst und Literatur auch in Richtung des Sturm-Kreises erweiterten.

Ich erspare Ihnen und mir weitere Namen und fasse zusammen, daß Finsterlin, entgegen seinen hartnäckigen Behauptungen sehr wohl wußte, was damals um ihn herum künstlerisch geschah. Eine andere Frage ist, ob es ihn interessiert hat, und hier gibt es mindestens zwei verblüffende Entdeckungen zu machen.

Die erste ist ein kleine Gruppe von Gedichten Arthur Rimbauds, die sich Finsterlin von Hand abgeschrieben hat, darunter die berühmten alchimistischen "Selbst-Laute" oder "Vokale" ["Voyelles"], die in der Übersetzung von Walter Küchler beginnen

A schwarz, E weiß, I rot, Ü grün, O blau: Vokale,
Einst künd ich den verborgnen Grund, dem ihr entstiegen
Es ist keine Frage, daß wesentlich dieses Gedicht Rimbauds die zahlreichen Farbengedichte Hermann Finsterlin wenigstens (mit)angeregt hat.

Die zweite Entdeckung ist noch verblüffender. Finsterlin hat nämlich "die wolkenpumpe" Hans Arps regelrecht durchgearbeitet und exzerpiert, darunter den Text:

nie hat er den schweißbrüchigen bergwald
durch schwarz harz steigen empor und sind leise in feinen lufttreppen in stengeln
in der eisernen rüstung des vogels dreht sich das kind über feuerroter troika
noch die leichen der engel mit goldenen eggen geeggt
noch sie büsche mit brennenden vögeln getränkt
noch auf wachsschlitten über das gärende sommereis gefahren
noch vorhänge aus schwarzen fischen zugezogen
noch in kleinen gläsern luft in die kastelle getragen
noch vögel aus wasser gestrickt
geschweige auf stelzen über die wolken
geschweige auf säulen über die meere
Finsterlin hat aber diesen Text nicht nur exzerpiert, er hat ihn auch in mehreren Reduktionsschritten unter Preisgabe der Anspielung auf die Dürersche Apokalypse, in zwei Zeilen komprimiert:
In der eisernen Rüstung des Vogels dreht sich das Kind über feuerroter Troika.
Die Büsche mit brennenden Vögeln getränkt und auf Wachsschlitten über das gärende Sommereis gefahren.
Extrem reduziert ist auch der für das Verständnis der "wolkenpumpe" zentrale Text "noch ist hier der minotaurus koloß schoß der efi bilindi klirr kümmeltürkulum [...]". Kaum ein Sechstel von ihm bleibt im Finsterlinschen Exzerpt übrig, läßt aber am schnellsten ablesen, was Finsterlin außer der instabilen verrückten Textwelt an der "wolkenpumpe" am meisten gereizt hat: ihrer kosmische Dimensionierung und spezielle Formulierungen wie "schwarze raumkugel" oder "der geistige leib":
Die schwarze Raumkugel zerlegt sich in ihre Inhalte.
Und der Schellenvogel kommt nackicht hervor.
Imprudentia, welche die fata morgana mit Papageienstaub salbet.
Mit Kerben im geistigen Leib tapeziert
Finsterlin, der immer wieder erklärt hat, nicht gewußt zu haben, was außerhalb seiner selbstgewählten Bergeinsamkeit "gemalt und gebaut, musiziert und gedichtet wurde", der bis zu seiner "Übersiedlung nach Stuttgart" nicht einmal gewußt haben will, "daß andre auch gegenstandlos malen", muß sich also korrigieren lassen. Denn im Falle der "wolkenpumpe" sind sekundäre Einflüsse nachweisbar über die Exzerpte hinaus bis in die Gedichtsammlung "Der schwarze Herrgott" aus dem Jahre 1922/23, die Finsterlin im Untertitel als "Beiträge zum Komisch Kosmischen. Ereignisse und Zustände" auswies: eine Sammlung von Unsinnsgedichten, die in ihren instabilen Textwelten fraglos von Arps "wolkenpumpe" angeregt wurden, wenn sie auch diese nicht imitieren. Finsterlins Beitrag zu einer recht verstandenen Unsinnspoesie bleibt so eigenständig und unverwechselbar wie sein anderes nicht nur literarisches Werk, von dem es aber nicht zu trennen ist.

