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Dieter E. Hülle | Zur Lyrik Hermann Finsterlins

Vermutlich gerieten selbst ausgepichte Literatur-Fans in gelinde Verlegenheit, wenn man sie fragte, welcher Lyriker unseres Jahrhunderts sinnt, ob Tang so schmecken müsse, daß sogar der Mustang ihn nicht mag - eher noch Tangotänzer, die aus Tanger kommen; wer Schälmchen aus dem Schalm-ei schlüpfen läßt, die sich zudem noch zu Schelmen weiterentwickeln: wer ein trojanisch Steckenpferd reitet; Aqui-Pagen zähmt; eine Modeteemotette singen, das Osterlama träumen macht; bei wem ein Pelikahn umkippt; wer Mädimatik treibt, mit Sinus und Cosinus - die Liste artig-unartiger Wort- und Gedankenspiele ließe sich nahezu beliebig ausdehnen.

Wenn der Frager jedoch - nach peinlich-leerer Pause womöglich - sein "Aber nichts einfacher als dies - Hermann Finsterlin natürlich" - hinwürfe, so hätte er mit dieser Scheinüberlegenheit arg unrecht.

Das literarische Œuvre Finsterlins nämlich ist leider sehr unzugänglich geworden. Gängige Nachschlagewerke berücksichtigen ihn in dieser Hinsicht gar nicht, und wer gar zu den Quellen gelangen will, muß in Antiquariaten nachfragen. Das ist zu bedauern. Denn Finsterlins Lyrik kommentiert sein Bildnerisches Werk - und vice versa. Hier wie dort überschreitet Hermann Finsterin Grenzen, und er tut dies ausdrücklich.

Ich bin ein illegaler
Grenzgänger in der Welt.
Ich bin ein Surrealer,
Und geh, wo's mir gefällt.
Das ist sein Thema. Über Grenzen gehen. Illegal, wenn's sein muß. Ohne Paß und gestempeltes Visum. Wobei allerdings gleich nachzufragen wäre, ob denn nicht vielmehr die Grenzen illegal sind, über die Hermann Finsterlin geht.

Wie immer auch. Seine Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten, basiert auf solider Grundlage: der Architekt, Maler, Schriftsteller Hermann Finsterlin hat Naturwissenschaften studiert, war befreundet mit dem Naturphiloscphen Erich Haeckel, hat Physik gehört bei Röntgen, Chemie bei Bayer, hat sich mit Kristallographie beschäftigt, hat dreidimensionale Körper im Modell gebaut.

So darf es uns nicht wundern, - daß er in seiner Lyrik beispielsweise die Grenze überschreitet zwischen naturwissenschaftlicher Welt und Märchenwelt

Türm mal in den Turmalin
Quickes Elflein der Kristalle,
Warum gingst Du in die Falte
Der verruchten Zauberin?
- daß er in seiner "Astrologie" die hübschesten Sternbilder erfindet
Die Brücke und das goldne Rad
Den Sattel und die Gabelsaat,
Den blauen Anker, die Gelenke,
Die Syrinx und den gelben Schirm,
Den Pfau mit seiner Augenränke
Und die Libelle im Getürm,
Die Weltenkurbel mit den Ratten,
Den heißen Igel tief im Buch,
Die Sternkoralle mit dem Schatten,
Die Schnecke und das Gammatuch
- daß er mit chemischen Grundstoffen Verwandlungs- und Sprachkünste treibt
Ich bin eine seltene Erde
Und heiße Iridium,
Man glaubt daß ich noch was werde
Und wandelt mich um und um.
Das irritiert mich gewaltig,
Ich heiße jetzt En-Ars,
Und bin stark eisenhalt
Und tanze im Blut des Mars.
- daß er eine galante biologische Metamorphose beschreibt
Ich seh's an Deiner Nackenlinie,
Du bist geboren als ein Saum,
Wahrscheinlich warst Du eine Pinie,
Und ich ein Philodendrontraum.
Dazu paßt, was André Breton, Chefdenker der Surrealisten, in den 20er Jahren so formulierte: "Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die überlegene Wirklichkeit gewisser bisher vernachlässigter
Assoziationsformen, an die Allmacht des Traums, an das selbstlose Spiel der Gedanken."

Das über die Genze des Realen gehen - das hat Hermann Finsterlin stets gereizt:

WAS etwas ist, das ist mir gar nicht wichtig,
Die Wolke, die mir vorkommt wie ein Berg,
Die IST mir Berg, und so ist sie mir richtig.
Denn beide sind ja Gottes Werk.
So wird ein kleines Mädel zur Prinzessin,
Ein kleiner Taumel zum Elysium fast,
So liebt der Alchimist sein Gold im Messing,
Und Don Quixote die Höhle als Palast.
Kühner Grenzgänger ist Hermann Finsterlin auch in seiner Abwägung von Gut und Böse, in seinem Gottesbegriff:
Gott ist das unausdenkbar beste Gute,
Gott ist die Bösheit, unausdenkbar groß,
Gott ist die Liebe, sie liegt ihm im Blute,
Sein Haß steht wie ein rhodischer Koloß
Auf einer Welt voll hassenswerten Dingen.
Nur so kann er der Schöpfung Waage halten,
Sich aus dem Chaos königlich entfalten,
Und sein Verschiedenes in Einklang bringen.
Nicht Gut oder Böse, nicht Liebe oder Haß, sondern Gut und Böse, Liebe und Haß also - nie Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch: Das ist Hermann Finsterlins Credo.

Hermann Finsterlins Lyrik wieder zugänglich zu machen, pendelnd zwischen sprudelndem Nonsens und erhabenster Gedanken-Lyrik, wäre rühmenswerte Verlegertätigkeit. Anlaß hierzu böte das Finsterin-Jahr 1987. Wiederzuentdecken wäre

Der Seismo-Graf
Es brodelt in mir ein Vulkan,
In jedem Augenblicke kann er platzen,
In meinem Innern lauern tausend Katzen
Auf irgend einen Wahn.
Ich weiß nicht, wie er sich befreit,
In einem Fresco, farbenprächtig?
In Symphonien, Epen, mächtig?
In Degenwirbeln, todbereit?
In heißer Jagd auf Daphne's Fuß?
In wildem Ritt durch öde Steppen?
Kann solch' Dynamo noch verebben
Eh' er total verbrennen muß?
Der Kraftstrom ist verebbt, der Dynamo ausgebrannt - sein Werk jedoch wirkt weiter, seine Bilder, seine Verse. Auf sie neugierig zu machen insbesondere war Sinn dieses kurzen Beitrages.
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Drucknachweis: Hermann Finsterlin 1887 - 1973. Zum 100. Geburtstag. Stadt Sindelfingen, Kulturamt 1987. Katalog und Ausstellung Otto Pannewitz, Barbara Stark, S. 30 f.

Vgl. zum literarischen Werk Hermann Finsterlins ferner:
Friedrich Carl Lamprecht: Um Phantasie zu werben bin ich da! Versuch einer Würdigung des Dichters Hermann Finsterlin [1950/1964]
Franz Sepp Würtemberger: Hermann Finsterlin [1973]
Reinhard Döhl in: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung [1988]
Reinhard Döhl: Dichtung als Spiel. Versuch über das literarische Werk Finsterlins. [2000]