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Franz Sepp Würtemberger: Hermann Finsterlin

Eröffnungsrede zur Ausstellung im Stuttgarter Kunstverein am 25. Mai 1973

Hermann Finsterlin, jetzt 85 1/2 Jahre alt, gehört einem anderen Geschlechte an als wir Jüngeren, Nachgeborenen. Hermann Finsterlin hat alle seine Mitstreiter und Freunde überlebt. Als die Letzten starben Scharoun und Neutra. Finsterlin gehörte zum Künstlerkreis der "Gläsernen Kette" um Bruno Taut und Paul Scheerbart.

Hermann Finsterlin gehört noch zu den Über-Menschen. Er gehört zu jener Generation nach Nietzsche, die in einem ungeheuren Aufschwung die Macht der Menschen üher die Natur ausweitete, die die ersten ungeheuren prometheischen Taten des technischen Menschen erlebten, daß zum Beispiel Flugzeuge aufstiegen in den Himmel, in den Palast der Götter und des Olymp. Hermann Finsterlin verkehrt noch mit den Göttern und deshalb ist sein Denken überirdisch-großkosmisch. Aber noch in einem ganz anderen Sinne als wir Nachgeborenen, die den Verkehr mit den Göttern durch die Installierung des Kosmos als technisches Maschinenlaboratorium mit banalen Astronauten entweiht haben.

Das Aktionsfeld des künstlerischen Denkens von Hermann Finsterlin ist nicht die kleine hiesige Erde. Es setzt sich mit der größeren Welt der kosmischen Räume, des Reiches der Götter und der Sterne auseinander. Lieblingsbegriffe sind das All. Finsterlin spricht davon sogar in der Mehrzahl: von den Allen Er erlebt die Welt und das Universum wieder neu als Schöpfung. Nicht umsonst hat Finsterlin für sich im Taut-Kreis den Namen Prometheus gewählt. Er fühlt sich als Weltenschöpfer, er fühlt sich als Gott. Er baut und experimentiert im Einklang mit der Weltschöpfung.

Wie sich Hermann Finsterlin nun diese Vorgänge vorstellt, erfahren wir aus zweierlei Quellen seiner künstlerischen Tätigkeit und Äusdrucksmöglichkeiten: Einmal aus seinen Gemälden und dann aber auch aus seinen Gedichten. Beide gehen Hand in Hand. Gedichtzitate können seine Weltposition erhärten. Er dichtet:

Nun aber raus aus dieser kleinen Erde,
Raus, raus aus dieser engen Menschelei!
Vor meinem Traum scharr'n schon die Sonnenpferde,
Und mit den Pháetonen ist's vorbei.

Die Löwenkräfte, endlich sind sie wach
Und bändigen in Liebe ihre Sonne,
Das All ist offenbar und Gotteswonne
Strömt ein in mich, wild und vieltausendfach.

Ursprünglich kommt Hermann Finsterlin von den Naturwissenschaften her. Er kannte noch Ernst Haeckel und studierte Chemie bei Bayer, Physik bei Röntgen, Medizin, Philosophie und Indologie. Als Künstler idendifizierte sich Finsterlin mit der Welt, mit den Dingen in eigentümlicher Weise. Er selber macht die Wandlungen und Seinsumschwünge zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos mit. Er kennt diese ungeheuren Seinsspannungen und Gedankensprünge. Einmal spricht Finsterlin von seiner Existenz:

Ich hab mich so an mich gewöhnt,
Daß es mir schwer fällt ganz mich zu verlassen,
Ich such' mich dann wohl in erebischen Gassen
Bis ich mit meinem Nichtsein ausgesöhnt.

Drum üb' ich mich beizeiten, mich zu fühlen
In aller Kreaturen Lust und Leid,
Kann ioh als Wurm mich durch die Erde wühlen,
Als Adler mit den tollsten Winden spielen,
Dann bin ich auch für einen Gott bereit.