Gerne gehen Finsterlins komisch-kosmische Gedichte dabei von einem Wortspiel, einer Wortneubildung aus, die assoziativ unsinnig weitergesponnen wird:

Neidhammelsraguwamsa wird stets länger -
Weißpfauenaugenweidenrutengänger,
Blutlaububenstückwerkbundschuhlöffelgans
In einer ausgeschloffnen Puppe fand's.
Was so ein Sonnenstäubchen alles, alles
zu leidesumweg' bringt, du glaubst es kaum,
Des Saltomortatellereisenbartscheidewasserfalles
Urelement ist mehr, als schwarzen Herrgotts Traum.
Obwohl Finsterlin dieses Gedicht aus der endgültigen Auswahl des "Schwarzen Herrgott" von 1925 aufgenommen hat, ist es besonders geeignet zu zeigen, wie sich diese Texte oft Wort für Wort hervorspinnen, wie sich ihre Wörter aus den Wörtern in semantischen Kobolz- und Bockspüngen herausbilden. Und das Gedicht zeigt zugleich, daß es problematisch werden kann dort, wo sich Bedeutungen einstellen, wo sich z.B. ein "zuleidetun", "zuwegebringen" und "umbringen" kontaminieren zu "zu leidesumweg bringen". Auch sind im Gegensatz zu den sich in ihrer Semantik auflösenden langen Wortketten die Wörter "Sonnenstäubchen", "schwarzer Herrgott" und "Urelement durchaus ernst gemeint, identifizierbar und interpretierbar wie die malerisch-inhaltlichen Ausdeutungen der zunächst bedeutungsfreien Farb- und Linieninspirationen im malerischen Werk. Nur dort, wo Finsterlins Gedichte schwereloses Spiel werden oder bleiben, Spiel, das nichts bedeutet außer sich selbst, erreichen sie die Leichtigkeit der freien Aquarelle, was nicht ausschließt, daß Ehefrau und Nahrungsfragen in das freie Spiel mit hineingezogen werden.
Zwischen der Rolle und dem Mops
Verkehren elf Teslaströme,
hips hips - hops hops
Bubu -
Ein Sigma stiehlt den Erdenklops
Maskiert ihn als ein Gottesops -
Helene ach Helene
Was sagst denn du dazu?
Ein frischer Frosch, gewickelt in
Ein Kuiai, Marke Fridolin,
Fühlt sich nicht ganz behäglich,
(Das ist auch gar nicht möglich) -
O spiele nicht mit Gries - gewehr
Der Reis ist Dir zuträglicher,
Frag nur das Pipsevöglich.
Der Teigaff schwänzt inzwischen frech
Die Schule des Abemmilech,
Ubi moloch? Erbärmilich -
Mir wird vor Milch ganz wärmelich,
Den Popo hat die Bettelfrau
Vor Piper und Papaver blau -
Sunt aries taurus, gemini cancer leo virgo.
Daß Finsterlin diesen "Beitrag zum komisch Kosmischen", der am Schluß noch die Tierkreiszeichen vom Widder bis zur Jungfrau lateinisch herzählt und damit vermutlich Ovids berühmtes Diktum "Ut desint vires, tamen es laudanda voluntas" (= auch wenn die Kräfte fehlen, ist der Wille zu loben) parodiert, daß Finsterlin einen solchen Unsinn dennoch ernst nahm, läßt sich schon damit belegen, daß er dieses Gedicht neben anderen in den 50er Jahre ins Französische übersetzen ließ. Darüber hinaus ist eine solche Nähe, ja Verbindung von Sinn und Unsinn - bei unterschiedlichem Gelingen - durchaus ein Wasserzeichen nicht nur des literarischen Werkes von Finsterlin.

