"Wenn Ihr nicht redet, werden die Steine schreien" - an dieses apokryphe Christuswort muß man denken, wenn man das elementare Bestreben der jüngsten Weltliteratur quasi am eigenen Leibe erfährt, die Menschheit durch sich selbst zu fesseln, sie mit sich selbst zu peinigen, - ja die Steine gleichsam zum Schreiben zu bringen wider diese monströse Selbstverfehlung der Erde. Die schöne Beruhigungsliteratur, wie Ernst Kreuder das nennt, verblaßt vor der Wacht [sic] dieser lapidaren Zeugnisse, dieser Portraits von Taten einer Welt, wie wir sie schufen. "Wir haben diese Erde zu einem scheußlichen Orte gemacht", heißt es in einem amerikanischen Kirchenliede. Dess' wird man inne, wenn man einen Thomas Wolfe das Leben aufreißen sieht zu unmenschlichen Perspektiven der Willkür, oder wenn man William Faulkners peinigende Enthüllungen der menschlichen Hintergründe erfährt. Es mehren sich die Stimmen der letzten Verzweiflung am Menschen: Sartre, Powys, Plivier, Silone, Langässer, um nur einige wenige zu nennen.Selbst ein positiver Geist wie Ernst Kreuder weicht diesen Themen nicht aus, wenn er Auswege aus Verhängnis und Verfahrenheit sucht.
Wir aber haben uns hier mit einem Dichter zu befassen, der nicht wie diese alle von unten herauf sein de profundis schrie, sondern aus einer für uns heute geradezu unfaßlichen Distanz die gleichen Töne findet: "Das gab es sicher nicht auf andern Welten, eh nicht der Teufel dein Geselle war...", aus einer Distanz aber auch, die die Steine zum Singen bringt, um dies gleich vorweg zu nehmen, daß Hermann Finsterlin uns nicht nur die letzte Illusion über unsere abendländische Kultur zu nehmen, sondern vielmehr das wieder zu geben bereit ist, was wir alle inzwischen verloren haben.
Es mutet geradezu mythisch an, wenn wir erfahren, daß Finsterlin mit Ernst Haeckel befreundet war, dessen Werk "Kristallseele" er mit seinen Bildern begleitet hat, und es muß hier nebenbei bemerkt werden, daß man dem apokryphen Dichter auch als Maler und Architekt zu begegnen vermag (Würdigung seiner Malerei in "Kunstbladed" Amsterdam von J. Begeer und in "Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts" von Prof. Hans Hildebrand, sowie in der Architekturzeitschrift "De Wendinge" Holland 1923, Sonderheft dem futuren Architekturwerk Finsterlins gewidmet). Nach dem ersten Weltkriege wurde er auf Grund einer utopischen Architekturausstellung in Berlin in den Arbeitsrat für Kunst dortselbst berufen und arbeitete er in freundschaftlichem Ideenaustausch mit Gropius, Taut, Erich Mendelsohn, Alfred Brust und anderen an der Neugestaltung des gesamtkünstlerischen Schaffens, bis endlich die beispiellose geistige Erschlossenheit der Nachkriegsjahre wieder unaufhaltsamer Erstarrung wich und die moderne Kunst sehr bald in das Exil genötigt wurde. Nach einer nochmaligen, aber nur kurzen öffentlichen Periode unter der Förderung Redslobs, Pazaureks und von Kunowskis lebt der Dichter seither in völliger Zurückgezogenheit in Stuttgart seinem stets unbeeinflußt gebliebenen Schaffen.
Als Freund Haeckels ist Finsterlin als Kind der großen realistischen Wende der Menschheit gekennzeichnet, das aber völlig andere Wege geht und den allgemeinen Fortschrittsoptimismus seiner Zeitgenossen nicht zu teilen vermag. 1887 in München geboren, konnte er in langjährigen universalwissenschaftlichen, künstlerischen und philosophischen Studien die Grundlage zu einem geradezu enzyklopädischen Wissen legen, das ihm aber nie Selbstzweck war, sondern nur die Ausdrucksmittel für eine beispiellose Intuition heranbildete. Was er zu sagen hat, ist mehr als Kritik oder Begleitmusik zu diesem Theatrum mundi, das die Menschheit sich selbst inszeniert. Weshalb blieb er apokryph, und was ist das für ein Unterfangen, heute solche Tote aus der Vergangenheit hervorzuholen? Aber er lebt ja noch unter uns und zwar als einer der ganz wenigen, die die von uns rasch durcheilten Zeiten wirklich überblicken und nicht fortgerissen wurden, wie die meisten von falscher Aktualität Bedrohten. Mußten denn erst die Steinerweicher mit der Stimme der Verdammnis kommen, ehe die Zeit einen Finsterlin zu hören vermag, der seine Gesichte trotz aller Unerbittlichkeit der Aussagen in so milder distanzierter Art zu geben weiß. Selbst wenn er mit eindringlichem Memento sein Werk beginnt: "Es sind nicht die ewigen Mächte, es sind nicht die Gestirne und nicht die Schicksalsgewalten, - es ist allein der Mensch, der sein Verhängnis schuf und schafft - bedenke es selbst". Hier erscheint Finsterlin als letzter Repräsentant einer Tradition des freien Menschentums, die in mittelalterlicher Enge souverän mit einem Meister Eckhart begann, die in Amerika in dem Weltbewußtsein und der Lebensart eines Walt Whitman sich befreite, die in Europa mit dem Personalismus und Individualismus eines Max Stirner alle dualistische Philosophie ad absurdum führte, und politisch gegenüber Asien und Amerika noch des endgültigen Ausdrucks eines modern europäischen Lebensgefühls harrt.
In grandiosen Weltanschauungsbildern ergreift er die Schlacken des Menschheitsgeschehens und schmilzt sie ins Nichts zurück, diese müde abendländische Kultur, die wie ein fossiler Panzer das Leben hemmt, und siehe da, der Mensch erscheint ewig ursprünglich und zu neuen Anfängen wieder fähig. Über der Anklageschrift des menschlichen Prozesses erhebt sich in beispielloser Fülle und Freiheit seine eigentliche Schöpfung und sein Ruf dringt in die verarmte Welt: Um Phantasie zu werben, bin ich da! Mit Versanfängen wie: "Das Unsagbare, ist das einzig Wahre", oder: "Was dauern will, muß eigensinnig sein", sind Bereich und Art gegeben. In Tausenden von Gedichten, deren Inhalt - o Wunder - sich nicht wiederholt, vom Sinn- und Lehrgedicht des Philosophen Finsterlin an, durch seine reine Lyrik; die Gedankenlyrik, über die Grotesken, Proteogrotesken und Hyperballaden bis in die kosmischen Gedichte und Abstraktionen bewegt man sich in den leid- und hemmungslosen Reichen der Seele frei bis in die unendlichen Möglichkeiten kosmischen Geschehens. Phantastisch? - lebensfremd? - utopisch? - weltfern? - Meinethalben - aber wer im Leben für das Leben wirklich wirken will, muß über dem Leben stehen können irgendwie und irgendwo! Ein solches Irgendwie hat in kosmischer Weisheit die Dichtung Hermann Finsterlins vor uns hingezaubert, und sei es nur zur Freude am reinen Spiel.
Vgl. zum literarischen
Werk Hermann Finsterlins ferner:
Franz Sepp Würtemberger:
Hermann
Finsterlin [1973]
Dieter E. Hülle: Zur
Lyrik Hermann Finsterlins [1987]
Reinhard Döhl: Dichtung
als Spiel. Versuch über das literarische Werk Finsterlins. [2000]