Die Mikrobiotik und die Sternenwelt vermischen sich zu einer allumfassenden Einheit. Mit folgenden Versen umschreibt er diesen Seinszustand:

Wer sagt Euch denn, daß ich den Mond will morden?
Wer hat den Raum der Zeiten so entstellt?
Soll ich verzweifeln, weil das Licht der Norden
Verschläft den Urbeginn der neuen Welt?

Ihr Koboldhorden mit der blanken Qual,
Der Ohnmacht Prahlerei in Faltenseelen,
Ja, wär' ich nur ein Einfürallemal,
Doch ich bin aus dem All nicht fonzustehlen.

Die Gottheit m u ß mich seh' n, wo ich auch sei,
Sie muß mich als Mikrobe kreiseln fühlen,
Sie muß als Flammenstern mich liebreich kühlen,
Und wo sie gottet, bin auch ich dabei.

Auch diese Spannung manifestiert sich im Wandel der Bildformate: Einmal riesige Monumentalmalereien, dann wieder winzige Miniaturen. Hermann Finsterlin sagte zur mir: "Je größer die Wand, je schöner. Ein so kleiner Kerl denkt immer in großen Bildern."

Auch die Gegenbewegung ist möglich, vom Unermeßlichen zum Maß zurückzukommen. Da heißt es:

Aus diesen Wirbeln schwangerer Chaoten
Verführt mich sanft ein Wille zu dem Einen,
Ich mag nicht mehr ins Uferlose loten,
Vom Unbegrenzten schleich ich zu dem Kleinen.

Ich will nicht ewigen in dem sanften Tal,
Kein Ahasver genießt die milde Gnade -
Ich muß nur rasten vor der reichen Qual,
Mich reinigen in einem lethischen Bade.

Dann, wenn des Maßes Wohllaut mich zerschönigt,
Wenn's peinigend gesetzelt, dann verfall'
Ich neu den Spielspiralen, urbekönigt,
zerstäubend in dem Kräftetanz des All.

Hermann Finsterlin fühlt sich in der überirdischen Welt vollkommen zu Hause und überschrieb aus diesem Bewußtsein heraus ein Gedicht "Erinnerung aus dem Olymp". Hier identifiziert sich Finsterlin ausdrücklich mit der Welt und spricht diese Weltidentifikation mit allen Konsequenzen aus in den schwerwiegenden Sätzen:

Die Welt bin ich, was vielfacht um mich her,
Sind nur verzerrte Spiegelbilder -
Der Gott bin ich, ein großer, wilder,
Ein Jauchzegott, ein rasender.

Ich schlage dieses Sein in Trümmer
Und bade mich im Schein des Nichts,
Ich bin des Urstoffs kühnster Schwimmer
Und der Verewiger des Lichts. -

Ein zwergig Echo klebt im Alle
An irgendeinem Sterne fest -
Und wo ich woge, wo ich walle
Begrüßt mich ohne Rast mein Rest.

Unendlichkeit hab ich entpolet,
Ich nehm das Schöpfungswort zurück.
Und das Entnamte, das mich holet
Versinkt in meinem Augenblick.

Hermann Finsterlin hält ein großes Zwiegespräch mit dem Schöpfer von Himmel und Erde. Es ist ein lebendiger Austausch der Meinungen. Er zieht sogar Gott zur Rechenschaft:

Aus sammetschwarzen Rachen röchelt die Rache auf,
In spröden Wellen wegt sie sich wärts,
Daß alle, alle Filigranen des Geistes fippern,
Wunschgläser dichten sich ums Herz,
Die Klangschicht gluckst wie vom Züngeln zuckender Vipern.

Ein heller heiliger Keil verspelzt die schwüle Schwäre,
Ganz blauts mich an,
Die Düfte sind unsäglich,
Wo ballt die Lust sich, die ich so gebäre?
Ich finde "Mich" und wieder bin ich möglich!

Leuchtende Falter gaukeln durch seidige Nacht,
Schmachtend singen die Blumen, die Stern-Abweidenden,
Gegen alles Gesetz bin ich erwacht,
Und so schau ich die Wunder der Menschen-Vermeidenden.