Gesammelte Werke

Ich sagte einleitend, daß Hermann Finsterlin zweimal einen Anlauf unternommen habe, sein Werk zu ordnen, das erste Mal um 1911, ein zweites Mal Mitte der 20er Jahre. Dieser zweite Anlauf steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Erscheinen einer Finsterlin-Nummer der holländischen Architekturzeitschrift "Wendigen" zu Beginn des Jahres 1924 und einer Ausstellung von Architekturen und Aquarellen im Kunstzaal d'Audretsch in den Haag, Februar 1925. Sondernummer und Ausstellung haben nämlich Finsterlin nicht nur ein weiteres Mal zu einer Fülle reicher Architekturzeichnungen und Aquarelle angeregt, sie haben ihn auch veranlaßt, alles seit dem Watzmannerlebnis Geschriebene zu sammeln und zu sichten, abzuschreiben, vervielfältigen und binden zu lassen. 1925/1926 ist diese Arbeit weitgehend abgeschlossen. Sie erfaßt in ihrem Ergebnis einen Band mit architektonischen Essays, einen Band mit kulturphilosophisch-zivilisationskritischen Essays, in den, auffällig, auch "Das Höchste Lied" aufgenommen wurde, und einen Band mit Gedichten und Szenarien, für den Finsterlin der Titel "Der Schwarze Herrgott" übernimmt.

Ich vernachlässige die beiden Essaybände und konzentriere mich auf den Sammelband mit den Szenarien und Gedichten. Wie die Architektur- und kuturphilosophisch-zivilisationskritischen Essays mit Ausnahme des "Höchsten Liedes" umfassen auch die gesammelten Gedichte und Szenarien die Jahre 1918 bis 1825. In "Der schwarze Herrgott" hat Finsterlin jedoch anders als bei den Essays, bei den Gedichten eine Auswahl getroffen, die etwa ein Drittel aller zwischen 1918 und 1925 geschriebenen Gedichte umfaßt. Ausgewählt sowohl aus den kosmisch pathetischen Gedichten "Der Weltseele Sang" wie aus den komisch kosmischen Gedichten des "Schwarzen Herrgott" von 1922/23, weshalb Finsterlin jetzt auch den Untertitel "Beiträge zum komisch Kosmischen" von 1922/23 fallen lassen muß.

Zumindest für den Sammelband der Gedichte und Szenarien läßt sich ferner belegen, daß Finsterlin die mit Schreibmaschine vervielfältigten Texte mehrfach hat einbinden lassen, bei allerdings anderer Textfolge. Da diese geänderten Textfolgen keinen ersichtlich inhaltlichen Grund haben, im Gegenteil im Falle der Szenarien aber sonst Zusammengehöriges trennen, ist zu fragen, ob es sich hier um Flüchtigkeiten beim Zusammentragen der Texte handelt oder ob Finsterlin bei der Zusammenstellung dem Zufall freie Hand ließ. Für Flüchtigkeiten spräche, daß auch die "Lieder des Pan" 1964 Texte mehrfach wiedergeben.

Wichtiger noch als die Beantwortung dieser Frage ist die Tatsache der mehrfachen Einbände, denn sie signalisiert, daß Finsterlin bei seinen Zusammenstellungen durchaus an eine wenn auch kleine Auflage dachte, wie er auch später seine maschinenschriftlich vervielfältigten Gedichte in wechselnden Zusammenstellungen an seine Freunde zu verschenken pflegte.