Zieh nur die Sterne nicht so auf, o Gewaltiger,
Schau, wir glauben Dir schon, daß Du das kannst,
Bist Du doch auch so ein wonniglich Vielgestaltiger,
Wenn Du Dich schon der falschen Erde verbandst.

Ja, Hermann Finsterlin scheut nicht davor zurück, die Weltidentifikation sehr konkret und anschaulich an seinem eigenen Ich vollziehen zu lassen. Über diesen tollen Vorgang dichtet er folgende Verse:

Auf Schiffen war ich im Begriff
Verteilt ins All hinauszusegeln,
Ein jedes Glied nach andern Regeln,
Der Kopf zur Sonne, Aug' zum Riff

Der Beteigeuze, zur Astarte
Das unverzeihlichste Organ,
Die Lunge zum Saturn, na warte
Mein Herz, Du kommst schon auch noch dran!

Die Proportionierung des Ichs zur Weltdimension wird immer wieder neu abgesteckt:

Die Welt wird immer kleiner um mich her,
Schon ist die Sonn', der Mond zum Greifen nahe,
Schon schrumpfen Sternenriesen und ich sahe
Den Zoodiack mich gürten wie Ge-Wehr -

Und plötzlich rag ich jenseits der Gestirne
Gereckten Haupts in unfaßbares Licht -
Ich habe kein Gehirn mehr in der Stirne,
Denn dieses Unsagbare denkt sich nicht.

Im gleichen Streben heißt es ein andermal:

Ich will mein Glück so in den Himmel treiben
Wie die Rakete eines Feuerspiels,
Sie soll mir eine Lichterbahn beschreiben,
Einmalig Wunder eines Lebensziels.

Erst an des Herzens Grenzen soll sie enden
Und dann versprühn ins unbekannte All,
Du Frau hältst dieses Feuer in den Händen,
Entgleit' es Dir, folgt nichts mehr diesen Bränden
Ins Unbetretne,
Göttliches Fanal.

All diese kosmische Denkarbeit, all dieses sich in's All-Verströmen, all diese Zuneigung zu den Sternen, blieb aber auch nicht ohne Folgen für den Künstler und speziell für den Maler Hermann Finsterlin. Denn aus den Sternenräumen schöpft auch der Maler Finsterlin seine Anregungen. Von den Sternen herunter malt er gleichsam zu uns irdischen Menschen herab!

Denn dort, im Weltenall, vermutet er noch ganz andere Farben wie hier auf dieser Erde. Er ist auf der Suche nach "unbekannten Klängen". Hermann Finsterlin läßt nichts unversucht. Er meint dazu:

Das Unerhörte, wenn mir das gelänge - -
Ja, dann möcht ich wohl lang lebendig sein,
wenn über meinen Schatten ich mal spränge,
Und finge unbekannte Klänge
Ein,
Und Zwänge
Ungeschaute Farben plötzlich
Ins Blickfeld der Bewohner auf dem Stern.
Und Dome türmten sich, verwandt ergötzlioh
Selbst dem Idee gewohnten Weltenherrn,
Ja, Bauten, die vom Zweck noch nicht geschändet
Nur einem Sinne hörig, schön zu sein,
Vor' Ihm begonnen, und von mir vollendet,
Amöbe Gottes, fall mir endlich ein!

Und das höchste Bestreben Finsterlin's ist es, in seinen Malereien diese Ahnung aus der kosmischen Sternenwelt uns zu vermitteln. Ein großes, schweres, fast unmögliches Beginnen. Doch Finsterlin fühlte in sich die Kräfte und hat sich an's Werk gemacht. Und wie Hermann Finsterlin es gelungen ist, diese Ahnung tatsächlich in seinen Gemälden zu bannen und auch für uns Beschauer ergötzlich und beglückend zu realisieren, dies ist Inhalt und Zweck dieser Ausstellung.

Und nun müssen wir uns fragen. Wie verhält sich Finsterlin als Maler, der als irdischer Mensch überirdische, unbekannte, kosmische Farbenpracht uns vermitteln will. Dies ist das Kernproblem. Dabei kann man feststellen, daß Finsterlin sich zum Beispiel an die äußerste Grenze des realen Himmels vorwagt und sich mit der Farbe des Himmelgewölbes selbst ganz identifiziert und die blaue Farbe in dem Sinn der extremsten Naturfarbe, wie sie später Yves Klein gebrauchte, empfand.

Kunde von diesem an die kosmische Schichtzone grenzenden Verhalten geben folgende Verse:

Ich bin ein unbeschreibliches Blau
Und fließe im Raum umher,
Nirgend ein Auge, das mich erschau
Und glücklich darüber wär.

Vergißt du noch immer nicht, kleiner Geist,
Der Erde beschränkten Plan?
Erst wo du gar nimmer weiter weißt,
Fangt das Besondere an.

Oder ein anderes Erlebnis läßt die naturalistische Ur-Farbe Blau erstehen:

Seestern, groß und prächtig
Schwebt über einer Frau,
Bald ist sie von ihm trächtig,
Und wirft ein ganz herrliches Blau.

Ein Blau ohne Form und Düfte,
Ohne Geschmack und Stoff,
So wie das Blau der Lüfte,
Das ich im Traume soff'.

Oder ein andermal ist Beige die Weltfarbe, die alles umschließt. Keine Weltenzone noch so nah oder fern wird davon verschont. Diese farbige Imprägnierung der Welt feiert Finsterlin mit folgenden Versen:

Beige ist alles um mich her,
Beige der Himmel, beige die Erde,
Beige die Häuser, beige die Pferde,
Beige der große Himmelsbär.

Beige das Herz in dem ich wohne,
Beige die ganze große Welt,
Und wenn einst mein Leib zerfällt,
Werd' ich singende Bigione.

Ein ganz besonderes Verhältnis hat Finsterlin zu der Farbe Gelb. Diese Farbe fällt auch in den stets heiter-hellen Klängen seiner Gemälde auf. Von Gelb schreibt Finsterlin:

Das Gelb steht über mir mit großen Schwingen
Und lebt sich ein in meiner Augen Pracht,
Und da beginnt der Stein ein Lied zu singen,
Wie die Igallen der Johannis-Nacht.

Ganz breitet sich ein Panter vor mir aus,
Ein Schachbrett mit phantastischen Figuren,
Der König ist die goldne Fledermaus,
Und herrlich leuchten ihrer Züge Spuren.

Ich spiele mit dem hergelaufnen Blitz,
Und bis ich siege, ist das Gelb verflogen,
Und stumm der Stein auf seinem Herrschersitz -
Und ich wach auf als Seele wilder Wogen.

Und das schöne Gedicht über das Gelb des Zitronenfalters:

Sag mir, wo Du das Gelb gestohlen,
Duftfroher Falter Citronell,
Ich will mir auch davon was holen
Und wär' es nur ein Tausendstel.

Denn weißt Du, Gelb ist meine Wonne,
Ist meine Nahrung, meine Kraft,
Gelb ist das Licht, das Gold, die Sonne
Und aller Mitte Eigenschaft.

Der kostbarsten Farbe, die schon die Irdischkeit von sich geworfen hat, der Goldfarbe, mißt Finsterlin eine besondere Bedeutung zu. Immer wieder erscheint sie mit feierlichem Akzent in seinen Gedichten. Er spricht vom "Segeln durch vielgoldne Räume, güldene Schäume":

Die tolle Zikadelle,
Sie saugt aus goldnem Vliess,
Aus dem Gewidderfelle
Das letzte Paradies.
Den Nebentag, den Gegentag,
Den Untag, der nicht weichen mag
Aus dem Gebet der Hölle.

Entenbäume. Kenterträume
Segeln durch vielgoldne Räume,
Güldne Schäume
Voll von Egeln,
Die mit elf Saturnen kegeln.

Beigeschmäcker stehn umher
Um das Ziladellenmeer.