Wie wichtig Finsterlin diese Zusammenstellungen waren, für die sich offensichtlich kein Verleger finden ließ, verraten die Maquetten, mit denen er die Einbände der Architektur-Essays und des "Schwarzen Herrgotts" schmückte. Weitere Einbandentwürfe aus derselben Zeit deuten auf ernsthaftes Anliegen, wobei besonders ein Entwurf hervorgehoben werden muß, der den programmatischen Titel "Das Buch" trägt. Er ließe die Deutung zu, daß Finsterlin im Rahmen seiner künstlerischen Hervorbringungen alle seine Texte als sein Buch, eben "Das Buch" verstanden wissen wollte. Darüber hinaus weist der Titel aber noch einmal zurück auf die "Gläserne Kette", in deren Briefwechsel mehrfach von dem Buch als einem Ziel die Rede ist. Was sich in seiner religiösen Dimensionierung erst ganz erschließt, wenn man hinzufügt, daß Bruno Taut die zwölf Mitglieder der "Gläsernen Kette" als Apostel, sich selbst als Christus dachte, was seine historische Parallele dann bei den Frühromantikern (vor allem bei Novalis und Friedrich Schlegel) finden würde, eine Traditionslinie, die ich hier nicht weiter verfolgen kann.

Postscriptum

Im Grunde genommen bin ich damit am Ende meines Überblicks über das literarische Werk Finsterlins angekommen. Neues hat sich seit den Gesammelten Werken Mitte der 20er Jahre kaum hinzugesellt. Was hinzukam, war Ergänzung oder Fortführung oder - musikalisch gesprochen - tema con variazione.

So wie die architektonischen Baukästen und Spiele schon vor 1924 den Architektur-Essays, den Architekturzeichnungen und Aquarellen spielerisch zur Seite treten, hat Finsterlin zu seinen anspruchsvollen Szenarien und Filmskripten einfachere Spiele erfunden und mit seinen Kindern gespielt, Spiele, die spätestens 1928 zur Ausstellung im Stuttgarter Landesgewerbemuseum vorlagen. Eines von ihnen habe ich bei der Eröffnung dieser Ausstellung im September letzten Jahres vorgestellt. Es wird, zusammen mit anderen bei unserer nächsten, dem Spielzeug Finsterlins gewidmeten Ausstellung noch einmal diskutiert werden müssen. Das einzige, was in meinem Überblick noch fehlt, wären die Aphorismen, die Finsterlin im Umfeld seiner Gesammelten Werke in einem ersten Anlauf, aber ohne Ergebnis zu ordnen versuchte. Erst in den 50er Jahren findet sich dann eine mit "1922 - 27" datierte "Auswahl", ein Konvolut von mit verschiedenen Maschinen zur verschiedenen Zeiten geschriebenen Typoskripten, meist als Durchschlag, deren Abschriften und Abfolge wiederholte Ordnungsversuche ablesen lassen, wobei der ein oder andere Aphorismus in verschiedenen Kontexten, z.T. in geänderter Fassung auftreten können. Hier ist also erst einmal Klarheit zu schaffen. Damit die Aphorismen in meinem Überblick aber nicht gänzlich fehlen, schließe ich einfach mit ein paar Beispielen und zitiere:

Der Irrtum ist ein Bestandteil des All.
Wo der Mensch das Wort Zweck in den Mund nimmt ist es stets ein Zeichen, daß er mit etwas nicht fertig geworden ist.
Der Mensch denkt und irrt immer, das Tier weiß und irrt manchmal.
Es gibt nur ein Verbrechen in der Welt: "Gewalt".
Ich teile die Menschen ein in Sadisten, Masochisten und Hedonisten, die letzteren sind die einzig Diskutablen.
Es gibt Gazellen und Mastschweine.
Geschichte ist das kläglichste von der Welt; sie besteht tatsächlich nur aus Namen.
[Schömberg 5.1.2000. Vortrag anläßlich der Gründung der Hermann Finsterlin Gesellschaft e.V.]


Vgl. zum literarischen Werk Hermann Finsterlins ferner:
Friedrich Carl Lamprecht: Um Phantasie zu werben bin ich da! Versuch einer Würdigung des Dichters Hermann Finsterlin [1950/1964]
Franz Sepp Würtemberger: Hermann Finsterlin [1973]
Dieter E. Hülle: Zur Lyrik Hermann Finsterlins [1987]
Reinhard Döhl in: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung [1988]