Das Gold ist da, daß es die dunklen, schwarzen Kräfte der Welt bannt und überwindet. Es ist die höchste Himmelsfarbe, weit über dem Blau. Da heißt es:

Fosforescierst Du wieder, eitler Unhold?
Die Nächte sind doch weich, warum sie schwärzen?
Im quinto nox entzünden sieh elf Herzen
Und Willenskräfte bauen sich zu Gold.

Des Goldes Gilde erbst Du in Aeonen.
Die Farao im Faro sieh ersang,
Und willst Du nicht in Herztrabekeln wohnen,
Dann bette Dich im Duft "Ilang-Ilang". -

Und dann gehört das Gedicht hierher, wo das glanzlos Irdische in die Höhe der Seinsstufe des Goldes gehoben werden soll. Dieser Gedanke wird im folgenden Vorgang vorgeführt:

Ich möchte, daß die Katze golden wird,
Ich möchte, daß die große Katze leuchtet,
Glänzt, flammet, strahlt, wie eine Sonne flirrt,
Und daß ihr Lieht die darre Welt befeuchtet

O güldne Riesenkatze, nimmer kann ich Dich vergessen,
Nimmer bann ich Dich, vermessen
Schleicht sich ein scharlachrotes Weib dazu,
Und wieder kommt mein schwehlend Herz zur Ruhe. -

In diesem Zusammenhang ist das Rot die Gegenfarbe, die irdische Farbe. In folgendem Gedicht bekennt er sich dann totalkreatürlich zur ganzen Welt der Farben.

Wüßtest ihr, wie ich von Farben lebe!
Ach, sie sind mir Nahrung, Licht und Luft,
Liebe, Schlaf und Wohnung, ja, ich gäbe
All mein Hab und Gut um ihren Duft.

Enden Jahre, die die Form verdarben,
Diese Form, die mich so oft beengt,
Ach, dann laß' mich, großer Geist, in Farben
Farbe sein, die sich als Leben denkt! -

Ein Künstler, der so sehr dem All sich verpflichtet fühlt wie Finsterlin, erlebt den Schöpfungsvorgang unendlich intensiver als die an die Erde geketteten, zaghaft nüchternen Menschen. Finsterlin kann heiter und überschwenglich sein. Er stürzt sich mit Wonne in den Werdeprozeß der Schöpfung. Er ist das Gegenteil der besonnenen, kleinlich rechnenden, berechnenden modernen Naturforscher, diesen langweiligen, geistentwöhnten, ausgedörrten, seelenlosen und kalten Analytikern.

Finsterlin wird von Rausch und Jubel erfaßt, er kennt noch das Jauchzen des Schöpfungsaktes, der völligen Hingabe. Er möchte tanzen, jauchzen und jubeln.

Dem Tanz hat er ein eigenes Lied gewidmet.

Tanzen wie Sonnenstaub -
Wie Cavalloni glückhafter Böen,
Wie gilbes Laub im Rauscheföhn -
Wie Jon -
Tanzen wie Panthercorybanthen,
Tanzen wie Feuerlurche auf Gluten,
Erdenfern - sonnennah -
Tanzen wie ich keinen noch tanzen sah -
Tanzen wie Shiva, der Gott,
nein, ach nein -
Tanzen wie ich,
Wie ich allein.

Im Windessang, im Wellenlied,
Im Sphärenchor der stillsten Nächte,
Auf Messerschneiden im Pangelächter,
Im Wirbel des Pyr-amid -
Nein, nein - wie meine Blutstromschnellen
Durch sieben Himmel und tausend Höllen -
Tanzen, tänzeln,
Mit Toden scherwänzeln,
Tanzen
Wie wilde Feuerpflanzen,
Tanzen wie Fransen
Am Gottesmantel,
Tanzen wie eine Sternentarantel -
Tanzen wie Mücken,
Im Schwarm sich verstricken,
Im Mairauschticken
Der Weltenuhr -
Auf der Gottheit goldner Spur -
Tanzen nur. -

Finsterlin verspürt noch in sich den "Kräftetanz" des All, wie die Künstler seit der Romantik nicht mehr wissen, in welcher Kunstgattung, ob in Malerei, Plastik, Architektur, Dichtung oder Musik sie vor lauter Schöpferkraftfülle sich äußern sollen, so ergeht es auch Finsterlin. Er beschreibt dieses alle Ketten der Einengung sprengende schöpferische Hochgefühl folgendermaßen in seinem Gedicht "Der Seismo-Graf":

Es brodelt in mir ein Vulkan,
In jedem Augenblicke kann er platzen,
In meinem Innern lauern tausend Katzen
Auf irgend einen Wahn

Ich weiß nicht, wie er sich befreit,
In einem Fresco, farbenprächtig?
Symphonien, Epen, mächtig?
In Degenwirbeln, todbereit?

In heißer Jagd auf Daphne's Fuß?
In wildem Ritt durch öde Steppen?

Kann solch' Dynamo noch verebben
Eh' er total verbrennen muß?"

Aus dem Bewußtsein heraus, daß alle Kunstschöpfung und Lebensbereiche aus der selben Urquelle stammen und zusammenhängen, kam Finsterlin auf seine Art und Weise zu einer Kunstgattung, die sonst von Malern und Dichtern selttener aufgegriffen wird: zur Architektur. Und schon in frühen Jahren erfand Finsterlin Architektur-Modelle, die sich durch die Verbindung von Naturlandschaft vegetabilem Wachstum und Architektur~Gedanken auszeichnen. Diese Architektur-Modelle wurden in der heutigen verfahrenen Situation der Architektur-Entwicklung berühmt und die junge Generation stürzt sich mit einem Heißhunger auf Finsterlins Architektur-Theorie, die die technische Entwicklung der Architektur verabscheut. Finsterlin legte seine Architektur-Theorie in einer Reihe von Aufsätzen nieder, die 1969 in dem italienischen Verlag "Libreria Edítrice Fiorentina" von Franco Borsi unter dem Titel "Hermann Finsterlin: Idea della architektura, Architektur in seiner Idee" in italienischer und deutscher Sprache herausgegeben wurden. Apokalyptisch hält dort Finsterlin Abrechnung mit der Welt-Architektur und kommt zum Schluß, daß die bisherige Entwicklung einseitig steril war und trostlos verwasoben ist.
 
 

Böse, anklagende Sätze sind hier zu finden:

(S. 226) "Wir sind bei allem eingebildeten Geistesreichtum so grenzenlos verarmt, daß wir das All nicht mehr ertragen, das göttlich Bodenlose, die göttliche Befreiung in einer unbedingten rücksichtslosen Schöpfung selbst."

Finsterlin greift zu biblischen Anreden an den Leser:

(S. 238) "Sagt mir, was Liebe ist..- und ich will euch sagen, was bauen heißt."

Es wird der konsequenzenreiche Satz ausgesprochen, den sich das ganze technische Zeitalter hinter die Ohren schreiben kann:

(S.230) "Zweck verarmt."

(S. 261) "Wir haben bisher auf der Erde gebaut als Roboter und für Roboter. Unsere Gotteskäfige und Wohnkisten, Sachsärge und Wohnschachteln haben keine Beziehung zu Organismen und Organen."

(S. 266) "Wir brauchen wieder eine menschenwürdige Baukunst." "Eine Koexistenz von Zweck und Spiel."

(S. 271) "Ob meine Zukunfts-Architektur ein Geschenk der Götter war, muß erst die Zukunft lehren."

(S. 287) "Seit Beginn des technischen Zeitalters hat sich die Architektur anormalerweise nicht weiterentwickelt - die Technik hat wie eine Krebszelle die Entwicklungen aller Kunstgebiete mit ihrem Selbstzweck überwuchert und lahmgelegt."

Hermann Finsterlins Architektur-Ideen sind recht alt. Eigentlich schon historisch. Sie sind vor einem ganzen, guten halben Jahrhundert entstanden, zwischen 1917 und 1924. Sie stehen am Anfang der modernen Kunst, derjenigen Kunst, der wir bis jetzt unsere Referenz gezollt haben und als die unsrige ansehen. Doch die moderne Kunst ist komplex. Sie zeigt zwiespältige Züge.

Es gibt eine offizielle Moderne und es gibt eine inoffizielle Moderne.

Auf die Architektur bezogen gibt es die rationalistische, hochtechnisierte, abstrakte, unmenschliche, funktionale, aber unkreatürliche, unorganische Architektur (Bauhaus, Kandinsky, Mondrian, Mies van der Rohe, Rasterbau) und eine Idee einer organischen, fantasievollen Ur-Architektur.

Finsterlin gehört zur inoffiziellen (unmodern) Modernen! Er vertritt das Gegenteil, den Gegenpol seiner Zeit. Trotzdem, daß er kurz am Bauhaus war.

Nun aber ist die entscheidende Frage zu stellen. Wer und Was hat sich historisch bewährt? Hat sich der sogenannte Fortschritt, der Sieg der Ratio, der Industrialisierung, der Technisierung oder Finsterlins Ur-Architektur (Das Ewig Alte) sich bewährt? Was ist das Ziel? Das Paradies? Was ist der eigentliche Mensch?

Nun - diese Frage ist für uns heute, nach 50 Jahren keine unbeantwortbare Frage und vage Hypothese mehr. Wir haben das Glück, nicht in dunklen Zukunftsträumen zu wandeln, sondern die 50 Jahre moderner Kunstentwicklung sind dabei, diese Frage zu beantworten.

Dabei ist sehr zu beachten: Die Moderne (der Fortschritt) ist kein Wunschbild der Zukunft mehr, sondern nach 50 Jahren schon eine vollzogene und damit geschichtlich vollzogene Tatsache, schon Historie.

Wovor sich die Moderne so sehr großsprecherisch gesträubt hat und wogegen sie angegangen ist und sie verwettert hat, ist sie selber geworden; sie ist nicht ewig jung geblieben, sondern ist alt geworden. Ist sogar verknöchert, schwach, ausgehöhlt, steril und sogar abgangsreif geworden! Durch den berechtigsten Vorwurf der Unmenschlichkeit! Durch die Proklamierung eines weltphilosophisch unethischen und deshalb falschen Weltbildes. Die Taten (und Untaten) der Moderne haben ihre realen Folgen, d.h. ihre Schäden schon enthüllt.

Hat die Waage der Geschichte zur extremen Seite des Rationalismus von Kandinsky und Mondrian geneigt oder zu Gunsten des anderen Extrems: zu Finsterlin?

Die Alternative lautet: Hybrider, unmenschlicher Rationalismus oder organische, natürliche Urgrundphantasie?

Bei dieser Frage nach dem Wesen der Architektur nimmt Finsterlin ohne Zweifel die bessere, geschichtlich langatmigere, tiefer begründbare, tiefer schürfende Grundposition ein. Über die Ursprünge des architektonischen Denkens, die aus den Ursprüngen der menschlichen Seele (und nicht aus dem Nicht-Ursprung der Ratio, die kein menschlicher Ur-Urspung ist) kommen, weiß Finsterlin einfach als Weltdenker besser Bescheid.

Finsterlin denkt anthropologisch tiefer! Nicht zweckbedingt kausal, nicht hohlfunktional. Finsterlin geht von ganz anderen Prämissen aus in seinem Grunddenken. Er geht vom Ur-Sein des Menschen in der Mutterleibhöhle aus.

Aber Finsterlin ist allerdings kein solcher Phantast, daß er nicht wüßte, daß ein langer Weg von der Architektur des Embryos über die Architektur des Neugeborenen, über das Kind bis zum menschlich intakten Erwachsenen und gar zum technisierten (menschlich unintakten, sogar kranken und geschändeten) technisch modernen Über-Menschen ein langer, langer, sogar ein allzu langer Weg und auf der letzten Strecke des technisiertaa Über-Menschen sogar leider ein Fehlweg des architektonischen Denkens stattfindet und stattgefunden hat.

Finsterlin geht es zunächst gar nicht um die Ausführbarkeit seiner Architekturen. Sie bewegen sich grundsätzlich im Vorfeld. Es geht ihm um etwas viel wichtigeres: Um das menschliche Ur-Denken über so etwas, was Architektur in unserem geläufigen Sinne einmal werden könnte. Wie der Mensch erst erwachsen wird, wie der Mensch über seine Ursprünge als Embryo, auch als Erwachsener, auch als technischer Über-Mensch nie verleugnen kann, so darf sich seine Architektur-Vorstellung auch nicht allzu weit vom Ursprung entfernen. Sonst wird der Mensch eine Vogelscheuche und ein Un-Mensch seines Menschseins.

Heute ist ein gigantischer Kampf zwischen Seele und Ratio, zwischen Kunst und Technik, zwischen Kunstwerk und Maschine im Gange. Die Seele, das Vegetabile, das unverbraucht Organische will sein Recht! Dieses Wollen ist nicht nur ein Wollen, es ist sogar ein Ur-Müssen; es ist die Frage der Existenz des Menschen im Ganzen oder sein Untergehen als Mensch, ein nur Dahinvegetieren als menschliches Abziehbildchen, als Ratioskelett ohne Fleisch und Blut.

Praktisch gesprochen: Der Blumentopf ist dabei über das astrakte Bild zu siegen, die flammenförmige Bemalung der Autos über die langweilige Duodez-Karosserie. Das lebendige Leben der Naturformen wird über die tote Abstraktion siegen. Immer aus der Frage heraus: Was ist der Mensch?

Indem Hermann Finsterlin für sich und für seine Kunst einen sozusagen überirdischen Standpunkt wählte und diesen in seinem reichen Gesamtschaffen manifestierte, ist Hermann Finsterlin etwas Hocherstaunliches und fast kaum Glaubhaftes gelungen.

Finsterlin hielt sich grundsätzlich aus dem kleinlichen kleinlichen niedringen Tagesgetriebe der modernen Kunstströmung heraus. Finsterlin hatte es seiner Weltbildposition gemäß nicht nötig, die Stilhetze der Moderne mitzumachen. Er brauchte sich keiner Stilrichtung anzuschließen, weder dem Kubismus, dem Dadaismus, dem Surrealismus, dem Futurismus, dem Konstrukturismus, dem Abstrahismus, noch dem Pop, noch dem Realismus jüngster Prägung.

Hermann Finsterlin als Gegner der Technik brauchte in seiner Kunst nicht den Tribut zu bezahlen und den vielen Spielvarianten der Zerbrechung des künstlerischen Weltbildes durch die Technik zu huldigen.

Hermann Finsterlin steht über dem falschen Tagesgeklingel der Modeströmungen, da der Ort seiner Kunst in tieferen und deshalb immer gleich gültigen Seinsproblemen, in einem überirdischen und deshalb auch überzeitlichem Raume liegen.

Wer, wie der moderne technische Mensch sich der Vergänglichkeit oder gar der Supervergänglichkeit, der Schnelligkeit, verschreibt, darf sich nicht wundern, wenn er schneller als er denkt und ihm lieb ist, vergänglich wird und vergeht und damit die Zukunft verspielt

Hermann Finsterlin kann auch nach der weltethischen Scheiterung der an sich kunstfeindlichen und deshalb unkünstlerischen technischen Welt ebenso modern sein wie vor 60 Jahren, als er begann. Seine künstlerische Erscheinung hat ein anderes Verhältnis zur Zeit - Hermann Finsterlin altert nicht. Er hat das Glück, ewig jung und wahr zu sein!



Vgl. zum literarischen Werk Hermann Finsterlins ferner:
Friedrich Carl Lamprecht: Um Phantasie zu werben bin ich da! Versuch einer Würdigung des Dichters Hermann Finsterlin [1950/1964]
Dieter E. Hülle: Zur Lyrik Hermann Finsterlins [1987]
Reinhard Döhl in: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung [1988]
Reinhard Döhl: Dichtung als Spiel. Versuch über das literarische Werk Finsterlins. [2000]